Neue Zürcher Zeitung - 17.08.2019

(Barry) #1

12 MEINUNG & DEBATTE Samstag, 17. Au gust 2019


Um ökologisch einzukaufen, sollte das Produkt regional und saisonal sein–inder Näheim Januar produzierteTreibhaustomaten sind also keine gute Idee. J. HUNN / NZZ


Schwierige Entschei dungen

vor dem Supermarktregal

In Ze iten verschärfter Klimaschutzdebatten wollen viele


ökologisch nachhaltig einkaufen. Doch das ist gar nicht so einfach,


solange verlässliche Labels für Produkte fehlen.Von Ste phanie Lahrtz


Auf dieFrage des Richters, warum sie sichden Sala-
fisten angeschlossen habe, antwortetedie junge
Deutsche: «Ich war überfordert, täglich entschei-
den zu müssen, was ich anziehe, welche Lebens-
mittel ich kaufen soll. DieAuswahl ist einfach zu
gross. Die Gruppe aus der Moschee hat mir dann
gesagt, was gut ist und was nicht.» Zugegeben, es
ist eine im wahrsten Sinn desWortes extreme Ent-
scheidung, wegen Orientierungslosigkeitim Super-
markt Extremistin zu werden. Dochkönnen wir
die jungeFrau nicht ein ganz kleines bisschen ver-
stehen? Stehen wir nicht auch manchmalratlos vor
dem Supermarktregal?
Schliesslich sollte im Zeitalter von «Fridays for
Future» jeder Einkauf ökologisch, nachhaltig so-
wieklimafreundlich sein. Und auch dasTierwohl
gilt es zu beachten, ausserdem die Lebensbedin-
gungen der Produzenten von nah und fern. Denn
derKonsument beeinflusst mit seinem Einkaufs-
korb die Produktionsbedingungen. DiesesWissen
hat sich herumgesprochen, und so werden wir heut-
zutage noch mehr als zuvor ermahnt. Aber woher
sollen wir wissen, welche Produkte sich mit einem
«ethischkorrekten Leben» vereinbaren lassen?


Grübeln über der Keksfrage


Wenn man alsKonsument alle Kriterien beherzigen
will, wird der Einkaufrasch zur Seminararbeit.Da
wäre zum Beispiel die Milchfrage: Soll ich die Bio-
milch von der 200 Kilometer entfernten Molkerei
nehmen? Die biologischeLandwirtschaft ist zwei-
fellos gut für dieKühe und Bienen. Aber die Ge-
nossenschaftsmilch aus den näher gelegenen Hö-
fen ist besser für dieBauern und verbraucht weni-
ger CO 2 , weil sie weniger weit transportiert wird.
Dann dieKeksfrage: Bio-GuezlienthaltenPalmöl,
das ist aus ökologischer und ethischer Sicht höchst
problematisch. Denn selbst für nachhaltig produzie-
rendePalmölplantagen wird normalerweise Urwald
abgeholzt. Zudem werden grosse Mengen vonPesti-
ziden eingesetzt und Menschen sowie Orang-Utans
vertrieben. Derzeit wirdnur ein Prozent des weltweit
verwendetenPalmöls biologisch angebaut.Also doch


lieber die daneben aufgereihtenKekse ohne Biozuta-
ten, aber dafür auch ohnePalmöl? Beim Obstkomme
ich ebenso ins Grübeln: Gala-Äpfel sind offenbar
sehr empfindlich und müssen öfter gespritzt werden
als andere Sorten. Bei Bio-Gala-Äpfeln wird dagegen
pro Saison mehrmalsKupfersulfat eingesetzt, eine für
Menschen,Tiere und Bodenorganismen giftige Sub-
stanz. Das spricht dafür, auf andereApfelsorten um-
zusteigen. Nur welche sollen das sein? Nochkompli-
zierter wird es, wenn man die Art und Menge derVer-
packung bei der Kaufentscheidung mitberücksichti-
gen will. Biomilch imTetrapak oderkonventionelle
Milch in der Glasflasche?
SelbstLabels sind nur bedingt eine Hilfe bei der
Suche nach dem ökologisch und ethisch richtigen
Produkt. Denn es gibt viel zu viele davon. Neben all-
gemeinenLabels wie dem EU-Bio-Siegel sind in den
letztenJahren eine unüberschaubareZahl an Spe-
zial-Labels vonVerbänden undFirmen dazugekom-
men.Esgibt solche, die versprechen, dass dieTiere
viel Platz im Stall haben oder antibiotikafrei aufge-
zogen werden.Andere garantieren, dass die männ-
lichenKüken nicht direkt nach dem Schlüpfen ge-
tötet werden. Die grosseLabel-Vielfalt ist in doppel-
ter Hinsicht problematisch.Zumeinenverwirrt sie
dieKunden.Das könnte zurFolgehaben, dass sich
niemand mehr darum schert,weil dieLage zu un-
übersichtlich ist.Dann bleiben auch die hinter den
Labels stehenden Anliegen unberücksichtigt. Zum
andern ist dieVielfalt ein idealerTummelplatz für
Täuschung, Irreführung undFälschung.
Immer mehr grosseFirmen entwickeln ihre eige-
nenLabels. So verkauft die britische Supermarkt-
kette Sainsburyseit einiger Zeit statt wie früherFair-
Tr ade-Tee nunTeeunter dem eigenenLabel «Fairly
Tr aded». Derzeit weiss allerdings niemand so genau,
welche Richtlinien hinter dem neuenLabel stehen.
Dasgilt für viele Siegel und Deklarationen. Stehen
sie nun für bio, fair, regional, oder wecken sie nur
diesen Eindruck? Es ist völlig unübersichtlich, und
kaum jemand weiss,ob dahinter echtesBemühen
oder nur geschicktes Marketing steckt.
Viele würden sich daher einLabel wünschen,
das alle Aspekte berücksichtigt: von ökologisch bis
fair für Mensch undTier.Eine solche Eier legende

Wollmilchsau inForm eines Einkaufsratgebers ist
laut Experten aber aus mehreren Gründen schwie-
rig zu etablieren. So müsste man für jedes Produkt
die gesamte Ökobilanz «vomFeld auf denTeller»
oder «von der Chemiefirma bis zum Putzregal»
analysieren.Das ist weder finanziell noch perso-
nell machbar, denn dafür gibt es zu viele Produkte.
Darüber hinaus schliessen sich einzelneLabel-
Aspekte gegenseitig aus. So hat ein Bioapfel, wenn
er aus Neuseeland stammt, eine schlechte CO 2 -
Bilanz. Und der Kaufvon Lebensmitteln bei bäuer-
lichenFamilienbetrieben unterstützt lokale Produ-
zenten, auch wenn die Produkte nicht bio sind.Wer
sich die Mühe machen will,eine Schneise in denLa-
bel-Dschungel zu schlagen, kann sich bei den Be-
wertungen aufPortalen wie label-online.de oder
siegelklarheit.de/home schlaumachen.
Tr otz fehlendem Superlabel gibt es einigeFaust-
regeln für einen ökologischen Einkauf, vergleich-
bar mit denTipps für eine gesunde Ernährung.
Dort wird zum Beispiel empfohlen, so wenig ver-
arbeitete Lebensmittel wie möglich zu verwenden.
Will man umweltbewusst einkaufen, sollte man
möglichst Bioprodukte wählen. Denn laut Exper-
ten hat die Herstellung eines Produkts in derRe-
gel einen grösseren Einfluss auf seine Ökobilanz
als derTr ansport oder andereFaktoren.Nur wenn
dieTr ansportwege sehr lang sind und Flugstrecken
enthalten, schneidet das Bioprodukt aus Übersee
schlechter ab als dasselbe aus heimischem, aber
konventionellem Anbau. Zudem sollte das Pro-
duktregional und – was Obst und Gemüse angeht


  • saisonal sein. In der Nähe hergestellteTr eibhaus-
    tomaten imJanuar sind alsokeine gute Idee.
    Bei derVerpackung gilt dieRegel: sowenig
    wie möglich. Also lieber die 2-Kilo-Packung Nu-
    deln wählen als die mitnur500 Gramm. Oder den
    grösstmöglichenJoghurtbecher statt lauter kleine.
    Für eine saubere Ökobilanz sollte man zudem
    immerTaschen oder Beutel für den Heimtransport
    dabei haben.Laut Studien ist eineBaumwolltasche
    dem Plastikbeutel aber nur dann überlegen, wenn
    sie mindestens zwanzigmal benutzt wird.
    Befolgt man solcheFaustregeln, schont man
    zweifellos die Umwelt. Dennoch sollten wir auf-
    passen, dass wir uns mit den berechtigten Über-
    legungen zu Biomilch,Palmölkeksen,Baumwoll-
    taschen undJoghurtbechern nicht verzetteln. Denn
    derVerbrauch von naturgemäss kurzlebigen Pro-
    dukten aus dem Supermarkt macht nicht den gröss-
    tenTeil unseres ökologischenFussabdrucks aus.


Verzicht hat grössten Effekt


Wenn wir der Umwelt, der Biodiversität und damit
auch der Menschheit wirklich helfen wollen, dann
müssenwir viel mehr tun, als die Produkte im Ein-
kaufskorb durch ökologischereVarianten zu erset-
zen.Wir müssen verzichten. Denn die meistenPer-
sonenkonsumieren mehr, als der Umwelt guttut.Das
zeigt sich etwa daran, dass wir in Europa und in ande-
ren reichenLändern nach den Berechnungen des
GlobalFootprint Network über unserenVerhältnis-
sen leben.Das heisst, wir verbrauchen mehrRessour-
cen,alsder Planet uns in einemJahr zurVerfügung
stellt. Nur einmal proWoche Fleisch zu essen, hat
einen grösseren Effekt, als jedes Schnitzel und jeden
Burger durch eine Biovariante zu ersetzen. Zudem
sollten wir insgesamt weniger Lebensmittel kaufen.
Wir werden dannkeineswegs hungern, schliesslich
werden in Deutschland proJahr rund 17 Millionen
Tonnen Lebensmittel weggeworfen.Inder Schweiz
sind es 2,3 MillionenTonnen.Fast zwei Drittel da-
von sind lautForschern noch geniessbar.Eine wei-
tere Zahl, die nachdenklich stimmt:Jeder Deutsche
und jede Schweizerin wirft imJahr fast ein Zehn-
teldes Pro-Kopf-Verbrauchs an Lebensmitteln weg.
Der Umwelt hilft es auch nicht,wenn wir alle
vier bis sechsWochen ein neuesT- Shirt kaufen, auch
wenn es aus Biobaumwolle ist. Denn auch dafür
werden Hunderte LiterWasser verbraucht, und das
Garn (oder das fertigeKleidungsstück) wird oft über
Tausende von Kilometern transportiert. Gerade bei
Kleidung und elektronischen Geräten solltenwir
uns deshalb vor jedem Einkauf fragen, ob wir das
gewünschte Produkt wirklich benötigen und – wenn
ja – ob wir es nicht gebraucht erwerbenkönnten.
Wollen wir unseren ökologischenFussabdruck
deutlichverkleinern, müssen wirauch das tun,
wozu uns die jungenAktivisten der«Fridays for
Future»-Kundgebungen seit Monaten auffordern
und was vieleForscher seitJahren predigen:Wir
müssen unser Mobilitätsverhalten ändern.Auch
wenn das so bekannt klingt, dass wir es gern über-
lesen oder überhören, es bleibt eine dringende und
notwendigeAufforderung. ZumVergleich: Werauf
eine Flugreise von Zürich nach London verzichtet,
spart193 Kilogramm CO 2 ein. Bei einem eingespar-
ten Kilogramm Käse sind es 5,3 Kilogramm CO 2.
DieForderung nach einem bescheideneren und
bewussteren Lebensstil hat in unsererkonsum-
orientierten Gesellschaft allerdings einen schweren
St and. Denn derKonsumverzicht kratztanunse-
rem Selbstverständnis, verunmöglicht so manches
Hobby und erschwert den Alltag.Aber genauso wie
Antibiotikaresistenzen nur durch strenge Hygiene
und einen spezifischen Einsatz der vorhandenen
Substanzen eingedämmt werdenkönnen, kann die
«Gesundheit» der Erde aufDauer nur durch weni-
gerKonsum erhalten werden.

Wenn wir der Umwelt


wirklich helfen wollen,


dann müssen wir


viel mehr tun, als die


Produkte im Einkaufskorb


durch ökologischere


Varianten zu ersetzen.


Wir müssen verzichten.

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