Neue Zürcher Zeitung - 17.08.2019

(Barry) #1

Samsta g, 17. Au gust 2019 SCHWEIZ


verständnisse ausräumen. Oder rein
sprachliche. EinPaar aus Israel spricht
nur Hebräisch,Daniel übersetzt. Der
Mann will Fallschirmspringen gehen
und hat das entsprechende Inserat mit-
gebracht, dieFrau interessiert sich für
den Seilpark.DankDaniel lassen sich
alleFragen klären, dasPaar ist froh
darum. Der «Likratino» verhindert,
was laut SIG-Generalsekretär Kreutner
in solchen Situationen passieren kann:
Die Einheimischen wollen blosskom-
munizieren, dass eine Aktivität wieFall-
schirmspringen dann möglich ist, wenn
man die Erklärungen und Anweisun-
gen des Instruktorsversteht. Die from-
men Gäste verstehen dies jedoch fälsch-
licherweise als Ablehnung, sie wittern
Antisemitismus: Liegt es an unserer
Religion, an unserer Kleidung?
Ein grossgewachsenerJude aus den
USA erzähltDaniel, erkomme schon
lange im Sommer nachDavos. Er sage
denEinheimischen stets «Grüezi», wiees
auch die Broschüre empfiehlt.«Vor fünf
Jahren haben sie zurückgegrüsst, doch
dasist immer seltenerderFall.Viel-
leicht haben sie negative Erfahrungen
mitJuden gemacht und sind nunreser-
vierter geworden. Ich habe nun auch
immer weniger Lust, ‹Grüezi› zu sagen.»


Ein Hotel mitlangerTraditi on


Kreutner und der «Likratino»Daniel
fahren zu dem Ort, wo vor hundertJah-
ren alles begann.Das einstige Hotel
Etaniasteht an einem Hang über dem
Zentrum vonDavos. Im Sommer 1919
wurde hier das Sanatorium fürTuber-
kulose eröffnet.Finanziertvom «Hilfs-
verein für unbemittelte jüdische Lun-
genkranke»,den vermögende Zürcher
Juden gegründet hatten. Das «Etania» –


hebräisch für Kraft – legte den Grund-
stein für diePopularität vonDavos bei
jüdischen Besuchern. Doch es hat seine
besten Zeiten hinter sich.Tuberkulose-
patienten aus dem Unterlandkommen
schon lange nicht mehr zumKuren in
die Höhe, dafür streng orthodoxe Gross-
familien sowie Kinder aus Israel mit
Hauterkrankungen, denen die Bergluft
vorübergehend Linderung verschafft.
Vor derTüredes «Etania» steht ein
Kinderwagen, in demFotos von bärtigen
Rabbisoffenbar dasBaby beschützen
sollen.Durch dierenovationsbedürfti-
gen Gänge und dasTr eppenhaus hallt
Kindergeschrei, der alte Speisesaal ist
zu einem Spielzimmer umfunktioniert
worden. Die kleineSynagoge hingegen
ist gerade verwaist. DerVerwalter des
Gebäudes zeigt höfliches Interesse für
die Heftchen der SIG-Leute, doch es sei
etwas hektisch, weil eineReisegruppe
aus England am Eintreffen sei. «Kom-
men Sie doch morgen wieder.»
An derTalstation derJa kobshorn-
bahn überreichtDaniel die zweite, von
denVerbänden Hotelleriesuisse und
Schweiz Tourismus herausgegebene
Broschüre denFrauen hinter dem Schal-
ter. Sie soll dasVerständnis für dasVer-
halten strenggläubigerJuden fördern,
das säkularisierten Zeitgenossen oft-
mals wunderlich erscheint. So erklärt die
Broschüre, weshalb die streng orthodo-
xen Gästekeine funktionale Outdoor-
kleidungtragen.Und wieso sie zwischen
Freitag- und Samstagabend im Hotel das
Licht brennen lassen undkeinen Lift be-
nützen: Es liegt an den Schabbatregeln.
Sie gibt auchTipps. SokönnenWirte
ein paar abgepackte,koscher produ-
zierte Snacks oder Glacen ins Angebot
aufnehmen. OderVermieter vonWoh-
nungen sollen einwöchige Mietperioden

ab Sonntag anbieten statt wie üblich ab
Samstag, da frommeJuden dann nicht
anreisen dürfen.

Nun sagen alle «Grüezi»


Tourismusdirektor Branschi ist dankbar
für dieVerständigungsoffensive. Der
Sommer 20 18 sei für ihn eine harte Zeit
gewesen, erzählt er amTelefon, manche
hätten ihm Antisemitismus vorgeworfen.
«Doch es geht umAnstand undRespekt
gegenüber dem Gastland:Wenn meine
Partnerin und ich im arabischenRaum
Ferien machen, passen wir uns ja auch
an, trägt sie selbstverständlich einKopf-
tuch.»Dass esJuden wieDaniel sind,
welche die hiesigen Gepflogenheiten er-
klären,komme bei den streng orthodo-
xen Gästen aus demAusland «extrem»
gut an. Und es zeige bereitsin deners-
tenTagenWirkung: «Ich höre von allen
Seiten, die jüdischen Gäste würden nun
‹Grüezi› sagen, wow!»
Dass sich die Aufklärungskampa-
gne nicht nur einseitig an die jüdischen
Gäste richtet, sondern auch an dieVer-
treter derTourismusbranche, besänf-
tigt manche Kritiker aus denReihender
streng Orthodoxen. Aber nicht alle. Der
Wiener vomFussgängerstreifen ist über-
zeugt: Die für nächstesJahr angekündigte
Änderung, dass sich Bergbahnen im Som-
mer mit der Gästekartenicht mehr gratis
benützen lassen, sei gegen dieJuden ge-
richtet – wasTourismusdirektor Branschi
jedoch glaubhaft bestreitet. Doch warum
begibt sich der tiefreligiöse MannJahr für
Jahr in ein Umfeld, das er offenbar als
feindselig wahrnimmt? Es sei ihm eben
egal, was die Einheimischenvon ihm und
seinen Glaubensgenossen hielten, ant-
wortet er. «Wenn dieKuh auf derWiese
muht, kümmert mich das auch nicht.»

Die Popularität der BündnerBerge beiFamilien aus Israel gründet auf der einstigen jüdischen Lungenheilstätte «Etania». Parlamentarier streiten


über Sozialhi lfedaten


Das revidier te Datenschutzgesetz droht abzustürzen


DANIEL GERNY

Nur einpaarFreaks hatten einen Internet-
anschluss, als das geltendeDatenschutz-
gesetz1993 inKraft trat. Smartphones und
WLAN waren unbekannt, und dieVernet-
zung unterschiedlichsterDatenbanken lag
noch in weiterFerne. Das veranschaulicht,
wie veraltet das geltendeDatenschutz-
gesetz inzwischen ist. Nun wird esrevi-
diert. Um beim Schengener Abkommen
nicht ins Hintertreffen zu geraten, wurden
gewisse Anpassungen zwar schon vorge-
nommen. Die grossen und umstrittenen
Brocken aber behandelt der Nationalrat
in derkommenden Herbstsession.

Stichentscheiddes Präsidenten


Doch obwohl alle wissen,wiegross der
Nachholbedarf und der Zeitdruck beim
Datenschutz sind, droht das Gesetz ab-
zustürzen. Die StaatspolitischeKommis-
sion des Nationalrats schaffte es nur ge-
rade um Haaresbreite, dieVorlage über-
haupt ins Plenum zu bringen. Drei Grup-
penstanden sich gegenüber.Die SVPist
unzufrieden,weildieVorlage für die
kleinen und mittlerenFirmen derBin-
nenwirtschaft zur Belastung werde.SP,
Grüne und GLP beklagen sich, dassdie
Kommission dieVorlage so starkausge-
höhlt habe, dass die Bürger nicht mehr
genügend geschützt seien. Einzig die
Mitteparteien FDP, CVP und BDP hal-
ten die Vorlage für ausgewogen. Folge:
In der Gesamtabstimmung überlebte das
Gesetz nur dank dem Stichentscheid des
Präsidenten, wie es in einer Medienmit-
teilung heisst.Auf diegrosse Kammer

kommt im Herbst deshalb ein Seilziehen
mit offenemAusgang zu.
Gestritten wird zum Beispiel über
dieFrage, obDaten zu Sozialhilfemass-
nahmen wie heute als «besonders schüt-
zenswert» klassifiziert werden sollen.
SolcheDaten dürfen nur unterstrengen
Voraussetzungen gesammelt, bearbeitet
und weitergegeben werden. So müssen
die Betroffenen stets informiert werden,
undes braucht eine gesetzliche Grund-
lage für eineDatenbank. Die bürger-
licheKommissionsmehrheit hält es für
falsch, Sozialhilfedaten weiterhin beson-
ders zu schützen: Es sei im Interesse von
Vertragspartnern, Anbietern oder der
Öffentlichkeit, zu wissen, ob einePerson
Sozialhilfe beziehe. AuchDaten überge-
werkschaftliche Tätigkeiten sollen nicht
mehr besonders schützenswert sein.Da-
gegen läuft die Linke Sturm.

Recht auf eigene Daten


Auf der anderen Seite soll einRecht auf
Datenportabilitäteingeführt werden. Das
bedeutet, dass jedermann seineDaten in
einem herkömmlichenFormat verlan-
gen kann – zum Beispiel von einem On-
linehändler. Fachleute sprechen in die-
sem Zusammenhang von einemPara-
digmenwechsel: Neu werden persön-
licheDaten nämlich nicht nur geschützt,
sondernDatenbearbeiter müssen Hand
bieten, wenn die betroffenePerson diese
Daten ebenfalls nutzen oder einem ande-
renAnbieter überlassen will. Doch auch
hier gibt es unterschiedlicheAuffassun-
gen – zum Beispiel, wie weit dasRecht
aufDatenportabilität gehen soll.

BUNDESGERICHT

Gefangene dürfen


Verdienst behalten


Beschlagnahmung für Verfahrenskosten ist unzulässig


KATHRIN ALDER

4000 Franken wollte der Mann an Dritte
übergeben.Was ausserhalb von Gefäng-
nismauern eine alltäglicheVerrichtung
ist, erweist sich dahinter jedoch alskom-
pliziert: Der Mann befindet sich im vor-
zeitigen Strafvollzug. ImJuli 20 18 ver-
urteilte ihn das KantonsgerichtNid-
walden wegen versuchter vorsätzlicher
Tötung zu neunJahrenFreiheitsstrafe.
Gegen dieses Urteil ging der Mann
in Berufung,nun ist dasVerfahren beim
NidwaldnerObergericht hängig.Bezüg-
lich der Geldübergabe stellen sich da-
her folgendeFragen:Darf jemand, der
im Gefängnis sitzt, überhaupt Geld an
Dritte übergeben? Und was, wenn das
Verfahren noch nicht beendet ist und
weitereKosten verursachen wird, so wie
imkonkretenFall?Dürfen die Behör-
den das Geld dann beschlagnahmen?

Pflicht zurArbeitim Gefängnis


Das Bundesgericht schickte sich jüngst an,
dieseFragen zu beantworten.Klipp und
klar hält es fest: Einen Gefängnisverdienst
dürfen die Behörden nicht beschlagnah-
men.Und bei den 40 00 Frankenhandelt
es sich genau um einen solchenVerdienst.
Gestützt auf das Strafgesetzbuch, sind
Gefangene zur Arbeit verpflichtet.Das
gilt auch für Strafgefangene im vorzeiti-
gen Strafvollzug.Auch der Mann musste
arbeiten und erhielt dafürregelmässig
ein Entgelt, das ihm auf ein Sperrkonto
überwiesen wurde. Die Gefängnisleitung
stellte schliesslich die 40 00 Frankenbe-
reit, in der Absicht, diese dem Mann bar
auszuzahlen. Am 31.Januar 20 19 wollte er
das Geld an Dritte übergeben. Am selben
Tag erging jedoch eineVerfügung: Der
Präsident der Strafabteilung des Nidwald-

ner Obergerichts beschlagnahmte die
4000 Franken, zur Sicherstellung vonVer-
fahrenskosten. Er forderte die Gefängnis-
leitung auf, das Geld bis zur Übergabe an
die Kantonspolizei zu verwahren. Die
Kantonspolizei wies er an,den beschlag-
nahmten Betrag zu sichern und bei der
Gerichtskasse Nidwalden zu hinterlegen.
Der inhaftierte Mann wehrte sich aller-
dings gegen die Beschlagnahmung und
gelangte mit Beschwerde in Strafsachen
an das Bundesgericht.

Motivation nicht gefährden


Die Richter in Lausanne verweisen
in ihrer Begründung zunächst auf das
Schuldbetreibungs- undKonkursgesetz.
Demnach gibt esVermögenswerte,die
nicht gepfändet werden dürfen. Unpfänd-
bareVermögenswerte wiederum dürfen
auch nicht beschlagnahmt werden. Zu-
dem hält das Strafgesetzbuch fest, dass
das Entgelt für Arbeiten im Gefängnis
«weder gepfändet noch mitArrest belegt
noch in eineKonkursmasse einbezogen
werden» darf. Das bedeutet: Arbeitsent-
gelt darf nicht beschlagnahmt werden.
Diese Unpfändbarkeit des Arbeits-
entgelts ergebe durchaus Sinn, argu-
mentiert das Bundesgericht. Die meis-
ten Strafgefangenenseienüberschul-
det.Wäredas Arbeitsentgeltpfändbar,
würde das ihre Arbeitsmotivation be-
einträchtigen und damit auch die Sicher-
heit im Strafvollzug, hält es weiter fest.
Zudemkönnten die Gefangenen für
die Zeit nach der Entlassung nicht spa-
ren, was derResozialisierung abträglich
wäre. Abschliessend hiess das Bundes-
gericht die Beschwerde des Mannes gut.

Urteil 1B_82/2019 des Bundesgerichtsvom
30 .7.19.
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