Handelsblatt - 20.08.2019

(Michael S) #1

M. Greive, J. Hildebrand Berlin


D


ie Soziale Marktwirt-
schaft steht unter
Druck. Zehn Jahre in
Folge ist die Wirtschaft
gewachsen, doch bei
vielen Menschen herrscht der Ein-
druck vor: Bei ihnen ist der Auf-
schwung nie angekommen. Steuern
und Abgaben stiegen auf immer neue
Rekordstände. Obwohl der Staat viel
umverteilt, nehme die Ungleichheit
immer weiter zu.
Eine Studie der Kreditanstalt für
Wiederaufbau (KfW) widerlegt diese
gängigen Vorteile nun. „Es gibt kaum
Staaten mit ähnlich hohem Wohl-
stand, in denen die Einkommen glei-
cher verteilt sind“, heißt es in der Un-
tersuchung, die dem Handelsblatt
vorliegt. „Die soziale Lage in Deutsch-
land ragt im internationalen Ver-
gleich in positiver Weise heraus.“ Die
Wirtschafts- und Sozialpolitik habe
„den produktiven Leistungswettbe-
werb und den sozialen Ausgleich in
vieler Hinsicht vorbildlich miteinan-
der in Einklang gebracht“. Ihr Lob
untermauert die KfW mit einer Reihe
von Fakten.

Wohlstand


Die Soziale Marktwirtschaft hat die
Deutschen wohlhabend gemacht.
Seit 1950 hat sich das Bruttoinlands-
produkt versechsfacht. Im Jahr 2017
lag Deutschland mit seinem Pro-
Kopf-BIP kaufkraftbereinigt weltweit
an achtzehnter Stelle von fast 200
Staaten. „Die meisten der reicheren
Staaten sind entweder große Erdöl-
und Erdgasproduzenten oder kleine-
re Staaten, die als Banken- und Nied-
rigsteuerplätze Kapital anziehen“,
heißt es in der Studie. Auch habe das
deutsche Wirtschaftsmodell in den
Ölpreiskrisen der Siebziger- und
Achtzigerjahre, beim Wiederaufbau
Ostdeutschlands und der Finanzkrise
sich als „anpassungsfähig und robust
erwiesen“.

Soziale Gerechtigkeit
Doch kommt der Wohlstand auch
überall an? Laut der KfW-Studie ist
das größtenteils der Fall. Gerade die
Arbeitslosigkeit konnte in Deutsch-

land mithilfe konsequenter Refor-
men seit dem Jahr 2005 aber von
über zehn auf fünf Prozent halbiert
werden. „Das ist keine Selbstver-
ständlichkeit, denn auch Deutsch-
land hat sich mit der Eindämmung
der Arbeitslosigkeit schwergetan“,
heißt es.
Auch die Erzählung von der immer
größeren Ungleichheit stimmt laut
KfW-Studie nicht. Zwar sei die Ein-
kommensungleichheit zwischen
2000 und 2017 auseinandergelaufen.
Gutverdiener machten größere Ge-
haltssprünge als Niedrigverdiener.
„Trotz der gewachsenen Ungleich-
heit“ liege die Einkommensungleich-
heit in Deutschland „deutlich niedri-
ger als im Durchschnitt der OECD-
und der EU-Staaten“. Auch weil das

Ausmaß der Umverteilung seit den
Neunzigerjahren deutlich zugenom-
men habe. So seien die Ausgaben für
soziale Sicherung in Relation zum
Bruttoinlandsprodukt zwischen 1991
und 2016 von 25 auf 29,4 Prozent ge-
stiegen. Das seien EU-weit die dritt-
höchsten Ausgaben.
Bei den Vermögen gebe es zwar ei-
ne größere Ungleichheit. Allerdings
verdienten Hochschulabsolventen
und Meister oder Techniker 2,4 be-
ziehungsweise zwei Millionen Euro in
ihrem Leben. „Es ist also möglich,
mit einer gut bezahlten Arbeit oder
der Gründung eines lukrativen Ge-
werbes, hinreichend sparsamer Le-
bensführung und guter Geldanlage in
die Liga der Topvermögenden aufzu-
steigen“, heißt es in der Studie.

Steuern und Abgaben


Ein weiteres Lamento stimme auch
nicht: dass die Steuern und Abgaben
in Deutschland so hoch wie kaum ir-
gendwo sonst sind. Zwar habe die
Steuer- und Abgabenquote 2018 mit
40,5 Prozent des Bruttoinlandspro-
dukts den höchsten Stand seit dem
Jahr 2000 erreicht. Im Vergleich mit
anderen Industrieländern liege
Deutschland mit dieser Quote aber le-
diglich im Mittelfeld. Schlussfolgerun-
gen seien hier aber ohnehin schwie-
rig. So beruht etwa die Altersvorsorge
in den USA und der Schweiz anders
als in Deutschland weitgehend auf pri-
vater Ersparnis und Betriebsrenten.

Reformbedarf


Der Erfolg bedeutet allerdings nicht,
dass sich Deutschland darauf ausru-
hen könnte. Es gebe „großen und
drängenden Bedarf für Reformen, um
die Zukunftsfähigkeit unserer Wirt-
schaft zu sichern“, heißt es in der Stu-
die. Dabei haben die Experten der
KfW-Bank vier vordringliche Baustel-
len identifiziert. „Alterung und
Schrumpfung“ der Bevölkerung dürf-
te die „größte Bewährungsprobe in
den nächsten Jahrzehnten werden“,
schreiben die Autoren. Ohne Gegen-
maßnahmen schrumpfe das Potenzial
an Arbeitskräften bis 2040 um etwa
vier Millionen Personen. Die Studie
schlägt einen Mix an Maßnahmen
vor: bessere Aus- und Weiterbildung,
eine Kopplung des gesetzlichen Ren-
tenalters an Kennzahlen wie die Le-
benserwartung sowie eine höhere Zu-
wanderung von Fachkräften. Als zwei-
te Baustelle wird die Stärkung der
Europäischen Union sowie des Welt-
handels gesehen. Der Freihandel sei
„grundsätzlich anzustreben wegen
seiner Wohlstandseffekte“. Allerdings
müssten Deutschland und die EU
„Strategien finden, um Großkonzer-
nen aus Drittstaaten wirksam zu be-
gegnen, die auf wichtigen Märkten
monopolartige Stellungen einneh-
men“.
Das gilt auch mit Blick auf die Digi-
talisierung. Deutschland müsse hier
seine Wettbewerbsfähigkeit sichern,
so die Studie. Dazu seien „förderliche
Rahmenbedingungen für innovative
Start-ups“ notwendig. „Auch ländli-
che Regionen müssen mit wettbe-
werbsfähiger digitaler Infrastruktur
ausgestattet werden.“ Als vierte und
letzte Baustelle nennt die Studie die
Energiewende und den Klimaschutz.
Zwar habe Deutschland den Ausstoß
von Treibhausgas seit 1990 um fast 30
Prozent gesenkt, „seit 2009 ist die Re-
duktion jedoch ins Stocken geraten“.
Die Studienautoren sind sich sicher:
Deutschland kann diese Probleme
meistern. Eine Voraussetzung gebe es
aber: „Dass Wirtschaft und Sozialpoli-
tik sich auf die Erfolgsprinzipien der
Sozialen Marktwirtschaft besinnen.“

Erfolgsmodell


Besser als ihr Ruf


70 Jahre nach ihrer Einführung ist die Soziale


Marktwirtschaft in die Kritik geraten. Laut einer


KfW-Studie aber völlig zu Unrecht.


Die soziale


Lage in


Deutschland


ragt im


internationa -


len Vergleich in


positiver Weise


heraus.


Studie der KfW


Deutschland: Die Soziale Marktwirtschaft ist noch immer ein Erfolgsmodell
Bruttoinlandsprodukt (BIP)
real pro Kopf in Euro 1

Steuern und Sozialausgaben
in Relation zum BIP

Gini-Koezient der privaten
Haushalte 20162

Pro-Kopf-Ausgaben für die
soziale Sicherung 2016 in Euro

29,


USA


Großbrit.


Italien


EU-


Frankreich


Deutschland


Schweden


Slowakei


HANDELSBLATT • 1) In Preisen von 2018; 2) Je niedriger der Wert, desto gleichmäßiger ist das Einkommen auf alle Bürger verteilt.

1950 2018 1960 0 20 40


Luxemburg


Deutschland


Frankreich


Schweden


EU-


Italien


Polen


Rumänien


0 7 50015 000


Steuer- und Abgabenquote


Steuerquote


Sozialabgabenquote


2018


Quelle: KfW

40 000

30 000

20 000

10 000

0

4

3

2

1

Ludwig Erhard:
Drei Jahre Kanz-
ler, 14 Jahre Wirt-
schaftsminister.

Wirtschaft & Politik


1


DIENSTAG, 20. AUGUST 2019, NR. 159


8

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