Neue Zürcher Zeitung - 17.08.2019

(Barry) #1

Samstag, 17. August 2019 INTERNATIONAL 3


Kommentar


Österreich muss


alte Unsitten


loswerden


MATTHIAS BENZ, WIEN

Als dieAustrian Airlines noch staat-
lich waren, musste der Co-Pilot von der
ÖVP sein, wenn der Pilot das SPÖ-Par-
teibuch hatte. Ihr Vater habe dieAUA
deshalb einst in RichtungJordanien ver-
lassen, bekannte die österreichische Ex-
Aussenministerin Karin Kneissl dieser
Tage auf demKurznachrichtendienst
Twitter. «Denn inJordanien musste man
nur ein guter Pilot sein.» Ganz so ext-
rem ist der parteipolitischePostenscha-
cher in der staatlichenVerwaltung und
in den staatsnahen Betrieben heute in
Österreich nicht mehr. Dennoch holter
jetzt dieRepublik wieder ein.
Die Ibiza-Affäre hat mit den Haus-
durchsuchungen bei Ex-Vizekanzler
Strache und anderen FPÖ-Exponenten
eine unappetitlicheWeiterung erfahren.
Es geht umPostenschacher bei der Be-
setzung des Managements der teilstaat-
lichen CasinosAustria.Dass die vor-
maligenRegierungspartner FPÖ und
ÖVP ihre jeweiligen Kandidaten durch-
drückten, gehört so weit zur österreichi-
schen Normalität. Aberdazu wardie
Unterstützung des Mitaktionärs Novo-
matic – des anderen grossen österrei-
chischen Glücksspiel-Konzerns – nö-
tig. Nun hatte Strache im Ibiza-Video
behauptet,dass die FPÖ von Novoma-
tic grosszügigeParteispenden erhalte.
Die Justiz geht jetzt demVerdacht der
Käuflichkeit nach: Hat sich die FPÖ bei
Novomatic für das mutmasslicheWohl-

wollen inPersonal- und Geldfragen er-
kenntlich gezeigt, indem sie sich für
das Unternehmen bei derVergabe von
Glücksspiel-Lizenzen einzusetzen ver-
sprach?
Beide Seiten bestreiten das vehe-
ment. AberTatsache ist, dassPosten-
schacher und Klüngeleien seit langem
zur politischen Unkultur Österreichs
gehören. In der Nachkriegszeit wurde
dies ganz offen praktiziert: Die rote SPÖ
und dieschwarze ÖVP teilten nicht nur
Staatsstellen, sondern auch diePosten in
den vielenStaatsbetrieben fein säuber-
lich untereinander auf.Seither hat unbe-
streitbar eine Professionalisierung statt-
gefunden.Aber Österreich ist insgesamt
Österreich geblieben.Wie seit je werden
auch heute noch die Hälfte der Manage-
mentpositionen in staatsnahen Unter-
nehmen anPersonen mit klarerPar-
teibindung vergeben. Und die jüngste
ÖVP-FPÖ-Regierung hat in manchen
Fällen gezeigt, dass ihr dabei dieKom-
petenz der Kandidaten egal ist.
Wenn sich die politischeKultur nicht
ändern lässt, müssen sich die Struktu-
ren ändern. Es gibt in Österreich immer
noch einen beachtlichen Sektor an zu-
mindest teilstaatlichen Unternehmen,
die derPolitik als beliebte Spielwiese
dienen.Die CasinosAustria geben dafür
ein Beispielab. Der Staat spielt sowohl
als Eigentümer wie alsRegulator mit.
Es verwundert deshalb nicht, dass etwa
die Vergabe von Glücksspiel-Lizenzen
häufigzum Zankapfel wird. Die Bran-
che gilt alsTummelfeld für politischen
Lobbyismus.
DemFilz und dem Schachern in
Österreich gehört der Nährboden ent-
zogen.Für Staatseigentuman den Casi-
nos, an derTelekom, an Stromfirmen
und an vielen weiteren Unternehmen
gibt es längstkeine wirtschaftliche Be-
rechtigung mehr. Der Staat sollte sich
deshalb endlich zurückziehen. Sonst
werden alte Unsitten Österreich immer
wieder einholen.

Tatsache ist,
dass Postenschacher
und Klüngeleien
seit langem zur
politischen Unkultur
Österreichs gehören.

Abstreiten, ablenken, angreifen


Österreichs Politiker suchen den Tritt im Wahlkampf – und wirken dabei gehässig und unsouverän


IVO MIJNSSEN, WIEN


Wann kommt die nächste Enthüllung?
Diese Frage hält Österreichs Politi-
ker seit Monaten aufTrab.Am Diens-
tag kam wiedereinmal eine Antwort,
als bekanntwurde, dass dieWirtschafts-
und Korruptionsstaatsanwaltschaft
(WKStA) unter anderem bei Heinz-
Christian Strache und seinemVertrau-
ten Johann GudenusRazziendurch-
geführt hatte. Beide spielten im Ibiza-Vi-
deo die Hauptrolle und sind inzwischen
zurückgetreten.Obschon die Ermittlun-
gen der Geheimhaltung unterliegen, ge-
langten Details tröpfchenweise an die
Medien. DieVorwürfe sind happig.
So ermittelt die WKStA wegen Be-
stechlichkeit und Bestechung im Zu-
sammenhang mit der Besetzung eines
Vorstandspostens bei der teilstaatlichen
CasinosAustriaAG. Um den Kandi-
daten derFreiheitlichen (FPÖ) trotz
fehlender fachlicher Eignungdurch-
zudrücken, soll Strache einer weite-
ren Teileigentümerin von CasinosAus-
tria politisches Entgegenkommen im
Glücksspielbereich inAussicht gestellt
haben. Diese politische Priorität hatte
er bereits im Ibiza-Video geäussert, was
diesem zusätzliche Brisanz verleiht; die
FPÖ hatte dieAussagen stets alsreali-
tätsferne Prahlerei bezeichnet.
Am Mittwoch erklärte der Justiz-
minister in der Beantwortung zweier
parlamentarischer Anfragen, die Be-
hörden prüften dieAufnahme von Er-
mittlungen in19 Anklagepunkten im
Zusammenhang mit demIbiza-Video.
Diesereichen von Steuerhinterziehung
über Drogendelikte bis zur Gründung
einer «staatsfeindlichenVerbindung».
Zudem werde ein Zusammenhang zwi-
schen dem Schreddern vonFestplatten
durch einen Mitarbeiter vonÖVP-Kanz-
ler Kurz und dem Ibiza-Video geprüft.


Schwierige Distanzierung


Die Hauptakteure haben nervös re-
agiert.Die FPÖ versucht,sich zu distan-
zieren,indem sie betont, die Ermittlun-
gen richteten sich nur gegen Privatper-
sonen ohneParteiamt.Da Strache aber
im Wahlkampf ein wichtiges Zugpferd
bleibt,verbreiten auch die Freiheitlichen
dessenVerschwörungstheorien.Kanzler
Kurz werfen sie «eiskalteMachtpolitik»
vor. Gleichzeitig wiederholt man ge-
betsmühlenartig dieBereitschaft,erneut
eine Koalition zu bilden.
Die Sozialdemokraten sehen sich
durch die Ermittlungen bereits in all
ihrenVorurteilen bestätigt, obschon


nichts bewiesen ist.«Die Ibiza-Koalition
ist das Sinnbild für gekaufte und tiefkor-
ruptePolitik geworden», polterte etwa
der Bundesgeschäftsführer Thomas
Drozda. Die Opposition fordertAufklä-
rung darüber, inwieweit dieÖVP an den
Hinterzimmerdeals bei derPostenbeset-
zung beteiligt war.
Tatsächlich sind solche Ernennun-
gen in derRegel koalitionsintern abge-
sprochen. Zusammen mit dem umstrit-
tenen FPÖ-Vertreter wurde im März
auch eineÖVP-Politikerin befördert.
Die politische Besetzung derFührungs-
ebenen staatsnaher Unternehmen ist ein
ebenso problematischer wie normaler
Vorgang in Österreich.Wie dieWebsite
Addendum errechnet hat, wurden seit
1995 etwa1500 Posten mit parteinahen
Personen besetzt.Dank ihrer 32-jäh-
rig en ununterbrochenenRegierungs-
beteiligung bis Mai 2019 hat dieÖVP
inzwischen gleich vieleVertreter wie die
FPÖ und die SPÖ zusammen.
Viele Österreicherreagieren deshalb
mit Schulterzucken auf die Causa Ca-
sinoAustria.Dennoch braucht es gehöri-
gen Zynismus, um die krude Machtpoli-

tik und Inkompetenz der FPÖ zu igno-
rieren. Auch in Österreich gibt es einen
Unterschied zwischen ordnungspolitisch
problematischen Näheverhältnissen und
korrupten Gegengeschäften.Wo er liegt,
muss die Untersuchung klären.
Transparenz würde auch derÖVP
gut anstehen, präsentiert sich doch
SebastianKurz als Staatsmann und Er-
neuerer. Dochgerade weil die Skandale
des ehemaligenKoalitionspartners un-
angenehm nahe an den Altkanzler
herangerückt sind,reagiert diePartei
unsouverän.WährendKurz schweigt,
bezeichnet ein Sprecher alle anderen
Parteienkollektiv als «Schmutzkübel-
Koalition».

Stilisierung als Opfer


Bedenklicherals dieseAnwürfe ist die
Drohung derÖVP, jene zu verklagen,
die eineVerbindung zwischen Ibiza und
der Schredderaffäre im Kanzleramt her-
stellten.Das irritiert, ist es doch die ur-
eigeneAufgabe derJustiz, Verdachts-
momente zu prüfen und zu untersuchen.
Beweise zu finden, dürfte der WKStA

dabei schwerfallen.Auch die Indizien-
lage und dierechtlicheBasis derVor-
würfe gegen Strache sind laut Experten
eher dünn. Zudem hat die2011 gegrün-
dete WKStA in verschiedenenVerfah-
ren keine guteFigur gemacht.
Die Regierungsparteien trugen oft
wenig zur Klärung bei, und in denWahl-
kampfmodus passt eine differenziert-
selbstkritische Haltung noch weniger –
zumal niemand weiss, welche Enthüllun-
gen nochkommen.Abstreiten, able nken
und angreifen ist ein deutlich beliebte-
res Rezept, nicht nur für dieÖVP. Dazu
kommt die Selbststilisierung als Opfer
der Machenschaften der Gegner.
Glaubwürdig ist es nicht, wenn der
starke Mann und Initiator derÖVP-
FPÖ-Regierung denVorgeführten mimt.
Taktisch geschickt vielleicht schon. So
hält sichKurz Optionen offen, und in
den Umfragen führt er sowieso haus-
hoch. Letzteres bedeutet offensichtlich,
dass dieMobilisierung der möglicher-
weise zu siegessicherenWähler zur
wichtigstenAufgabesein er Kampagne
wird.Dass darob dasVertrauen in die
Politik leidet, nimmt man hin.

SebastianKurz wirdwohl zurückandie Macht gelangen, dochihm stehtein unruhigerWahlkampf bevor. STEFAN WERMUTH/ BLOOMBERG

Indien lockert den Schraubstock nur zögerlich


Die Regierung will di e Bl ockade in Kaschmir angeblich in den näch sten Tagen aufheben


SAMUEL MISTELI


Umrahmt vonJasminblüten und einer
riesigen Flagge hat der indische Pre-
mierminister Narendra Modi diese
Woche seineRede zum Unabhängig-
keitstag gehalten. Es ging um Kaschmir,
die Region, der dieRegierungam 5. Au-
gust dieTeilautonomie entzogen hat.
Die Aufhebung des Sonderstatus werde
Kaschmir zu «vergangener Grösse» zu-
rückführen, sagte Modi.
Auch in Kaschmir wurde am Don-
nerstag der Unabhängigkeitstag began-
gen. Drohnen und Helikopter kreis-
ten über Srinagar, der Hauptstadt des
Kas chmirtals, während dervon Delhi
eingesetzte Gouverneur in einem mili-
tärisch gesichert en Stadion die Ehren-
garde inspizierte.In de n Strassen ausser-
halb des Stadionsherrschte Stille. Diese
ist eingekehrt, seit dieRegierung ein
Versammlungsverbot verfügt hat. Der
Freitagwar der zwölfteTag einer Blo-
ckade, die wenige Stunden vor derAuf-
hebungdes Sonderstatus verhängt wor-
den war. Internet, Mobilfunk undFest-
netzverbindungen sind unterbrochen,
Schulen und Geschäfte sind geschlossen.


In den vergangenenTagen ist es
laut Medienberichten immer wieder zu
spontanen Protesten gekommen, bei
denen Demonstranten die Sicherheits-
kräft emit Steinen bewarfen. Hunderte
von Personen wurden verhaftet.Fest-
gehalten werden auch fast 400Politiker
und Parteimitarbeiter, unterihnen zwei
ehemaligeRegierungschefs Kaschmirs.

Regierungsbüros geöffnet


Die indischeRegierung hat angekün-
digt, die Einschränkungen in den nächs-
ten Tagen aufzuheben. Der höchste
Beamte inJammu und Kaschmir sagte,
die Verwaltungsbüros seien amFreitag
erstmals wieder geöffnet gewesen. Der
Schulunterrichtsoll nächsteWoche wie-
der stattfinden, dieFestnetzverbindun-
gen sollen bereits über dasWochenende
wieder aufgeschaltet werden.
Die Situation in Kaschmir zeigt, wie
explosiv der Entscheid der Hindu-natio-
nalistischenRegierung in Delhi war, die
Teilautonomie zu beenden. DieRegie-
rung hobeinenSonderstatus auf,der
seit 1949 bestanden hatte. Er garan-
tierte demTeilstaatJammu und Kasch-

mir unter anderem eine eigeneVerfas-
sung und eine eigene Flagge. Für viele
Bewohner Kaschmirs ist dieAufhebung
des Sonderstatus eine Demütigung.
Die Regierung von Premierminister
Modi hat mit derAufhebung des Son-
derstatus einWahlversprechen einge-
löst. Die Beendigung derTeilautonomie
ist eine alteForderung der Hindu-Natio-
nalisten. Sie ist aber über die Hindu-
nationalistischeBasis derRegierungs-
parteiBJP hinaus populär. Weite Teile
der indischen Bevölkerung sind der
Ansicht, dass die Unruheregion Kasch-
mir endlich befriedet werden müsse. Im
Kaschmirtal führen Separatisten seit
dreiJahrzehnten einen gewaltsamen
Kampf gegen den indischen Staat.

Sicherheitsratberät Situation


Die Kritiker von Premierminister Modi
sehen im Kaschmir-Entscheid jedoch
einen Beleg für seine angeblichen anti-
demokratischen Neigungen. In den ver-
gangenenTagen haben sich zahlreiche
Intellektuelle zuWort gemeldet, die
den Entscheid harsch kritisierten. Die
Schriftstellerin ArundhatiRoy schrieb

in der «New York Times», die Regie-
rung habe die «gefährlichste Karte»
von allen gespielt. Sie habe ein bren-
nendes Streichholz in ein Pulverfass ge-
worfen. Der prominente HistorikerRa-
machandra Guha bezeichnete Indien in
der «WashingtonPost» als nur noch eine
«40:60-Demokratie».
Pakistan, Nachbar und Erzfeind
Indiens, hat heftig gegen dieAufhebung
des Sonderstatus protestiert.Das mus-
limischeLand beansprucht Kaschmir
für sich.Laut der pakistanischenRegie-
rung ist es in den vergangenenTagen
zu Feuergefechtenan d er Demarka-
tionslinie in Kaschmir gekommen.Da-
bei seien vier pakistanische Soldaten ge-
tötet worden. Die pakistanische Armee
habe im Gegenzug fünf indische Solda-
ten getötet. Indien bestritt dies.
Am Freitag hat der Uno-Sicherheits-
rat hinter verschlossenenTüren über
Kaschmir gesprochen.Laut Medien-
berichten hatte China eine entspre-
chendeForderungPakistans unterstützt.
Delhi hat die Sicherheitsratssitzung her-
untergespielt. Es handle sich dabei um
einTreffen,bei demkeine formellen Be-
schlü sse gefasst würden.
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