Neue Zürcher Zeitung - 17.08.2019

(Barry) #1

Samstag, 17. Au gust 2019 MEINUNG & DEBATTE


KARIKATUR DER WOCHE


SCHWARZ UND WIRZ


Die Schweiz muss


sich nicht verstecken


Von GERHARDSCHWARZ

In den Sommerferien hatte ich Gelegenheit,
mich mit einem hohen EU-Beamten informell
auszutauschen. Er bezeichnet sich alsFreund
der Schweiz, und es gibtkeinen Grund, daran
zu zweifeln.Das Gespräch weckte bei mir
Verständnis und gab neue Impulse, bestärkte
aber zugleich lange gereifte Überzeugungen.
Mein Gegenüber betonte immer wieder, wie
schwierig die Situation für die EU sei. Die
Verantwortlichenkönnten gar nicht anders, als
hart zu agieren. Nur so liessen sich die
zentrifugalen Kräfte in der Union bändigen.
Was aus schweizerischer Sicht oft stur wirke,
sei nicht so sehr gegen die Schweizgerichtet,
sondern habe mit auseinanderstrebenden
Tendenzen in Europa, vor allem dem Brexit,
zu tun.
Mein Gesprächspartner dachte offensicht-
lich in Kategorien einesKerneuropa, wirt-
schaftlich, politisch,auch wertemässig, von
dem sichkein Land zu sehr wegbewegen darf.
Deutlich wurde auch, dass sich die Schweiz
nicht viel Hoffnungen auf Nachgeben machen
kann. Die EU scheint sogar mit Blick auf das
langfristige Ziel eines geeinten Europa zu
mancher Selbstschädigung bereit, so zum
Ausschluss der besten Universitäten Europas
aus der europäischenForschungskooperation,
nur weil diese nicht in der EU-27 liegen,
sondern in den «renitenten»Ländern Gross-
britannien und der Schweiz.
Der Impuls, den ich aus dem Gespräch
mitnahm, war, dass sich die Schweiz nicht
überschätzen sollte (das ist selten hilfreich),
dass sie aber doch mit mehr Selbstbewusstsein
auftreten müsste. Die Bürger bekunden zwar
mit derPersonenfreizügigkeit oft Mühe, aber
im Gegensatz zu Grossbritannien gehört die
Schweiz zum Schengen-Raum. Sie ist, wie der
hoheAusländeranteil an derWohnbevölke-
rungvon 25Prozent, der Anteil von im
Ausland Geborenen von fast 30 Prozent und
die täglich gut 300000 Grenzgänger belegen,
ein geradezu ungewöhnlich offenesLand. So
viel Offenheit herrschtsonst in der EU nur in
Luxemburg, aber nicht in denLändern, die
glauben, die Schweiz wegen ihrer angeblichen
Abschottung tadeln zu müssen.
Die Schweiz muss sich also nicht verstecken
und sollte inVerhandlungen ihre extreme
Offenheit durchaus in dieWaagschale werfen.
Zum gesunden Selbstbewusstsein gehörte aber
vor allem, zu versuchen, die zu erwartenden
weiteren Nadelstiche zu parieren. Bei der
Börsenäquivalenz scheint das gelungen. Gerne
würde man aus Bern hören, dass in den
Bereichen Medtech sowie Bildung und
Forschung, in denen die EU Drohgebäude
aufbaut, ebenfalls ein wirksamer PlanBin der
Schublade liegt.
Schliesslich wurde mir ein weiteres Mal
bewusst, dass die imRahmenvertrag vorge-
schlagene Lösung mit dem Schiedsgericht
noch problematischer ist als dievom Bundes-
rat als klärungsbedürftig bezeichneten
Dossiers Lohnschutz, staatliche Beihilfen und
Unionsbürgerrichtlinie. Es geht hier um
laufendeRechtsübernahme, zwar nicht von
einem per se böswilligenPartner, aber doch
von einem staatlichen Gebilde sui generis, das
in vielen Belangen völlig anders tickt als die
Schweiz und dessenFinalität nicht in einer
spontanen, sich von unten entwickelnden
Ordnung liegt, sondern in einerKopfgeburt,
die auf lauter gutenAbsichten beruht.
Sich im Streitfall einem Schiedsgericht zu
unterwerfen, das sich seinerseits in 90 Prozent
der Fälle beim obersten Gericht einer der
beidenParteien der «Richtigkeit» seiner
Entscheide vergewissern muss, ist an sich
schon unwürdig.Wenn diesePartei zudem in
fundamentalenFragen des Staatswesens und
der Souveränität der Bürger gänzlich andere
Auffassungen vertritt, lässt sich eine solche
Unterwerfung erstrecht nichtrechtfertigen,
auch nicht unter demTitel desWohlstands.

Gerhard Schwarzist unter anderem Präsident der
Progress Foundation.

Verfassung der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz


Die kirchliche Basis


wurde nicht übergangen


Gastkommentar
von LUKAS KUNDERT


In einem Gastbeitrag hat der frühere Gemeinde-
pfarrer und Krimiautor Ulrich Knellwolf in der
NZZ vom17.7.1 9 die neueVerfassung der Evan-
gelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS) fron-
tal angegriffen. SeinePolemik beginnt derAutor
mit demVorwurf, dass sozusagen dämonische
Mächte die Kirche manipulierten, indem «irgend-
welche Amtsträger fanden, es brauche eine neue
Verfassung für dieReformierten».Wahr ist: Die
«irgendwelchen Amtsträger» sind die zumTeil
von Knellwolf selber gewählten und von seiner
ZürcherSynode in die Abgeordnetenversamm-
lung des SchweizerischenEvangelischen Kirchen-
bund s (SEK) delegiertenFrauen und Männer der
kirchlichenBasis. Es istkeine Apparatschikver-
sammlung, sondern es war das demokratisch legi-
timierteParlament des SEK, das imJuni 2007 im
Basler Rathaus mit grossem Mehr entschieden
hat, für den Kirchenbund eine neueVerfassung
zu erarbeiten.
DemDuktus folgend, denkirchlichenAuf-
bruch als Machtkalkül dunkler Hinterleute dar-
zustellen,stell t Knellwolfdie Behauptung in den
Raum, dassder Prozess an den Christinnen und
Christen an der kirchlichenBasis vorbeigegangen
sei.Wahrist:DerSEKhattenacheidgenössischem
Usus zweimal eineVernehmlassung zumVerfas-
sungsprozessdurchgeführt.VerschiedeneKonsul-
tationen wurden auf verschiedenen Ebenen ab-
geha lten. Der Gastautor berichtet dann richtig,
dass ein Entwurf in der Abgeordnetenversamm-
lung «zerzaust» worden sei. DerVerfassungspro-
zess war eine Hinterlassenschaft desVorgängers
des heutigen Kirchenbund-Präsidenten Gottfried
Locher.Aus dieser Phase kam in derTat ein erster
Entwurf in dieVernehmlassung und dann in die
Abgeordnetenversammlung, der auf der ganzen
Ebene Schiffbruch erlitt.DerRat des SEK wurde
damitbeauftragt ,nochmalsneuzubeginnen.Jetzt
konnteGottfriedLochereinenstrukturiertenPro-
zesseinleiten,inwelchemüberdieGrundsätzefür
eine neueVerfassung in allerRuhe und Gründ-
lichkeit kontrovers diskutiert werdenkonnte.
Die totalrevidierteVerfassung wurde dann mit
überwältigendem Mehr, ohne Enthaltungen und
mit nur einer Gegenstimme (und zwar, weil Italie-
nisch nicht zurAmtssprache in der EKS erhoben
wurde) angenommen. Neu und entscheidend ist,
dass die bisherige Unterbestimmtheit des theolo-
gischen und des organisatorischenVerhältnisses
der Kirchgemeinden und der Kantonalkirchen zu
den übrigen Kirchen der Schweiz beseitigt wor-
den ist. Zwar sind dieReformierten heute schon


auf Gemeindeebeneund auf kantonaler Ebene
Kirche; seit fünfzigJahren sind sie es auch auf
europäischer Ebene (LeuenbergerKonkordie).
Aber auf nationaler Ebene waren sie es bisher
nicht.DieVerfassung schliesst diese Lücke.Ulrich
Knellwolf behauptet nun, das bedeute«eine bis-
her im schweizerischen Protestantismus unbe-
kannte starke Zentralisierung und Hierarchisie-
rung».Wahr ist:Die Schweizkennt heute 26 unter-
schiedliche landeskirchenrechtlicheSysteme;jede
Kantonal- oderLandeskirche ist faktisch eine
autokephale Kirche, über die niemand anders als
derenSynoden (beziehungsweiseRegierungsräte
oder Kantonsbevölkerungen) bestimmenkönnen.
Die Verfassung der EKS tangiert dieseRechts-
systeme inkeinerWeise.Jede Kantonalkirche und
jede Kirchgemeindebleibtrechtlich in derWeise
selbständig, wie sie es bisher war. Eine Zentralisie-
rung und Hierarchisierung sähe anders aus. Daran
ändert auch jene Bestimmung derVerfassung der
EKS nichts, die Knellwolf zur Untermauerung sei-
ner These heranzieht, nach der «Synode, Rat und
Präsident der EKS die schweizerischenRefor-
miertenrepräsentieren».Wahr ist: Das war schon
in der bisherigenVerfassung des SEK dieAufgabe
von Abgeordnetenversammlung, Präsident und
Rat des Kirchenbunds, inhaltlich bestimmt dies
also nichts Neues.
Knellwolf beklagt,dass «der einzelne Christen-
mensch» vergessen worden sei. Er und seinVer-
hältnis zu Gott kämen in derVerfassung nicht vor.
In derTat ist dieVerfassung der schweizerischen
evangelischen Kirchekeine Tauflehre (worin das
VerhältnisvonEinzelnemzuGottbegründetwird),
sondern sie ist eben eine Kirchenverfassung. Ein
Mensch kann unter Umständen allein Christ sein,
aber er kann nie allein Kirche sein. Darum kommt
in derTat der Einzelne vor allem in seinerVerant-
wortungfürdasGanzevor(Stimm-undWahlrecht,
Kompetenzen in der Organisation usw.).
Knellwolfaber kritisiert,dassmansich«amfrü-
heren Amt des Antistes zu orientieren» scheine.
Hier versucht er die leidliche Unterstellung wie-
derzubeleben, SEK-Präsident Gottfried Locher
verfolge eine katholisierende Hierarchisierung
seines Amtes – man wolle gewissermassen eine
monarchische Struktur in der Kirche einführen.
Diese Diskussion wurde vor einemJahr intensiv
in den Medien geführt.Man hat dazu Klarheit ge-
winnenkönnen, die anders aussieht, als es Knell-
wolf sehen will – und Locher ist mit grossem Mehr
in seinem Amt bestätigt worden.

Lukas Kundertist Münsterpfarrer und Kirchenrat spräsi-
dent Basel-Stadt sowie Co-Präsident der beratenden
theologischen Kommission für die Verfassung der EKS.

Jede Kantonalkirche und


jedeKirchgemeindebleibt


rechtlich in derWeise


selbständig,wiesieesbisher


war. Eine Zentralisierung


undHierarchisierung


sähe anders aus.

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