Handelsblatt - 20.08.2019

(Michael S) #1

S


ie schlafe weniger oder im
Zug, sagt Edith Kinder-
mann schonungslos. Die
57-jährige Bremer Anwältin
und Notarin muss als neue
Präsidentin des Deutschen Anwalt-
vereins nun häufig in Berlin sein. Sie
ist die erste Frau in diesem Amt und
tritt resolut auf. Im Mainstream mit-
zuschwimmen liegt ihr fern, wie das
Gespräch schnell zeigt.

Frau Kindermann, Sie sind die erste
Frau an der Spitze der deutschen
Anwaltschaft. Sind Sie eine Quoten-
frau?
Nein. In meinem ganzen Berufsle-
ben, in dem ich viel in überwiegend
männlich geprägten Rechtsbereichen
tätig gewesen bin, habe ich nie er-
lebt, dass mein Geschlecht eine Rolle
gespielt hat. Ich werde über Inhalte
und Kompetenz wahrgenommen.
Aber viele Kolleginnen freuen sich
schon, dass nun eine Frau den Deut-
schen Anwaltverein führt.

Spricht denn etwas dagegen, eine
Quotenfrau zu sein?
Ob eine Quote nötig ist oder nicht,
hängt von allen Beteiligten ab. Aus
meiner Sicht muss Parität selbstver-
ständlich sein. Aber wenn sich in be-
stimmten Bereichen nichts bewegt,
weil es gläserne Decken gibt, dann
kann auch die Einführung einer Quo-
te eine sinnvolle Maßnahme sein.

Zuletzt waren nur gut 17 Prozent der
Jura-Professoren weiblich. Fehlen da
positive weibliche Rollenvorbilder?
Besser wären natürlich viele Positiv-
beispiele für die jungen Frauen. Ich
selbst hatte immer das Gefühl, dass
alle Wege offen sind. Nach meinem
Examen war ich noch eine Zeit lang
als wissenschaftliche Mitarbeiterin tä-
tig und erfuhr alle Förderung, um ei-
ne Hochschullaufbahn einzuschla-
gen. Es war meine Entscheidung, das
nicht zu tun. Dann hat die Justiz ei-
nen Abwerbeversuch gemacht. Auch
dem bin ich nicht gefolgt. Und dabei
konnte ich mir am Anfang des Studi-
ums gar nicht vorstellen, Anwältin zu
werden.

Warum?
Die Selbstdarstellung lag mir fern.
Schon in der Schule habe ich nur et-
was gesagt, wenn es tatsächlich um
Inhalte ging. Erst durch die Erfolge
des Studiums, die eigene Persönlich-
keitsentwicklung und den Sport än-
derte sich das. Das habe ich im Übri-
gen in unterschiedlichen Bereichen
bei Frauen festgestellt: Sich darzustel-
len und das eigene Wissen auch vor-
zuzeigen, da sind viele zurückhalten-
der als Männer.

Frauen studieren häufiger Jura als
Männer. Danach fangen sie ähnlich
häufig in den Top-Kanzleien an.
Aber Partnerin werden sie selten.
Was ist da los?
Ich bekomme in der weiblichen
Zunft einen ganz bunten Strauß von
Begründungen genannt, warum
Frauen nicht Partnerin werden. Oft
geht es dabei um geregelte Arbeits-
zeiten und Work-Life-Balance. Es ist
aber mittlerweile kein spezifisches

Frauenthema mehr. Auch die Män-
ner möchten immer seltener Partner
werden. Statt Stress durch die Füh-
rungsposition wünschen sie sich eine
freiere Lebensgestaltung. Auch im-
mer weniger Anwälte sind bereit, das
unternehmerische Risiko zu tragen.
Sie präferieren eine Erfolgsbeteili-
gung über Bonus- oder Tantieme-Mo-
delle.

Dann wäre insgesamt einen Wandel
in Kanzleien nötig, um Frauen wie
Männer für Führungspositionen zu
gewinnen?
Ja, die Kanzleikultur muss sich wan-
deln. Was viele aber auch erdrückt,
ist das Thema Haftung. Die Partner-
schaftsgesellschaft mit beschränkter
Berufshaftung war ein wichtiger
Schritt. Denn gerade Modelle der
Work-Life-Balance waren schlecht ab-
zubilden mit einer reinen Partner-
schaftsgesellschaft, in der jeder Han-
delnde auch für den anderen Han-
delnden haftet. Da schwindet das In-
teresse, in eine sachbearbeitende
Rolle hineinzukommen. Deswegen
müssen wir auch über die Gesell-
schaftsformen weiter nachdenken.

Sie haben bereits den Sport ange-
sprochen. Wie hat er Ihr Berufsle-
ben beeinflusst?
Früher habe ich Karate gemacht. Da-
durch habe ich bestimmte körperli-
che Reaktionen verinnerlicht. Wenn
es nötig ist, stelle ich mich schulter-
breit auf, die Fußaußenkanten paral-
lel, direkter Blick. Situationen ängsti-
gen mich nicht mehr, sie bleiben un-
ter Kontrolle. Das ist auch in Ver-
handlungen so. Das war aber auch in
Kassel bei einem versuchten Handta-
schendiebstahl so. Im Beruf sind vie-
le Situationen wie Showgeschäft, auf-

geblasene Nummern. Wenn Sie da
ruhig und bestimmt einfach nur
„stopp“ sagen, dann schweigt der
ganze Saal. Das sind Juristen nicht ge-
wohnt.

Sie sind in der DAV-Arbeitsgruppe
„Anwältinnen“ aktiv. Dort gibt es
auch Angebote in Rhetorik und Ver-
handlungstechniken. Lernen Frau-
en damit nicht eher, sich an männli-
ches Verhalten anzupassen?
Gerade nicht. Sie lernen Handwerks-
zeug. Es geht zum Beispiel auch um
die Honorargestaltung. Frauen tun
sich wesentlich schwerer als Männer,
über Geld zu reden. Sie nennen häu-
fig niedrigere Stundensätze. Es ist al-
so wichtig, den Umgang mit Vergü-
tungsvereinbarungen zu lernen.

Auch 50- bis 60-stündige Arbeitswo-
chen scheinen Frauen abzuschre-
cken.
Die Abschreckung ist für beide Ge-
schlechter gleich. Das ist auch nicht
die Vorstellung der Männer. Die Ver-
einbarkeit von Familie und Beruf ist
traditionell mehr bei den Frauen ein
Thema. Aber die Männer holen an
der Stelle auf. Eine andere Sache sind
die Anforderungen und Ansprüche
der Mandanten. Wer nachmittags et-
was mit seinem Kind unternehmen
möchte, muss eine Lösung für dieses
Problem finden.

Kann die Digitalisierung der Justiz
dabei helfen?
Die Digitalisierung macht uns flexib-
ler, die Arbeit zu erledigen, von der
wir leben. Wir müssen von einer Prä-
senzkultur zu einer Ergebniskultur
kommen. Der Einzelne muss dann
aber auch wirklich abschalten und fo-
kussieren können: Wenn er im Job

ist, zählt das. Wenn die Familie dran
ist, bleibt der Job außen vor. Meine
Beobachtung ist: Frauen fällt das
schwerer als Männern. Sie wollen in
allen Dingen immer perfekt sein.

Sie selbst haben in einer Großkanz-
lei gearbeitet und in einer kleinen
Sozietät. Gab es da für Sie als Frau
Unterschiede?
Eigentlich nicht. Es gab immer mal
Anmerkungen zu meinem Klei-
dungsstil, den flachen Schuhen, der
einfachen Frisur und dem Gesicht
ohne Schminke. Ich sage den Refe-
rendaren jetzt immer: Finden Sie
heraus, was Ihre Individualität ist. Es
geht nicht darum, im Mainstream
von 165 000 Anwälten mitzuschwim-
men.

Mit 24 Prozent ist der Gender-Pay-
Gap, also das geschlechtsspezifische
Lohngefälle, in der Anwaltschaft
größer als in vielen anderen Wirt-
schaftsbereichen. Woran liegt das?
Zur Wahrheit gehört, dass Frauen in
Wirtschaftskanzleien mit Spitzenge-
hältern unterrepräsentiert sind. Sie
arbeiten häufiger in einkommens-
schwächeren Rechtsgebieten wie
dem Familienrecht oder dem Sozial-
recht. Es gibt aber auch klare Diskri-
minierung. Mir wurde ein Fall ge-
schildert, bei dem sich ein Pärchen
unabhängig voneinander bei der glei-
chen Kanzlei auf die gleiche Stelle be-
worben hat. Ihr ist ein deutlich gerin-
geres Gehalt geboten worden. Das ist
skandalös.

Haben Sie jemals offenen Sexismus
erlebt? Stichwort #metoo in der
Kanzlei.
Nein, das habe ich nie erlebt. Mich
hat auch noch nie jemand darauf an-
gesprochen, dass es in diesem Be-
reich Probleme gibt.

Anfang des Jahres wurde ein ehema-
liger Linklaters-Partner wegen Ver-
gewaltigung einer studentischen
Mitarbeiterin rechtskräftig zu einer
Freiheitsstrafe verurteilt. Wurde der
Fall in der Anwaltschaft diskutiert?
Nach meiner Wahrnehmung nicht.
Und ich bin viel bei den regionalen
Anwaltvereinen unterwegs.

Vielleicht gibt es eine hohe Dunkel-
ziffer?
Das kann ich nicht beurteilen. Was
eher diskutiert wird, ist das Verhält-
nis zu Mandanten oder der Gegensei-
te. Da kommen schnell mal Drohun-
gen oder Einschüchterungen. Bei ei-
ner Beurkundung hat mir der Bruder
des Gegners mal den Zustand seiner
Hose von innen beschrieben. Man
muss lernen, damit umzugehen.

Reden Sie das Problem damit nicht
klein?
Es sind Verhaltensweisen, die immer
vorkommen werden. Im konkreten
Fall habe ich dazu geraten, einen kal-
ten Schwamm zu nutzen, damit das
Hirn wieder durchblutet wird.

Frau Kindermann, vielen Dank für
das Interview.

Die Fragen stellte Heike Anger.


Edith Kindermann


„Es gibt klare Diskriminierung“


Die neue Präsidentin des Deutschen Anwaltvereins über zögerliche


Frauen in Top-Sozietäten, Karate als Berufsturbo und #metoo in der Kanzlei.


Chefin Die Bremer
Rechtsanwältin und
Notarin Edith Kinder-
mann ist seit Ende
März 2019 Präsidentin
des Deutschen
Anwaltvereins (DAV).
Damit vertritt die
57-Jährige die Inte-
ressen der rund
165 000 zugelassenen
Anwälte. Sie ist die
erste Frau in diesem
Amt.

Familienrechtlerin
Kindermann ist in
Westfalen geboren.
Sie ist Fachanwältin
für Familienrecht und
auch im anwaltlichen
Haftungs-, Berufs-
und Vergütungsrecht
tätig.

Vita Edith
Kindermann

mauritius images, DAV

Recht & Steuern
DIENSTAG, 20. AUGUST 2019, NR. 159

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