Neue Zürcher Zeitung - 17.08.2019

(Barry) #1

38 FEUILLETON Samstag, 17. Au gust 2019


Eine Umweltaktivistin steigt aufs Dach


und wirft Ziegel herunt er


Wer sind denn die Verrückten, und wer ist normal? Simone Lappert stellt inihrem Roman verstörende Fragen


RAINER MORITZ


Was wird mit der jungenFrau gesche-
hen, die da oben auf einem Hausdach
steht undin dieTiefe s pringt?Wie
kam sie dorthin? Eine Selbstmörde-
rin, deren Motive im Unklaren liegen?
Von der ersten Seite an lässt die 1985
geborene SimoneLappert,Absolventin
des Schweizerischen Literaturinstituts
in Biel,keinen Zweifel daran, auf wel-
ches Ereignis die gut dreihundert Sei-
ten ihres zweitenRomans zusteuern.
Von der ersten Seite an öffnet sich da-
mit ein Spannungsbogen.
Schauplatz des unerhörten Gesche-
hens istThalbach,eine Kleinstadt im
deutsch-schweizerischen Grenzgebiet,
die alles hat, was man von einer un-
spektakulären Kleinstadt erwarten darf.


Als «abgründigen Setzkasten» sieht eine
von LappertsFiguren die Gemeinde, als
ein «Sammelsurium anWut und ange-
stautenRessentiments», bewohntvon
«lauter hilflosen Erwachsenen, in deren
Gerippe sich das verletzte Kind ver-
wachsen hatte, das sie einmal gewesen
waren und das sichBahn brach, wann
immer Müdigkeit oder Überforderung
es möglich machte».


Das Verdrängte kocht hoch


Was genau es mit denThalbachern auf
sich hat,was sich hinter derFassade ihrer
Bürgerhäuser verbirgt, das entwickelt
dieAutorin nach und nach durch ein Er-
zählverfahren, das derzeit gern gewählt
wird, um einen literarischenKosmos
zu entfalten. Gut einDutzendFiguren
marschiert auf.Von Kapitel zu Kapitel
wechseln diePerspektiven,und je länger
der Roman voranschreitet, desto deut-
licher tritt hervor, was die Menschen in
Thalbach anVergangenheitsballast mit


sich herumzuschleppen haben.Die Frau
auf demDach, Manu genannt, ist es, die
das Verdrä ngte undVergessene hoch-
schwemmt und entlarvt, dass nicht nur
die Kleinstadtwelt vonThalbach fast nur
aus psychisch Beschädigten und Über-
forderten zu bestehen scheint. DieWir-
tin Roswitha, die gewissermassen den
klugen MenschenverstandThalbachs
verkö rpert,kommt zu einer ebenso
schlichten wie verstörenden Erkenntnis:
«Also wenn du mich fragst, so gesamt-
haft gesehen, ist das Nichtverrücktsein
die eigentliche Anomalie.»
Es ist derAnblick Manus, der die Be-
wohner aus ihrer Lethargiereisst und
sie zum Nachdenken oder Handeln nö-
tigt. Wasführt dieseFrau, dieDachzie-
gel auf die Strasse zu werfen beginnt,
im Schilde? Mankennt sie als ökologi-
scheAktivistin,die Pflanzen, diese «sen-
siblenWesen», ausgräbt,um sie vor Um-
weltbelastungen zurett en, und mit bür-

gerlichenKonventionen nichts anzufan-
gen weiss.
Stundenlang sehen dieThalbacher
Manu zu, und wie es sich für sensations-
lüsterne Menschen unsererTage gehört,
breiten sich in denStrassenschnell die
niederstenInstinkteaus.Endlich,sojubi-
lie renmanche,hatThalbacheinEreignis,
das die Stadt in die Nachrichten bringt.
Schamlose Journalisten, Schaulustige
undVoyeure finden sich ein, deren
Zynismus nicht davor haltmacht, Manu
zum Sprung in dieTiefe aufzufordern.
SimoneLappert ist ein grosses Er-
zähltalent; das steht ausserFrage. Mit
Geschick und Sinn für emotionaleVer-
strickungen verknüpft sie die Hand-
lungsstränge und begleitet mit erzähle-
rischerHingabeihreFiguren,dieamAll-
tag zu zerbrechen drohen und so tun, als
sei es nicht so. Da ist der jungePolizist
Felix,der von seinemVorgesetzten schi-
kaniert wird und ein verschüttetes Kind-

heitstrauma mit sich herumträgt. Oder
dieDamenschneiderinMaren,diedavon
träu mt,sich nach Parisaufzumachen,und
schwer enttäuscht wird. Oder die dicke,
von allen gemobbte SchülerinWinnie,
die sich wehrt undRachepläne schmie-
det. Oder der Hutmacher Egon, dessen
Kreationen inVergessenheit geraten
sind, bis dieTV-Berichterstattung über
Ma nuzufälligeinesseinerMeisterwerke
ins rechte Licht rückt. Und da ist auch
Manus Schwester Astrid, die «Bürger-
meisterinvon Freiburg» werden willund
befürchtet, dass eine Selbstmörderin in
der Familie ihrer Karriere schaden wird.

Die Abgründedes Kleinbürgers


So gelingt es SimoneLappert, bald an-
rührende, bald bizarre Geschichten zu
erzählen, deren Akteure man nicht so
leicht vergisst.Wie Theres undWerner
zum Beispiel, die ein kleines Lebens-

mittelgeschäft – hochtrabend«Werner’s
Grocery» genannt – betreiben und wis-
sen, dass sie gegen die Supermarktfilia-
listen chancenlos sind. Doch durch die
medialeAufmerksamkeit, dieThalbach
plötzlich erfährt, wirdihr Laden für die
Sensationshungrigen plötzlich zu einer
zentralenVersorgungsstelle. Der Um-
satz steigt sprunghaft an, undWerner
glaubt ein, zweiTage lang daran, dass

die goldenen Zeiten des Einzelhandels
zurückkehren werden.
«Der Sprung» ist ein unterhaltsames
Buch, das die gegenwärtigenRegungen
des (Klein-)Bürgertums in ihren Ab-
gründen spiegeln will und sich dabei
aus demFundus der Zeitgeistthematik
bedient.Was das Lesevergnügen leider
schmälert, ist SimoneLapperts nicht zu
zähmendesVerlangen, ein «positives»
Buch vorzulegen und für die Leser er-
freuliche Handlungswendungen bereit-
zuhalten.Etliche ihrerFiguren dürfen
folglich darauf hoffen, dass dieVerzweif-
lung in ihrem Leben nicht das letzte
Wort hat.
Das gilt fürWinnie und Egon,das gilt
für Theres , die Plastikfiguren aus Über-
raschungseiern sammelt und erfährt,
dass einige dieser seltenen Exemplare
ein kleinesVermögen wert sind. Und es
gilt nicht zuletzt auch für die vielleicht
nur versehentlich aufsDach gelangte
Manu, die – wie es im hochpathetischen
Schluss heisst – nicht denTod, sondern
immer das Leben suchte. Hätte Simone
Lappert ihrenFiguren an dies en Stellen
weniger Empathie entgegengebracht,
wäre das ihrem an sich so lesenswerten
Roman besser bekommen.

Simone Lappert: Der Sprung. Roman. Dio-
genes-Verlag, Zürich 2019. 334S., Fr. 33.90.

Die Frau auf demDach durchbricht den gemächlichen Alltag derKleinstadtund reisstdie Bewo hner aus ihrer Lethargie.ALAMY

SALZBURGER FESTSPIELE


Dunkel strahlt Verdis verkanntes Meisterwerk


«Simon Boccanegra» steht im Schattender anderen Verdi-Opern. Wie unrech t dem Werk damit getan wird, beweist die Aufführung im Festspielhaus


ELEONORE BÜNING


Es wird zu viel gelitten, gelogen, betro-
gen. Deprimierend schwarz ist dietinta
musicaledes «Simon Boccanegra», un-
gleich dunkler als in anderen, populäre-
ren Opern GiuseppeVerdis.Von einer
wirren Intrigengeschichte aus grauer
Vorzeit erzählt dieseletzt e Salzburger
Neuproduktion im GrossenFestspiel-
haus, mehr oder weniger inszeniert von
Andreas Kriegenburg, routiniert sou-
verän dirigiert vonValery Gergiev. Sie
wird verschattet von fast ausnahmslos
tiefen Stimmen. Hier kämpfen Männer
um die Macht, lauterBaritone, ein Bass.
Posaunen,Fagotte verdunkeln schon
nach wenigenTakten das meereswo-
gendeVorspiel. Nur sporadisch hellt
sich das später auf, etwa im ersten Akt,
wenn für die verschollene, unerkannte
Tochter des ersten Dogen der Seerepu-
blik Genua die «ora bruna», die braune
Stunde derDämmerung, schlägt, mit
Violinentrillern und Flötensextolen.
Oder auch, wenn Gebete der Hoffnung
gen Himmel steigen und sich heimlich
die jungen Leute treffen, aus Liebe.


Aber das nützt alles nichts. Höchst un-
wahrscheinlich, dass die Enkel, die
nach dem Showdown übrig bleiben, die
Sache dereinst besser ausfechten wer-
den. GrossvaterFiesco jedenfalls gibt
ihnenresigniert seinFazit mit auf den
Weg: Das Menschenherz sei nichts «als
eine Quelle endlos fliessenderTränen».

Ein Fest der Klänge


JacopoFiesco ist einPatrizier im auf-
blühenden Genua des14.Jahrhunderts
und damit automatisch Erzfeinddes
von den Plebejern ins Amt geputsch-
ten Emporkömmlings Simon Boccane-
gra,was stracks in eineFamilientragödie
führt.Für Ersteren steht in Salzburg der
anbetungswürdigeRené Pape auf der
Bühne, stark wie einBaum, mit einem
Prachtbass, schwarz wie die Nacht. Er
führt ihn drohend tief in denKeller hin-
unter, ad ultimo;doch auch biegsam und
weich modulierend ins Pianissimo, mit
glasklarer Artikulation – jeder Affekt,
jedesWort bestens verständlich.
Luca SalsisBariton dagegen klingt
vergleichsweisekörnig und aufgeraut,

von Anfang an scheint dieser Bocca-
negra von Zweifeln angenagt. Er kann
aber ebenfalls machtvoll auftrumpfen,
wenn er, beispielsweise, den Verräter
Paolo Albiani (André Heyboer) stellt,
grundiert vom Fluchmotiv. Herrlich wird
die vonPetrarca inspirierteFriedensan-
sprache «Plebe!Patrizi!Popolo» Bocca-
negras aufgenommen und brillant voll-
endet vomkonzertierenden Chor, über
den sich der Cantusfirmus der Prima-
donna, der inzwischen glücklich wieder-
gefundenenTochter des Boccanegra,
Enkelin desFiesco, wieein Regenbogen
wölbt: wie die Stimme eines Engels, von
oben, mit «Pace»-Rufen.
Es ist dies eine der schockierend
lichterfülltenStellenindiesemgenialen
Werk, die sofort ins Sonnengeflecht grei-
fen.Zugleich istAmeliasFriedensappell
eine jenerrare n Verdischen Arioso-
Melodien aus dem aktions- und dekla-
mationsreichen «Boccanegra», die sich
dauerhaft einnisten in Ohr und Gemüt


  • dergestalt, dass man noch viel später,
    als die Oper schonlange aus ist, draus-
    sen auf der Hofstallgasse hie und da ein
    «Pace!Pace!» summen hören kann.


MarinaRebeka ist eine sichere, stäh-
lern leuchtendeAmelia, mit kehliger
Mittellage. Ihr Partner Charles Castro-
novo ein eher dunkel gefärbter Lieb-
haber-Tenor, der s ich in der Höhe weitet
zu metallischem Glanz. Gemeinsam er-
schaffen die beiden inDuett undAktion
etlicheInseln der Seligkeit,was mit Zwi-
schenapplaus quittiert wird.
DerWiener Staatsopernchor, vor-
trefflich einstudiert und feingeschlif-
fen von ErnstRaffelsberger, imponiert
mit Akkuratesse undWucht. Und die
in der spätenFassung des «Boccane-
gra» stark verschlankte, solistisch auf-
gelichtete Instrumentation des Melo-
drammakommt der hohen Spielkultur
der Wiener Philharmoniker quasi mit
offenen Armen entgegen. So kammer-
musikalisch transparent tönt das biswei-
len,so unverplüscht und dynamisch aus-
di fferenziert, ganz und gar antizyklisch
zu dem Bewegungsdrang des Dirigen-
ten, der seinerseits die katastrophischen
Fortissimo-Ausbrüche zu wuchtiger Prä-
senz herausfordert, dass man glatt auf
die Ideekommenkönnte: Die Wiener
würden auch ohne ihn so spielen.

Über die Inszenierungsideen von
Andreas Kriegenburg und seinemTeam
sowie deren Umsetzung gibt es nicht viel
zu sagen. EinekonzertanteAufführung
hätte es ebenso gut getan, nurkosten-
günstiger. Die Handlung spielt im Hier
und Jetzt. DiePersonenführung be-
schränkt sich weitgehend aufsRampen-
singen und das beim «ahimé!» und «o
dio!» seit je opernübliche Händeringen.

«Make Genova Great Again!»


Vielleicht ist es originell,eine Dunkel-
musik aufzuführen in einem aus Licht
und Weite komponierten, fastrequi-
sitenfreien Bühnenbild.Wenig originell
sind die offenbar unerlässlich geworde-
nen Whatsapp-Nachrichten, mit denen
das uniformierte Bürohengst-Opern-
volk seinen Social-Media-Wahlkampf
punktgenau zum Orchester-Arpeggio
auf den schneeweissen Riesenduschvor-
hang projiziert, der daskahle,langwei-
lige Foyer zur Linken von Boccanegras
bombastischer drehbarerTurmfestung
trennt: «Make Genova Great Again!»
An dieser Stelle gab es einenLacher.

Simone Lappert gelingt
es, bald anrührende,
bald bizarre Geschich-
ten zu erzählen, deren
Akteure man nicht so
leicht vergisst.

«Also wenn du mich
fragst, so gesamthaft
gesehen, ist das Nicht-
verrücktsein die
eigentliche Anomalie.»
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