Neue Zürcher Zeitung - 17.08.2019

(Barry) #1

Samstag, 17. August 2019 LITERATUR UND KUNST41


Erst die Wahrheit macht frei


Taiwan hat getan, was China noch bevorsteht: sich den Dämonen der vergangenen Diktat ur zu stellen.Von Hubertus Knabe


Starr liegt der Mann in seinem Schnee-
wittchensarg, das Haar schütter, die Stirn
kahl. Seine Arme sind unter einemroten
Tuchverborgen, dasvon einem gel-
ben Hammer-und-Sichel-Emblem ge-
ziert wird. Die Halle, in der der Schrein
steht, erinnert mit ihren holzgetäfel-
tenWänden und den schütteren Grün-
pflanzen an einenKonferenzsaal des
DDR-Staatssicherheitsdienstes. Hier,
imPekinger Mausoleum des KP-Vor-
sitzenden Mao, defilieren seit mehr als
vierzigJahren täglich Hunderte Chi-
nesen stumm an dem einbalsamierten
Leichnam Mao Zedongs vorbei,umdem
Gründer derVolksrepublik China ihre
Reverenz zu erweisen.
Mao Zedong gilt als grösster Massen-
mörder des 20.Jahrhunderts. Rund 70
Millionen Menschen kamen unter seiner
Herrschaft ums Leben. Doch bis heute
gibt es in Chinakeine Gedenkstätten,
die an ihr Schicksal erinnern.Viele von
MaosLagern sind sogar immer noch in
Benutzung, weil dasSystem der «Um-
erziehung durch Arbeit» auch unter sei-
nen Nachfolgern beibehalten wurde.
Wer wissen will, wie dieAufarbei-
tung einer düsteren diktatorischenVer-
gangenheit aussehenkönnte, sollte nach
Taiwan fahren. Der demokratisch ver-
fasste Staat auf der Insel von der Grösse
der Niederlande macht dem Riesen auf
demFestlandvor, wie man erfolgreich
Wunden der Geschichteheilt.Auch in
Taiwan herrschte jahrzehntelang ein bru-
tales Militärregime, nachdem sich Maos
nationalistischer Gegenspieler Tschiang
Kai-schek1949 nach seiner Niederlage
im Bürgerkrieg mit seinenTr uppen auf
die Insel vor derKüste abgesetzt hatte.
Bis1987 galt derAusnahmezustand, den
der selbsternannte Generalissimus aus
Furcht vorkommunistischen Umsturz-
versuchen gleich nach seiner Ankunft
verhängt hatte. Erst seit den neunziger
JahrenkönnenParlament und Staats-
oberhaupt frei gewählt werden. Ein Be-
such in derRepublik China, wie sichTai-
wan offiziell nennt, gleichteinerReise
mit der Zeitmaschine in ein mögliches
China der Zukunft – auch wenn vieleTai-
waner der Meinung sind, sie seien anders
als dieFestlandchinesen.


DasMassaker vom 28. Februar


Was in China derPekinger Platz des himm-
lischenFriedens darstellt, ist inTaiwan die
Strasse vor demRegierungssitz inTaipeh.
Hier versammelten sich am 28.Februar
1947 Hunderte Einwohner,um gegen
daskolonialherrenhafte Gebaren der
nationalchinesischen Zentralregierung
zu demonstrieren. EinPolizist hatte am
Vorabend bei einem Handgemenge mit
einer StrassenverkäuferineinenPassan-
ten erschossen. Eine empörte Menge kam
daraufhin vor demRegierungssitz zusam-
men. Als Sicherheitskräfte dasFeuer auf
sie eröffneten, drang einTeil der Demons-
tranten in das Gebäude des nahe gelege-
nenRadiosendersein und machte die
Vorgänge publik.
In derFolge kam es auf der ganzen
Insel zu Protestaktionen und gewaltsa-
menAuseinandersetzungen. Der Mili-
tärgouverneur beorderte heimlichTr up-
pen auf die Insel, dieTaiwan in einem
blutigen Kampf unter ihreKontrolle
brachten. Zwischen 18000 und 28 000
Personen, überwiegendAngehörige der
taiwanischen Oberschicht, fielen dem
sogenannten weissenTerror zum Opfer.
Über das damalige Massaker zu spre-
chen, war auch inTaiwan jahrzehnte-
langverboten.
Heute ist der 28.Februar inTaiwan
gesetzlicherFeiertag. Der frei gewählte
Präsident LeeTeng-hui von der ehema-
ligen StaatsparteiKuomintangentschul-
digte sich1995 für das Gemetzel. Die
Verurteilten wurdenrehabilitiert, und
eine Stiftung zahlte über 200 Millionen
Dollar Entschädigung an mehrals 90 00
Betroffene und deren Angehörige.Im
ganzenLand wurden Denkmäler errich-
tet, die an die Opfer erinnern.
Im einst gestürmtenRadiogebäude
ist heute das 228-Museum der StadtTai-
peh untergebracht. Ein weiteres, natio-
nales Museum in der Hauptstadt wid-
met sich noch ausführlicher den Ereig-


nissen, die inzwischen einen zentralen
Bezugspunkt für die nationale Identität
bilden. Selbst jungeTaiwanerkönnen
in derRegel genau sagen, was sich vor
mehr als siebzigJahren zugetragen hat.

Perfide Indoktrination


Die Überfahrt auf die Grüne Insel, wie
dieTaiwaner das 35 Kilometer vor ihrer
Küste liegende Eiland nennen, ist selbst
bei ruhigemWetter eine Herausforde-
rung. DieFähre schaukelt wie eine Nuss-
schale auf demWasser, so dass die meis-
tenPassagiere irgendwann mitbleichen
Gesichtern zu denTüten greifen, die
griffbereit an jedem Sitz hängen. Hier,
mitten imPazifischen Ozean,kerkerte
die Kuomintang jahrzehntelang ihre
politischen Häftlinge ein.
Das grösste Gefangenenlager trug
den programmatischen Namen Neues
Leben. Es lag in einer durch mächtige
Felsen abgeschlossenen Bucht, aus der
eine Flucht schon aufgrund der natür-
lichen Gegebenheiten kaum möglich
war. Zwischen1951 und1965 waren hier
Tausende Menschen in Haft, sie sollten
durch schwerekörperliche Arbeit und
geistige Umerziehung auf eine höhere
Stufe des Bewusstseins gebracht werden.
In demLager lebten bis zu 20 00 Ge-
fangene, aufgeteilt in zwölfKompanien.
EinTeil schuftete als Holzfäller,andere
mussten in der BrandungFelsen bre-
chen, aus denen Hunderte kleinerHäu-
ser errichtet wurden: Schweineställe,
Getreidelager, Werkzeugschuppen.Wie-
der andere befassten sich mit dem An-
bau von Gemüse oder der Schweine-
zucht. DieBaracken waren überfüllt.Es-
sen durften die Häftlinge nur in der Ho-
cke auf dem Sand.
Das wirklichPerfide war jedoch nicht
der harteLageralltag, sondern die syste-
matische Indoktrination.Auf den Berg-
hängen prangten gigantische Losun-
gen wie «Anstand», «Gerechtigkeit»,
«Rechtschaffenheit» oder «Ehre». Man-
che Häftlinge mussten sich Slogans wie
«Den Kommunisten entgegenstellen,
denRussen widerstehen» eintätowie-
ren lassen.Vor allem aber erfolgte die
Gehirnwäsche während des «Unter-
richts»,den die Häftlingeregelmässig
absolvieren mussten.Verweigerte sich
jemand der Umerziehung, wurde er zur
Zwangsarbeit auf eine andere Insel ver-
bracht oder – wie 14 Häftlinge imJahr
1953 – kurzerhand hingerichtet.
WährendinFestlandchina bisheute
etwa 1,6 Millionen Häftlinge mit ähn-
lichen Methoden umerzogen werden
(zumeist Uiguren in der Provinz Xin-
jiang), ist dasLager Neues Leben in-
zwischen ein Museum. DieParolen auf

dem Bergsindverblasst, nur für dieTou-
risten werden sie aufgefrischt.Ausser
einem verwittertenWachturm, einem
alten Häftlingsbau und denResten der
Gefängnisküche ist von den Gebäu-
den nicht viel übrig geblieben. Das Ein-
gangstor, durch das die Neuankömm-
linge dasLager betraten, wurde wieder
aufgebaut, ebenso ihre Unterkünfte und
das separateAusgangstor, aus dem sie
amEnde «geläutert» entlassen wurden.
In denBarackenerzählt heute eine
aufwendig gemachteAusstellung die Ge-
schichte desLagers.InDioramen und
lebensgrossen Nachbauten ist zu sehen,
wie die Häftlinge dieFelsen brachen, in
Zweierreihen marschierten oder auf klei-
nen Holzbänkenhocken mussten, um die
Umerziehung über sich ergehen zu las-
sen. EineBaracke mit Doppelstockprit-

schen wurde sogarkomplett rekonstru-
iert – so authentisch, dass man nach dem
Betreten erst einmal innehalten muss,
weil auch die einstigen Insassen original-
getreu inWachs nachgebildet sind.
Das Lagermuseum istTeil des Men-
schenrechtserinnerungsparks, der 2002
auf der Insel eingerichtet wurde. Zu
ihm gehört noch ein weiterer ehemali-
ger Haftort, der im Gegensatz zum alten
Lager fast unversehrt erhalten geblie-
ben ist.Von1972 bis1987 diente er dem
Ministerium für nationaleVerteidigung
als sogenanntesReform- und Umerzie-
hungsgefängnis. «Reform» stand dabei
für Indoktrination und Gehirnwäsche,
so wie man in China noch heute dasSys-
tem der Umerziehung als «Gedankenre-
form» bezeichnet.
Nach einer Gefängnisrevolte auf dem
Festland war die von hohen Mauern
undWachtürmen umgebene Haftanstalt
direkt neben dem altenLager errichtet
worden. Sie hatte mehr als 200 Zellen, die
auf zwei Etagen in sternförmigenFlügeln
lagen, so dass dieWachmannschaften alle
Flure von einem Punkt aus beobachten
konnten.Politische Häftlinge aus ver-
schiedenen Gefängnissen wurden hierhin
gebracht, um sie besser unterKontrolle zu
haben. Unter ihnen befanden sich neben
Kommunisten und angeblichen Spionen

auch zahlreiche Menschenrechtsaktivis-
ten undVertreter der taiwanischen Un-
abhängigkeitsbewegung.
Die Haftanstalt trug den zynischen
NamenVillaOasis. Die Losungen zur
Umerziehung sind noch heute auf dem
Gefängnistor zu lesen:«Verjüngen wir
die Nation durch engagierte Arbeit!»,
«Lasst uns dieRegierung unterstüt-
zen!», «Lasst uns mit absoluterAufrich-
tigkeit zusammenarbeiten!».Auch auf
den vier Gefängnishöfen, wo die Häft-
linge zweimal amTag 20 bis 30 Minu-
ten lang frische Luft schnappen durften,
prangen solcheParolen. «Schätze das
Gesetz!», «Sei aufrichtig!» und «Halte
die Gesetze ein!», steht dort in riesigen
Schriftzeichen.
Wenn man durch die langen Gefäng-
nisflureschreitet,fällt es schwer,sich
vorzustellen, wie es war,als sich in den
Zellen die Häftlinge drängten. Alles ge-
schah hier öffentlich,selbst die Benut-
zung derToilette, die sich in einer knie-
hoch gefliestenWanne befand. Um ein
Gefühl für dieräumliche Enge zu ver-
mitteln, sind in einer ZelleFotos mon-
tiert, die einstige Gefangene darstel-
len.Auch die Gummizelle und der Be-
sucherraumkönnen besichtigt werden.
Eine Ahnung von der Brutalität der
Kuomintang-Diktatur vermitteln aber
vor allem die Skizzen derFolterszenen,
die im Eingangsbereich des Gefängnis-
ses ausgestellt sind.

AusdemGefängnis indie Politik


Bei derVerurteilung von Oppositionel-
len spielte in den siebziger und achtzi-
gerJahren das Militärgericht inTaipeh
eine Schlüsselrolle. Es tagte auf einem
abgeschlossenen Gelände im Stadt-
teil Jing-mei, zu dem auch eine Haft-
anstalt gehörte. Dadurch war es mög-
lich, die politischen Gefangenen zu in-
haftieren, anzuklagen und abzuurteilen,
ohne dass man sie zwischendurch ver-
legen musste. Unter anderem fand hier
imFrühjahr1980 der Prozess wegen des
sogenanntenFormosa-Vorfalls statt, der
alsWendepunkt in der GeschichteTai-
wans auf demWeg zur Demokratie gilt.
Führende Bürgerrechtler hatten im
Sommer1979 die Zeitschrift«Formosa-
Magazin» gegründet. Ermutigtdurch
das Stillhalten der Behörden luden sie
für denTag der Menschenrechte am


  1. Dezember zu einerKundgebung ein.
    Dabei kam es zu gewalttätigenAusein-
    andersetzungen, weil – wie sich später
    herausstellte – als Zivilisten verkleidete
    Polizisten gezielt auf die anrückende
    Militärpolizei einschlugen. DieRegie-
    rung nahm dies zumVorwand, sämtliche
    bekannten Oppositionellen zu inhaftie-


ren. Im Gefängnis wurden sie massiv
unter Druckgesetzt, vorgefertigte Ge-
ständnisse zu unterschreiben.Das Mili-
tärgericht inTaipeh verurteilte die acht
Hauptangeklagten zu Haftstrafen zwi-
schen zwölfJahren und lebenslänglich.
Als dieRegierung1987 das Kriegs-
recht aufhob, wurden dieVerurteilten
freigelassen. Einer von ihnen, der Bür-
gerrechtler Huang Shin-chieh, wurde
Vorsitzender der oppositionellen Demo-
kratischenFortschrittspartei, die derzeit
Taiwans Präsidentin stellt. Seine Mitan-
geklagteLu Hsiu-lien wurde imJahr
2000 Vizepräsidentin.Auch andereVer-
urteilte bekleideten später hohe politi-
sche Ämter.
Das Gebäude des Militärgerichts ge-
hört heute zum Nationalen Menschen-
rechtsmuseum.Der Gerichtssaal, in dem
1980 die Urteile gefällt wurden, sieht
immer noch so aus wie früher. Besucher
können nicht nur den schweren Richter-
tisch inAugenschein nehmen, sondern
auch die Zellen der Inhaftierten. Denn
das Gefängnis wurde1991 geschlossen
und wurde – aufVorschlag vonVizeprä-
sidentinLu – 2007 eine Gedenkstätte.
Das Menschenrechtsmuseum macht es
derzeit zu einemAusstellungsgelände
zur Erinnerung an den weissenTerror.
Das Gefängnis hat sich seit seiner
Schliessung kaum verändert. Wach-
türmeragen düster in den Himmel, die
Zellengänge mit den grün gestrichenen
Türen ziehen sich endlos hin. In einem
Raum kann man vorsintflutlicheTon-
bandgeräte auf braunen Holztischen se-
hen, die einst der taiwanische Staats-
sicherheitsdienst benutzte. In einem
anderen stehen Näpfe mit nachgebilde-
tem Essenauf einemDutzendTischen,
an denen früher die Gefangenen assen.
Auch den ehemaligen Gefängnishof mit
seinen grauen Betonwänden kann man
besichtigen.Nur die inzwischen in die
Höhe geschossenen Pflanzen verleihen
dem Ganzen heute etwasFriedliches.

Erinnerungan denDiktator


Das Gesetz zur Schaffung des Museums
ist erst im vergangenenJahr in Kraft ge-
treten. DieregierendeDemokratische
Fortschrittspartei misst derAufarbei-
tung der diktatorischenVergangenheit
beträchtliche Bedeutung zu. Sie möchte
auch die zahlreichen Denkmäler für
Tschiang Kai-schek beseitigen und mög-
lichst auch dasVermögen der ehemali-
gen Staatspartei enteignen. Aber die
Gegnerschaft ist gross, denn dieKuo-
mintang, dieTaiwan mithilfe des Kriegs-
rechtes 38Jahre lang beherrschte, wurde
niemals aufgelöst. Bei den Lokal- und
Regionalwahlen im November 20 18 er-
reichte sie sogar eine absolute Mehrheit.
Wie gross dieWiderstände sind, kann
man vor allem an einem Ort studieren


  • in der Tschiang Kai-schek-Gedächt-
    nishalle. Das bombastische Gebäude
    im Herzen vonTaipeh wurde 1980,
    fünfJahre nachdemTod des Diktators,
    feierlich eingeweiht. Es ist das Gegen-
    stück zur Mao-Gedenkhalle inPeking.
    Tschiang Kai-schek wurde zwar nicht
    mumifiziert und in einen Glassarg ge-
    legt, doch vor seiner riesigen Statue im
    Innern der Halle halten immer noch
    Soldaten Ehrenwache.
    Eine 20 00 Quadratmeter grosseAus-
    stellung mit Gegenständen aus seinem
    Nachlass erwähnt dieLager und Gefäng-
    nisse mitkeinemWort. Stattdessen wird
    der Diktator als Modernisierer gefeiert,
    dessen politisches Denken auf den «drei
    Volksprinzipien» Ethik, Demokratie und
    Wissenschaft beruht habe. DerVersuch
    derRegierung,der Halle wenigstens
    einen anderen Namen zu geben, schei-
    terte schon vorJahren an der Opposition
    seiner Anhänger.SollteeseinesTages in
    China zu einerAufarbeitung derkom-
    munistischenVerbrechenkommen, wird
    deshalb vielleicht auch dort diePekin-
    ger Gedenkhalle für denVorsitzenden
    Mao das Ende der Diktatur überdauern.


Hubertus Knabeist Historiker. Er war bis
März 2019 Direktor der Stiftung Gedenkstätte
Berl in-Hohenschönhausen, welche die Verbre-
chen der Stasi dokumentiert.

Tschiang Kai-schek nimmt 1926 eineTruppenparade ab. Nach der Niederlage im Bürgerkrieg setzte er sich nachTaiwan ab und
wurde dortzumDiktator. AKG

Selbst jungeTaiwaner
können in der Regel
genau sagen, was sich
vor mehr als siebzig
Jahren zugetragen hat.
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