Neue Zürcher Zeitung - 17.08.2019

(Barry) #1

Samstag, 17. Au gust 2019 ∙Nr. 189∙240.Jg. AZ 8021Zürich∙Fr. 5.20 ∙€5.


Nachhaltig einkaufen: Der Konsument hat es schwer – verlässliche Labels fehlen Seite 12


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«Ibiza» treibt Österreichs


Politik vor sich her


Korruptionsvorwürfe sorgen für einen nervösen Wahlkampf


mij. Wien·Der Ibiza-Skandal im Mai,
dem nach derRegierung ausKonser-
vativen (ÖVP) undFreiheitlicherPar-
tei (FPÖ) auch Kanzler SebastianKurz
indirekt zum Opfer fiel, sorgt imWahl-
kampf für Nervenflattern. DieseWoche
führte dieWirtschafts- undKorruptions-
staatsanwaltschaft(WKStA)unterande-
rembeimehemaligenVizekanzlerHeinz-
Christian Strache und bei dessenPartei-
freundJohann GudenusRazzien durch.
Die beiden Ibiza-Protagonisten werden
der Korruption im Zusammenhang mit
einem Deal im Glücksspielbereich ver-
dächtigt.DieWKStA prüft zudem einen
Zusammenhang zwischen dem «Ibizia»-
VideoundderdubiosenSchredderaktion
eines Mitarbeiters des Kanzleramtes.


Die Ermittlungen betreffen heikleFra-
gen zum Näheverhältnis zwischenPoli-
tik undTeilen derWirtschaft.
Die Parteienreagieren nervös: Die
FPÖ versucht, sich von Strachezu
distanzieren, ohne dieWähler zu ver-
ärgern. Linke und liberaleParteien for-
dern einerascheAufklärung, obwohl
die Ermittlungen erst ganz am Anfang
stehen, und dieÖVP droht jenen,die
einenKonnex zwischen der Schredder-
aktion und «Ibiza» herstellen, präventiv
mit einer Klage. Die Justiz steht damit
bereits zu Beginn der Untersuchungen,
de ren Erfolgsaussichten zudem unklar
sind, unter grossem Druck.
International, Seite 3
Kommentar, Seite 3

Die EU im Brexit-Endspiel


Grossbritanniens Demokratie stehen turbulente Wochen bevor. Ein EU-Austritt ohne Abkommen ist wahrscheinlich geworden.


Die EU soll te die Entscheidu ngsschlacht abwarten und sich auf die Neugesta ltung der künftigen Beziehungen zum Vereinigten


Königreich fokussieren – mit besten Absichten und ohne Groll.Von Peter Rásonyi


Die neue britischeRegierung bereite sich auf den
Austritt Grossbritanniens aus der EU vor, erklärte
Premierminister BorisJohnsonin den letzten
Wochen immer wieder, «do or die», koste es, was
es wolle.Der flamboyantePolitiker liebt patheti-
sche Sprüche und ganz besondersAnspielungen
auf die Zeit des ZweitenWeltkriegs, als sein gros-
ses VorbildWinston Churchill die Briten zum glor-
reichen Sieg über Nazideutschland führte. Natür-
lich wird niemand in Grossbritannien wegen des
Brexits sterben,ob er nun «hart» oder «weich» oder
gar nichtkommt.Was allerdings tatsächlich ster-
ben könnte, sind JohnsonsAmbitionen als Premier-
minister, nachdemer das Amt nach jahrelangem
geduldigemVorbereiten am 24.Juli endlich erobert
hat. Denn gelingtJohnson der versprochene EU-
Austritt am 31.Oktober nicht,dann steigt dieWahr-
scheinlichkeit, dass er als der am kürzesten an der
Downing Streetresidierende Premierminister in
die Geschichtsbücher eingehen wird.


Machtinteressen entscheiden


Der Grund dafür wird durch eine simpleRechnung
klar. Bei der Europawahl im Mai,als die Empörung
über die erneuteVerschiebung des ursprünglichfür
EndeMärzvorgesehenenAustrittsgrosswar,erhielt
die neu gegründete BrexitParty von NigelFarage
mit 30,5 Prozent am meistenStimmen von allenPar-
teien. BorisJohnsonsTories stürzten auf15,1 Pr o-
zent ab, das schlimmste Ergebnis bisher.Auf die-
sem Niveau wäre ein Sieg derTories in einerParla-
mentswahl völligaussichtslos.Nachdem BorisJohn-
son mit seinen Ankündigungeneines «Brexits um
jedenPreis»dieMachtübernahm,hatsichdasGlück
gew endet. DieToriesstehen laut den jüngstenUm-
fragen vonAnfangAugust bei 30 Prozent,die Brexit
Party, deren einzigesZiel der EU-Austritt ist, bei 15
Prozent.Viele Wähler glauben also dem neuen Pre-
mierminister,dasserdasKönigreichbaldausderEU
führenwerde.Dochdasreichtnochnicht.Mit30Pro-
zent ist eineParlamentsmehrheit kaum zu erringen.
Zu viele Brexit-Anhänger sind noch misstrauisch.


Johnson braucht mehr, um seine Macht zu
sichern. Deshalb setzt er seit Amtsantritt alles auf
eine Karte: Die BrexitParty muss zerstört wer-
den. Johnson braucht die Stimmen ihrer Anhän-
ger, um die nächsteWahl zu gewinnen.Das gelingt
am sichersten, wenn der Zweck der Brexit Party
nicht mehr existiert: wenn Grossbritannien am
Wahltag bereits aus der EU ausgetreten ist. Ge-
mäss der jüngsten Umfrage kämen die beidenPar-
teien zusammen auf45 Prozent.Könnten dieTories
all diese Stimmen auf sich vereinen,würde es ihnen
dank dem britischen Mehrheitswahlrecht locker
reichen, um eineParlamentsmehrheit zu gewinnen
und PremierministerJohnsons Macht zu sichern.
Und allein darum geht es ihm.
Die Mathematik ist ebenso klar wie die daraus
folgende Strategie des intelligenten und skrupel-
losen MachtmenschenJohnson. Er verschwendet
keine Zeit mit Gesprächen inBrüssel, Berlin oder
Paris. Er reist stattdessen durch dasKönigreich und
macht inoffiziellWahlkampf, um sich auf eine bal-
digeParlamentswahl vorzubereiten.Von zusätz-
lichen Milliarden für den nationalen Gesundheits-
dienst über bessere Schulen bis hin zu einerharten
Hal tung gegen Kriminelle ziehtJohnson alle be-
kanntenRegister des britischenPopulismus. Und er
demonstriert seine absolute Entschlossenheit, den
Brexit am 31.Oktober zu vollziehen.
Unmittelbar danachkönnte er, getragen vom
Jubel der EU-Gegner und vom logischenKollaps
der Brexit Party, die nächsteParlamentswahl ab-
halten. Dieser Ablauf wäre fürJohnson ideal.Dass
es genau sokommen wird, ist nicht garantiert, aber
sehr gut möglich. Zwar wollen Brexit-Gegner und
die oppositionelleLabourParty Neuwahlen noch
vor dem Brexit-Termin erzwingen, um bei einem
Sieg denTermin nochrechtzeitig verschieben zu
können. Doch ob das gelingen wird,ist b ei unkla-
rer verfassungsrechtlicherLage höchst umstritten.
Zudem istkeineswegs sicher, dass die Opposition,
käme es zu einer Wahl noch im September oder
im Oktober,diese gewinnen würde. Denn während
Johnson stahlhart entschlossen ist, sein politisches
Überleben durch einen harten Brexit zu sichern –

«do or die» –, ist die Opposition in dreiLager ge-
spalten: die Brexit-Gegner, die Befürworter eines
weichen Brexits und jene, die den Brexit genau
wie Johnson zum eigenen Machtgewinn nutzen.Zu
Letztgenannten gehörtder unbeliebteLabour-Chef
Jeremy Corbyn,der mit seinen persönlichenAmbi-
tioneneiner einigen Opposition imWege steht.

Nachvorne schauen


Für die EU kann das nur eines bedeuten: Sie muss
sich schleunigst auf einen Brexit ohneAustritts-
abkommen vorbereiten, womöglich schon am
31.Oktober. Denndas ist derzeit das wahrschein-
lichste Szenario, bei allen Unsicherheiten. Abge-
sehen davon wäre eine weitereVerzögerung des
Brexits, auf dessenAusgestaltung die tief gespalte-
nen Briten sich wieder nicht einigenkönnen, auch
keine erbaulicheAussicht.
Die EU sollte sich zudem eine geschickteKom-
munikationsstrategie gegenJohnsons Propaganda
zulegen. Dieser schiebt die Schuld am No-Deal-
Brexit mit all seinen wirtschaftlichen Problemen
allein Brüssel in die Schuhe. Er wirft der EU vor,
stur an dem mit seinerVorgängerinTheresa May
vereinbartenAustrittsabkommen festzuhalten –
dem er selbst imFrühjahr im Unterhaus einmal zu-
gestimmt hatte. Doch weder er noch seine Unter-
händler haben einenkonstruktivenVorschlag für
ein modifiziertes Abkommen vorgelegt.Vielmehr
schraubt er mit derForderung, dass die EU zuerst
auf dieRegelung der irischen Grenzfrage verzichte,
di eAnsprüche inakzeptabel hoch.
Das alles istsehr rational.Durch Härte und In-
transigenzgegenüber Brüssel kannJohnson bei den
Brexit-Anhängern nur gewinnen, deren Stimmen
er dringend benötigt. Einem vernünftigen bilate-
ralen Verhältnis zum europäischenKontinent ist
das nicht dienlich, doch darum geht es ihm ja nicht.
Das sollte die EU in ihrer eigenenKommunikation
deutlich machen, denn die StrategieJohnsons ver-
festigt die ohnehin schon überwiegend negativen
Emotionen gegenüber«Europe», was die künftigen

Bez iehungen nachhaltig belasten wird.Daran kann
niemand in Europa ein Interesse haben.
Europäische Bemühungen, mitLast-Minute-
Angeboten für eine weitereVerschiebung des
Austrittstermins zu werben, wären vergeblich. Sie
würdenJohnsons Machtstrategie infrage stellen
und sind deshalb chancenlos.Vielmehr sollte die
EU den unausweichlichen Brexit akzeptieren und
sich auf die Zeit danach ausrichten. Nach dem har-
ten Austritt deutet die Marschrichtung klar nach
Kanada beziehungsweise auf ein Freihandels-
abkommen nach kanadischemVorbild. Alle ande-
ren Optionen, die Grossbritannien näher bei der
EU halten würden, sind ohne ein von den Briten
akzeptiertes Übergangsregime unplausibel. Das ge-
nau ist es, was die Anhänger eines harten Brexits
wollen undJohnson ihnen inAussicht stellt.
Kurzfristig wird ein harterAustritt ohneAbkom-
men erhebliche wirtschaftlicheTurbulenzen aus-
lösen, bei Unternehmen, Mitarbeitern undKonsu-
menten. Diese treffen besonders Grossbritannien,
gehen aber darüber hinaus. SolcheWarnungen von
der Bank of England und vielen anderen Exper-
ten sind nicht einfach eine Abschreckungsstrate-
gie, sondern sehr plausibel.Dafür werden in ers-
ter LinieJohnson und seineKonservativePartei
die Verantwortung übernehmen müssen. In diesen
innenpolitischen Kampf der Briten sollte sich Brüs-
sel so wenig wie möglich einmischen.
Langfristig werden dieseVerwerfungen sich
legen, und Grossbritannien wird alle Chancen auf
eine prosperierende Zukunft haben.Dann sollte
die EU alle negativen Erinnerungen und Gefühle
aus der Brexit-Schlacht beiseitelegen und zu der
Gestaltung erfolgreicher bilateraler Rahmenbedin-
gungen und einer erfolgreichen Entwicklung des
grossen Nachbarn alles beitragen,was sie nur kann.
Denn Grossbritannien wird einTeil Europas blei-
ben, darankönnen auch die härtesten Brexiteers
nichts ändern. Und beide Seiten werden ein gros-
ses Interesse an guten, effizienten und vertrauens-
vollen bilateralen Beziehungen haben – politisch,
gesellschaftlich, wirtschaftlich, bei derForschung,
der Bildung, der Sicherheit, überall.

Ferienorte suchen Dialog


mit jüdischen Gästen


Informationsoffensive in Davos, Arosa und im Saastal


cb.·Im Sommerströmen Tausende
streng orthodoxeTouristen aus dem
Ausland nachDavos oder Arosa.Dabei
kommt es immer wieder zuReibereien
mit Einheimischen und anderen Gästen.
Dass ein Aroser Hotel explizit die jüdi-
schenGästeaufforderte,vordemBadim
Swimmingpool zu duschen,sorgte 20 17
weltweit für Schlagzeilen und Empö-
rung. SchweizerJuden wollen nun dafür
so rgen, dass eskeinen Krach derKul-
turen gibt. Der Schweizerische Israeli-
tische Gemeindebund (SIG) hat zu die-
sem Zweck das Projekt Likrat Public
(Likrat: hebräisch für «aufeinander zu-
gehen») ins Leben gerufen. InDavos,
Arosa und im Saastal sind seit Anfang
Woche jüdis cheVermittler anzutreffen,

so unter anderem imTourismusbüro,
bei Bergbahnstationen oder auf beleb-
ten Strassen. Sie gehen sowohl auf die
jüdischen Gäste wie auch auf die Ein-
hei mischen zu und suchen den Dialog
mitihnen,umdasgegenseitigeVerständ-
nis zu fördern. Dem gleichenZiel die-
nen zwei Broschüren,die die Einheimi-
schen und die Hoteliers über die spezifi-
schenTraditionenundVerhaltensweisen
derJudenbeziehungsweisediejüdischen
Touristenüber die spezifischenTraditio-
nenundVerhaltensweisenderSchweize-
rinnen und Schweizer informieren. Die
Aufklärungskampagne,dienächstesJahr
weitergeführt werden soll,kommt bis
jetzt gut an – wenn auch nicht bei allen.
Schweiz, Seite14, 15

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