Neue Zürcher Zeitung - 17.08.2019

(Barry) #1

Samstag, 17. Au gust 2019 SCHWEIZ 13


Der Verdienst von Gefangenen


darf nicht beschlagnahmt werden SEITE 15


Dem revidierten Datenschutzgesetz


droht im Parlament der Absturz SEITE 15


Mit einerCO 2 -Abgabe nimmt die Ständeratskommission die Zahl der Flugreisen insVisier. CHRISTIANBEUTLER /NZZ

Die Kündigungsinitiative hat einen schweren Stand


Sechs Jahre nach dem Ja zur Einwanderungsinitiative kommt ein ähnliche r Vorstoss der SVP an die Urne – diesmal jedoch unter anderen Vorzeichen


HANSUELI SCHÖCHLI


Im Februar 2014 hat dasVolk die Ein-
wanderungsinitiative derSVP knapp
angenommen. Das Parlament setzte
allerdings die Initiative nicht um, damit
wichtigeVerträge mit der EU erhalten
bleiben.Rund sechsJahre nach dem da-
maligen Urnengang – voraussichtlich im
Februar oder Mai 2020 – dürfte dasVolk
über einen ähnlichenVorstoss derSVP
und derAuns abstimmen.
Auch dieses Mal geht es um die Be-
erdigungdes Prinzips,dass EU-Bürger
bewilligungsfrei Zugang zum Schwei-
zer Arbeitsmarkt erhalten (und umge-
kehrt). Im Unterschied zum ersten An-
lauf ist dieForderung nachKündigung
desAbkommens zurPersonenfreizügig-
keit zwischen der Schweiz und der EU
direkt im Initiativtext enthalten.
Kündigt die Schweiz das Abkommen,
wäre aufgrund einer Guillotineklausel
auch mit dem Ende andererVerträge
zu rechnen, welche Dossiers vomVer-
kehr bis zurForschung betreffen. Ent-
sp rechendnervös sind diePolitik und
die international orientierteWirtschaft.


In Bundesbern verläuft dieFrontlinie
im Wesentlichen erneut wie bei der Ein-
wanderungsinitiative:dieSVP gegen alle
anderen. Dies bestätigte sich amFreitag
mit der Mitteilung der vorberatenden
Kommission des Nationalrats, die mit
16 zu 8 Stimmen beschloss, die Initiative
ohne Gegenvorschlag abzulehnen.
Der Bundesrat will die Besorgnisse
der Bevölkerung über die Einwande-
rung nicht nochmals unterschätzen wie
vor sechsJahren. Gemäss Nachbefra-
gun g zum damaligen Urnengang war
das Volks-Ja massgeblich durch ältere
Erwerbspersonen zustande gekommen.
So beschloss der Bundesrat diesen Mai
mit Blick auf dieKündigungsinitiative,
den Ängstenälterer Arbeitnehmer vor
der Einwanderung mit demVorschlag
einer Überbrückungsrente für ausge-
steuerte Arbeitslose ab 60 zu begegnen.

UnnötigeKonzession?


«Für die Bekämpfung derKündigungs-
initiative würde es diese Überbrü-
ckungsrente nicht brauchen», sagt der
Politologe Urs Bieri vomForschungs-

institut gfs.bern, das oft Umfragen zu
den bilateralenVerträgen durchführt.
Die Kündigungsinitiative spricht laut
Bieri aus Sicht der Bevölkerungkeinen
grossen Problemdruck an: «Alle unsere
Umfragen in den letztenJahren zeigen
eine solide Unterstützung für diePer-
sonenfreizügigkeit. Die bilateralen Ver-
träge gelten als Erfolgsmodell.» Drei
Umf ragen des Instituts von2017 bis
2019 direkt zurKündigungsinitiative
zeigten Zustimmungsraten von je höchs-
tens einem Drittel.
Volksinitiativen verlieren imLauf
eines Abstimmungskampfs meist an
Unterstützung.Wenn sie schon am An-
fang nur einer Minderheit gefallen,wird
es besonders schwierig.Ausnahmen sind
die Minarett-Initiative und die Ein-
wanderungsinitiative, die trotz anfäng-
lichemRückstand an der Urne erfolg-
reich waren. Im Unterschied zu jenen
beidenVorlagensind aber laut Bieri
bei derKündigungsinitiative dieRück-
meldungen der Befragten zu deneinzel-
nen Pro- und Contra-Argumentenkon-
sistent mit der tiefen allgemeinen Zu-
stimmungsrate.

Die Umstände sind in zwei zentra-
len Punkten für dieKündigungsinitia-
tive deutlich anders, als sie es vor sechs
Jahren für die Einwanderungsinitiative
waren. Zum einen ist die Immigration
heute deutlich tiefer. Im Vergleich zu
2013 hat sich die Netto-Einwanderung
aus der EU etwa halbiert, und insgesamt
ist die Netto-Zuwanderung um rund 40
Prozent gefallen – von fast 90000 im
Jahr 2013 auf etwa 55000. Zudem sind
seither manche Illusionen über das«Ver-
ständnis» der EU für die Schweizer Sor-
gen geplatzt.Das damaligeVersprechen
der Urheber der Einwanderungsinitia-
tive, wonach die EU über eine Begren-
zung derPersonenfreizügigkeit mit sich
reden lassen werde, hat sich als Luft-
blase entpuppt.

Wie die Stimmung kippenkann


Immerhin liefert auch dieKündigungs-
initiative wiederFutter für Hoffnun-
gen bzw. Illusionen. Sokönnte man be-
haupten, dass die EU bei einerKün-
digung derPersonenfreizügigkeit ent-
gegen der verankerten Guillotineklausel

die damit verbundenenVerträge weiter-
leben lassen würde und auch sonstkeine
Retourkutschen zu erwarten wären.Zu-
dem haben die Befürworter derPerso-
nenfreizügigkeit rhetorisch eine heikle
Kurve zu nehmen. ImKontext derKün-
digungsinitiative betonen sie den wirt-
schaftlichenWert des betroffenenVer-
tragspakets, doch imKontext des vor-
geschlagenen EU-Rahmenabkommens
warnendie gleichen Kreise vor derAus-
höhlung desWerts der «Bilateralen»
ohneRahmenabkommen. Zurzeit sieht
es zwar nach einer klaren Sequenz aus:
Zuerstkommt der Abstimmungskampf
über dieKündigungsinitiative, und erst
danach beginnt wieder die ernsthafte
Debatte über ein allfälligesRahmen-
abkommen. Doch dieVermischung der
beidenThemen wird sich kaum ganz
vermeiden lassen.
Für einen Umschwung zugunsten
der Kündigungsinitiative würde es laut
Urs Bieri mehr brauchen: eine starke
Zunahme der Einwanderung oder eine
Eskalationdes Streits mit der EU um
den Rahmenvertrag mit schmerzhaften
Massnahmen gegen die Schweiz.

Fliegen und Autofahren sollen teurer werden


Die Umweltkommission des Ständerats will einen Klimazuschlag zwischen 30 und 120 Franken auf Flugtickets einführen


CHRISTOF FORSTER, BERN


StänderatRoland Eberle gehört nicht
zu jenenSVP-Politikern, die denKlima-
wandel leugnen. «Je schneller wir Mass-
nahmen ergreifen,desto früher erreichen
wir die Ziele», sagt der Präsident der
Umweltkommission (Urek) der kleinen
Kammer.Mit dem vorgelegtenPaketsoll
das Netto-Emissionsziel für den CO₂-
Ausstoss bis2050 desPariser Klima-
abkommens erreicht werden. DieVor-
lage ist deshalblaut Eberle «sehrambi-
tioniert». Gleichzeitig war man in der
Kommission darauf bedacht, eine breit
abge stützte Vorlage zu präsentieren.
Die Geschichte der Gesetzesrevi-
sion hatte nämlich schlecht begonnen:
Im Nationalrat stürzte dieVorlage im
Dezember ab. Den Linken und Grünen
ging sie viel zu wenig weit, derSVP war
auch dies noch zu viel. In der Kritik –
auch von der eigenenBasis – stand die
FDP,die Hand bot zurVerwässerung.Da-
nach führteeine breit angelegte Umfrage
bei den FDP-Mitgliedern zu einemKurs-
wechsel in der freisinnigen Klimapolitik.


Vorlageverschärft


Die Kommission hat nun dieVorlage
in mehreren Punkten gegenüber dem
Entwurf des Bundesrats verschärft.
So schlägt sie eine Flugticket-Abgabe
zwischen 30 und 120Franken vor.Auf
Europaflügen soll der Klimazuschlag
mindestens 30Franken betragen, da-
mit es zu einer spürbaren Senkung der
Passagierzahlenkomme, heisst es in
der Medienmitteilung.Auf Langstre-
ckenflügen ist eine höhere Lenkungs-
abgabe geplant. DieAusarbeitung eines
Modells, das neben der Distanz auch die
Buchungsklasse berücksichtigt,überlässt
die Kommission dem Bundesrat.Keine
einfacheAufgabe,denn die Ständeräte
wollen auch, dass der Preisaufschlag zu
keinerVerlagerung von Flügenins Aus-
land führt.MöglicheAusweichflughäfen
wären München, Mailand oderParis. Je
nach Höhe undVerhalten derKonsu-
menten würden sich die Einnahmen aus
der Abgabe auf mehrere Hundert Mil-
lionenFranken proJahr belaufen.
Ein ungelöstes Problem bleibt der
Flughafen Basel-Mülhausen, der auf


französischemGebietliegt. EineSteuer
ist jedoch laut Bundnur auf inländi-
schen Flughäfen möglich.Weil die Urek
die Vorlage noch in alter Besetzung vor
den Wahlen beraten will, hat sie die-
sen Aspekt aus Zeitgründen nicht ver-
tieft geprüft. Die FluggesellschaftSwiss
stellte amFreitag bereits infrage, dass
eine Flugticket-Abgabe den gewünsch-
ten Erfolg erzielt.

Ein Klimafonds fürs Bauen


Die Hälfte der Einnahmen aus der Ab-
gabe soll an Bevölkerung undWirt-
schaft rückvergütet werden – via Kran-
kenkassenprämien. Die andere Hälfte
fliesst zusammen mit höchstens 450 Mil-
lionenFranken aus der CO 2 -Abgabe auf
Brennstoffen in einen neuen Klimafonds.

Damit will die Urek den schleppenden
Gang der Gebäudesanierungen,in denen
ein grossesPotenzial zur CO 2 -Reduktion
liegt, beschleunigen.Aus demFonds soll
auch Geld in die Planung von Projekten
für erneuerbare Energien fliessen.Falls
die finanziellen Anreize nicht greifen,
will dieKommission mit gröberem Ge-
schütz auffahren:Dann sollen ein CO 2 -
Grenzwert fürAltbauten oder ein Emis-
sionsgrenzwert beim Einbau von neuen
Heizungen eingeführt werden. Der Ent-
scheid fälltin der zweiten Lesung zum
Gesetz Anfang September.
Grösstes Sorgenkind der Schweizer
Klimapolitik ist derVerkehr. Der CO 2 -
Ausstoss auf Benzin und Diesel lag 20 18
rund 3 Prozent höher als1990. Das Ge-
setz schreibt jedoch eine Abnahme um
20 Prozent bis 2020 vor. Im Unterschied

zum Bundesrat will die Urek nicht nur
für Personen- und Lieferwagen sowie
leichte Sattelschlepper,sondern auch
für schwereLastwagen CO 2 -Vorgaben
einführen. Solche Grenzwerte sollen
die Erneuerung der Flotten durch spar-
samereTrucks beschleunigen.

Bis 12 Rappen mehr fürs Benzin


Keine Mehrheit gab es in derKommis-
sion für eine Lenkungsabgabe auf Ben-
zin und Diesel. Sie verlangt indes vom
Bundesrat in einem Berichtkonkrete
Vorschläge zurAusgestaltung einer sol-
chen Abgabe wie auch für die Einfüh-
rung von Mobility Pricing, was auch die
Bahn einbeziehen würde.
Zu einerVerteuerung des Benzins
kommt es aber trotzdem,weil dieTreib-

stoffimporteure einenTeil der durch
den Verkehr verursachten CO 2 -Emis-
sionen kompensieren müssen. Pro-
jekte zurKompensation werden durch
einenAufschlag auf denBenzinpreis
finanziert: Dieser soll bis 2024 höchs-
tens 10Rappen je Liter betragen, da-
nach maximal 12Rappen. Der Natio-
nalrat wollte den Deckel bei 8Rappen
festlegen. Die Gelder sollen laut Urek
nicht nur in erneuerbareTreibstoffe,
sondern auch in die Elektromobilität
fliessen. So sei derAusbau derLade-
Infrastruktur zu fördern.

Optimistische FDP-Präsidentin


Im Unterschied zur gescheitertenVor-
lage im Nationalrat will die Ständerats-
kommission ein Inland-Reduktionsziel
im Gesetz verankern.Von der bis 2030
ange strebten Halbierung derTreibhaus-
gasemissionen gegenüber1990 sollen
mindestens 60Prozentim Inland ge-
lei stet werden. Laut Eberlewird die
Kommission darüber am 2. September
nochmals diskutieren.Weil es Forderun-
gen sowohl für ein höheres als auch ein
tieferes Inlandziel gibt, ist nichtausg e-
schlossen, dass die 60 Prozent bestehen
bleiben. An dieser Sitzung wird die
Urek auch die Gesamtabstimmungvor-
nehmen. Die Debatte im Ständerat ist
dann für die letzteWoche der Herbst-
session geplant.
Kurz vor denWahlen und unter
dem Eindruck der Klimademonstratio-
nen dürfte der Ständerat denVorschlä-
gen seinerKommission in dengros sen
Linien folgen. Zum eigentlichenTest
für das CO 2 -Gesetzkommt es im nächs-
ten Frühling im Nationalrat. Entschei-
dend wird die Haltung der FDP sein.
Sie könne der Diskussion in derFrak-
tion nicht vorgreifen, sagt FDP-Präsi-
dentinPetra Gössi: «Ich bin aber über-
zeugt, dass dieFraktion dem Beschluss
der Delegierten folgen wird.» Die von
der Kommission beschlossenen Mass-
nahmen deckten sich in vielen Punkten
mit denForderungen der FDP-Dele-
gierten. Ein abtretender FDP-Stände-
rat warnte jüngst davor, die Klimafrage
nach denWahlen weniger ernst zu neh-
men. Die nächsten kantonalenWahlen
würdenschon bald fo lgen.
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