Neue Zürcher Zeitung - 17.08.2019

(Barry) #1

Samsta g, 17. Au gust 2019 ZÜRICH UND REGION 17


Die 35Zürcher Nationalrätinnenund Nationalräte


auf dem Prüfstand –eineBilanzder NZZ SEITE 18, 19


Der Kunsthaus-Neubaupräsentiert sich


seit ein paar Tagen ohneBauabschrankungen SEITE 21


ZÜRICH, 2000 METER ÜBER MEER


Einst unerwünscht, heute eine Zielgruppe


Mehrere SAC-Hütten wenden sich heute speziell an junge Familien mit Kindern – zum Beispiel die Sewenhütte der Sektion Pfannenstiel


Früher mussten sich Kinder in


Alpenclub-Hütten verstecken.


Heute werden sie in der


Sewenhütte mit Holundersirup


empfangen – ein Besuch


im Meiental.


RETOFLURY


Der Schnappkarabiner klickt. Bereit?
Der HüttenwartWalti Gehrig hebt das
gespannte Stahlseil ein bisschen an,
und schon nimmt der BubFahrt auf.
Im Klettergurt und an einerRolle hän-
gend,saust er überWiesen und einen
schmalen Graben zum anderen Ende
der Tyrolienne, wie solche Seilrutschen
genannt werden. Dor t nimmt ihn sein
Vater in Empfang,hängt ihn aus,und
der Sohn eilt stracks zurück zum Start.
Vier drei- bis sechsjährige Kinder aus
zweiFamilienrauschen an diesem Sams-
tagmorgen imJuli das Seil hinunter,
über eine halbe Stunde lang. Entspre-
chend gross sind die Enttäuschung und
das Wehklagen, als die Eltern beschlies-
sen, dass jetzt genug sei, und das Mate-
rial in der Sewenhütte zurückgeben.


Süssigkeiten beschwichtigen


Die Sewenhütte steht auf einem brei-
ten Bergrücken hoch über der Susten-
passstrasse. Sie gehört derSAC-Sek-
tion Pfannenstiel und gilt als besonders
kinder- und familienfreundlich.Warum
das so ist, merken wir, der Schreibende
und sein fünfjähriger Sohn,schon nach
wenigen Minuten auf dem Hüttenweg.
Hinter einer der erstenKehren lugt
ein Holzzwerg hervor. Es ist einer von
mehr als zweiDutzend, die den teil-
weise steilenWeg säumen und zum
Weitergehen animieren sollen.Weil
dies bei uns leider nur bedingt wirkt,
kommen auch traditionelle Motiva-
tionstricks – Belohnungen, Geschich-
ten – zum Einsatz.
Doch nach der Ankunft ist all das
Leiden wie weggeblasen.Kein Wunder,
denn bei der Sewenhütte befinden sich
neben einem kleinen Sandkasten auch
eine Slackline und zwei Schaukeln. Als
die Hüttenwartin Ursi Gehrig zur Be-
grüssung auch noch ein Glas Holunder-
sirup bringt,hat der kleine Berggänger
schon vergessen, dass ihm unterwegs
eineFanta versprochen worden war.
Auch drinnen sind die Gastgeber
auf eine jungeKundschaft vorberei-
tet. Die Gummifinken für die Schlaf-
räume sind in Minigrössen vorhanden.
Im Speisesaalstehen mehrereKin-
derstühle bereit, für die Abende oder
bei Regenwetter warten Malstifte und
Papier sowie neben einigenJass-Sets
auch viele andere Spiele. Zum Mor-
genessen gibt es Cornflakes und Scho-
koladenaufstrich aus dem XXL-Glas.
Die erste Hütte ist Anfang der sieb-
zigerJahre auf Seewenstöss erbaut
worden, etwas oberhalb des jetzigen


Standorts. Doch schon nach kurzer
Zeit wurdesie von einerLawine zer-
stört.Wenig später wurde die heutige
Hütte aufgebaut. Seit zwölfJahren wird
sie im Sommer vonWalti und Ursi Geh-
rig bewartet. Er ist Bergführer, der vor
allem imWinter Skitouren führt, sie ist
ausgebildete Primarlehrerin.
SeinenWohnsitz hat dasPaar in Isen-
thal oberhalb des Urnersees. Der ver-
hältnismässig kurzeWeg zwischen dem
Meiental und dem Zuhause erlaubt es,
dass ihnenVerwandte zur Hand gehen
und dass sie die Hütte quasi alsFami-
lienbetrieb führen können. AlsAushil-
fen steigen manchmal zum Beispielihre
erwachsenenTöchter hoch, die immer
noch einen Grossteil ihrer Sommer-
ferien im Meiental verbringen. Ein Um-
stand, der vor wenigen Jahrzehnten
kaum denkbar gewesen wäre. Kinder
waren in der Höhe nicht gern gesehen.
Wie Ursi Gehrig erzählt, musste sich
ein inzwischen pensionierterWart einer

anderen Hütte als Kind jeweils imKel-
ler verstecken, wenn dieVertreterder
SAC-Sektion zurKontrolle kamen.

Bergferien zumPauschalpreis


Doch nicht nur der Nachwuchs des
Hüttenpersonals ist heute willkomme-
ner, sondern auch derjenige derSAC-
Mitglieder und der anderen Gäste. Die
aktive Bearbeitung der Zielgruppe
Familien habe Ende der neunziger
Jahre begonnen, schreibt Bruno Lüthi,
der beimSAC den Bereich Hüttenbe-
trieb leitet, auf Anfrage. Damals be-
schloss der Alpenclub,die Familienmit-
gliedschaft einzuführen.
Wenig später brachte derSAC mit
einem Krankenversicherer eine Bro-
schüre mit zwanzig Hütten heraus, deren
Besuch sich fürFamilienbesonders an-
bietet. Sie sind in höchstens drei Stunden
erreichbar, der Zustieg ist leicht (Stufe
2 von 6 auf derSAC-Bergwanderskala),

und in der Umgebung der Hütte lauern
keine Gefahren.In diesem Frühjahr er-
schien im Eigenverlag ein Buch mit über
41 familienfreundlichen Hütten,in d em
auch die Sewenhütte verzeichnet ist.
LetztesJahr ging derSAC mit sei-
ner Werbeoffensive noch einen Schritt
weiter:Fünf – seit dieser Saison zehn


  • Hütten bieten eineWoche Pauschal-
    ferien fürFamilien an. Im Preis inbe-
    griffen sind vier Übernachtungen, Halb-
    pension und Lunch, eine geführteTour
    oderWanderung sowie ein betreutes
    Kinderprogramm. Die Zahl Hütten-
    übernachtungen vonFamilien, lässtsich
    aus derStatistik nicht herausfiltern.Laut
    SAC-Hüttenchef Lüthi bewegte sich der
    Anteil von Kindern undJugendlichen
    im letztenJahrzehnt jeweils im Bereich
    von 13 bis15 Prozent. Insgesamt wurden
    jeweils zwischen 301000 und 359 000
    Übernachtungenregistriert.
    Die Sewenhütte war unter den ersten,
    die familienfreundlich ausgerichtet wur-


den. Angefangen hatten schon dieVor-
gänger der heutigen Hüttenwarte. Der
eine liess einRuderboot in den nahen
Bergsee setzen und richtete verschiedene
einfache Kletterrouten vor der Hütte ein,
ein anderer baute die Seilrutsche.
Auch in der Hütte selber macht sich
der Wandel bemerkbar. Bei der Sanie-
rung 2006 wurden die Schlafzimmer
verkleinert. Statt Massenschläge gibt es
jetzt Zimmer mit sechs bis acht Matrat-
zen. DieVerkleinerung entspricht zwar
einem allgemeinenTrend, vor allem der
Bergwanderhütten. Doch speziellFami-
lien äusserten oft denWunsch nach
einem eigenen Zimmer, sagt Walti Geh-
ri g. Sei es, um angesichts des knappen
Platzes in der Hütte einenRückzugsort
zu haben, sei es aus Sorge, andere Gäste
zu belästigen.
Manchmal ist es jedoch nicht ein-
fach, dem zu entsprechen. Denn wenn
die Kinder zur Schule gehen,können sie
nur in denFerien oder anWochenenden
anreisen – wenn die Hütten ohnehin
gut ausgelastet sind.Ausserdem seien

Buchungen vonFamilienrelativ vola-
til, sagt Gehrig.Werde plötzlich verän-
derlichesWetter vorhergesagt, sinke die
Bereitschaft der Eltern, mit den Kindern
in die Berge zu steigen, ziemlich schnell.
Auch darum wollen sich die Hüt-
tenwarte nicht nur anFamilien rich-
ten, sondern auch an die traditionelle
Kundschaft ausWanderern, Sportklet-
terern und Hochtourengängern. Geh-
rig hat mitvers chiedenen Massnahmen
die Gegend attraktiver für geführte
Gruppen gemacht, zum Beispiel in-
dem er mehrere neue, einfache Kletter-
routen mit Bohrhaken absicherte. Da-
her empfangen er und seineFrau heute
vermehrtKurse von Bergsteigerschu-
len oderJugend+Sport sowie Schul-
klassen, die mit einem Bergführer eine
Sportwoche hier oben verbringen. Dies
hilft derAuslastung:Früher wurden Be-
legungszahlen im dreistelligen Bereich
ve rzeichnet; im vergangenenJahr waren
es über 4000 Übernachtungen.
Selbstverständlich haben nicht alle
Besucher zu einem Malstift gegrif-
fen oderim Sandkasten gespielt. Doch
mancher dürfte sich auf der Slackline
versucht oder auf die Schaukel gesetzt
haben.Viele werden sich zudem auf
dem Abstieg wieder an den Zwergen
erfreut haben.Auch rückwärts zählen
kann einem denWeg erleichtern, wie
wir festgestellt haben.Vor allem, wenn
man noch kurze Beine hat.

2,5 Kilometer NZZ Visuals/cke.

Sewenhütte

Sustenstrasse

Wassen

Färnigen

Dörfli

Die Sewenhütte liegt auf einem UrnerBergrücken hochüber der Sustenpassstrasse.

Unweit der SAC-Hütte breitet sichein See mit einem Ruderboot für kleineAusflüge aus. BILDER JOËL HUNN / NZZ

DieVe rkleinerung der
Schlafzimmer entspricht
einem allgemeinen
Trend,vor allem bei
den Bergwanderhütten.

ZÜRICH,
2000 METER ÜBER MEER
Der Schweizer Alpenclub (SAC) unterhält
ein Netzvon 153 Hütten, die ursprünglich
Unterkunft fürBergsteigerwaren,ver-
mehrt aber auchAusflugszielvon Wande-
rern undFamilien sind.Wir haben ein
paar dieser Hütten besucht, die entweder
einer der elf ZürcherSAC-Sektionen ge-
hören odervon Zürcher Hüttenwarten be-
treutwerden. In der nächstenFolge be-
richten wir über die Martinsmadhütte,wo
ein Zürcher Hüttenwart ausserordentlich
gute Menuskocht.

nzz.ch/zuerich
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