Neue Zürcher Zeitung - 17.08.2019

(Barry) #1

42 LITERATUR UND KUNST Samstag, 17. Au gust 2019


Eine italienische


Nacht oder


die Kunst, sich


selbst zu spie len


Ein Schauspieler im vorgerückten Alter und


mit ein paar seltsamen Marotten feiert einen späten


triumphalen Auftritt. – Eine Erzählung.


Von Dieter Bachmann


DasLicht macht den Unterschied.Aberein Schauspielerbleibtein Schauspieler,auchwenn er nicht auf der Bühne steht.Erstellt dann einfacheine etwas traurige Figur dar. ALAMY


«Sein Genital trägt er locker in derTrai-
nerhose», kritzelt Himlicek in seinBüch-
lein. «Er will, dass man um dessenVor-
handensein weiss. Nie Unterhosen! Er
hat oft betont, wie wichtig ihm das Ding
ist und wierege er es benutzt. Ich brau-
che das einfach, sagt er mit einer gewis-
sen Empörung, die mit ihrem hohenTon
unterstellt,dass der andere zu wenig tue
auf dem Gebiet.»
Fritz Müller-Grabbe war einstein
klingender Name auf der deutschen
Schaubühne, jetzt und schon lange harrt
er in seiner italienischenVerborgenheit
aus. Schmollend? Etwas gekränkt, das
schon.
Jedes Jahr imJuni fährt Himlicek,
oder Himm, wie er sich selber gerne
nennt, in dieselbePension im Süden.
Er liebt diesePension, und wenn er im
Juni fährt, vermeidet er die Sommer-
ferien. Und damit dieKinder der Leute,
die dannkommen. Über dieJahre hat er
sich mit einem Schauspieler angefreun-
det, der in der Nähe ein eigenes Haus
hat, ein bescheidenes Haus. Er mag den
Schauspieler, oft wundert er sich über
ihn, und einesTages hat er damit ange-
fangen,ihn zu notieren, seinen italieni-
schenFreund.
Fritz’T-Shirt ist zerlöchert.Von eige-
ner Hand draufgemalt trägt es dieAuf-
schrift: Nein! SeineBarttracht wech-
selt alle paarWochen, aber immer ist es
eine, die verwildert wirkt.König Lear?
Er sagt, er trage denBart je nachRolle;
aber errett et ihn in seinen Privatauf-
tritt und hätschelt ihn da, da, wo er
nichtsand eres spielt als sich selbst. Er
wäscht sich vorsichtig. Das sagt er selbst.
Er muss seineAusstrahlung pflegen, die
darf nicht abgewaschen werden.
Hatte Hamlet einenWaschzwang?,
fragt er. Na also.

Ein Regenschirm genügt


Ohne seine Bierbüchse in der Hand
sieht Himlicek ihn den ganzen Sommer
über nicht. Er steigt mit der Bierbüchse
in der Hand in seinAuto,er hat die
Bierbüchse in der Hand, wenn er wie-
der aussteigt.Mit der Bierbüchse sitzt er
an einer Ecke amTisch seinerFreunde

und redet stark und deutlich,als könnte
er hier, wo er privat ist, seine gelernte
Sprache verlieren, denkt Himm. Die
Sprache des Schauspielers ist eine, die
diesersich nachträglich angeeignet hat,
erst nach seiner eigenen,und eine,die er,
würde er sie nicht regelmässig üben, wie-
der verlierenkönnte.
Die Bierbüchse ist dasRequisit, das
er in derFreizeit braucht. OhneAus-
strahlung istein er kein Schauspieler,
ohneRequisit aber auch nicht. Oft sieht
es ja so aus, als werde ein Schauspieler
durch seinRequisit auf der Bühne ge-
halten. Es muss nicht immer ein Schä-
del sein,es genügt einRegenschirm, ein
Schuh, den einer umständlich anzieht,
ein Kamm, mit dem eine Schauspielerin
gestikuliert, ohne dass sie sich damit je
durch die Haare fährt.
«Durch die Haare führe», würde
HimmsFreund sagen.
Der trägt übrigens niemals Schuhe,
nur diese Crocs, ohne Socken. Ein
Schauspieler hört nicht an den Knö-

cheln auf, heisst das. Es gilt, auch für die
Füsse eineRolle zu finden.
Bei seinen seltenenAuftritten in der
Öffentlichkeiterscheinter hingegen ge-
stylt, in gestreifter Hose, geflochtenem
Gürtel, weissem Hemd,Weste, Hut auf.
Und als Clou schon wieder dieFüsse:
in Stiefeln aus Schlangenleder.Damit
man sofort sieht, erkömmt! Erkommt
im histrionischenKonjunktiv:Ich wäre
nun hier! Ich würde hergekommen sein!
Was der Schauspieler liebt,sind starke
Flexionen: Er frug!Was er gewissenhaft
pflegt, ist derGenitiv. «Gebt dem Kaiser,
was des Kaisers ist», dröhnt er.
Er steht dabei amTisch; Himm und
die Freunde sitzen. Er isst nicht mit
den andern.Wenn die gegessen haben,
schmiert er sich eine Schmalzstulle und
erzählt weitschweifig von der Kindheit.
Vor dem Schauspieler sind alle Sätze
gleich. Ein Schauspieler muss alle Sätze
der Welt so sprechenkönnen,als seien
sie wahr.Wenn er lügen muss,lügt er
wahr, das heisst, die Lüge muss als sol-
che erkennbar sein.
WennTheater dieKunst der Behaup-
tung ist, musser ihr Meistersein, und
wenn Behaupten eineKunst ist, trägt
er seine Behauptungen vor sich her wie
Kostbarkeiten. Er zeigtsie dem Publi-
kum so vor, wie damals Dexter Gordon
nach seinem Solo seinTenorsaxofon den
Zuhörern hinhielt: geformte Sätze.
In derPause redet das Publikum und
un terhält sich selbst, während er in der
Garderobe sitzt und schweigt: er hat
gesprochen.

Leberwurst oderFoiegras?


Weil Fritz Müller-Grabbe dieKunst der
Täuschung beherrschen muss, kann man
ihn nicht täuschen.
Und so kam es. Es gab zu feiern, und
zu einem herrlichen Crémant d’Alsace
kamen Canapés auf denTisch, Gänse-
leber, ausnahmsweise.
Der Schauspieler biss insBaguette-
brötchen undreagiertekennerisch.
«Aha», sagte er, «Leberwurst.»
«Nein»,sagte mild dieDame des
Hauses, «es istFoie gras.»
«Nicht Leberwurst?»

Ein fabelhafter


Porträtist


rbl.·1940 inBasel geboren, hat Dieter
Bachmann in zwei unterschiedlichen
Rollen und dennoch auf verwandtem
GebietFurore gemacht. In seinem lite-
rarischenWerk porträtierteer mit Witz,
Empathie und zuweilen boshafter Ge-
nauigkeit ein Bestiarium der verschro-
benenFiguren:AnWeltflüchtlingen und
Misanthropen erprobte er seine Be-
schreibungskunst und -lust mit besonde-
rer Hingabe. Er schrieb solchePorträts
auch nach dem lebenden Objekt und
nicht erst, als er1988 Chefredaktor der
Kulturzeitschrift «Du» wurde und nun
während zehnJahren grossartigeKünst-
lerhefte gestaltete.
Der vorliegendeText ist eine Erzäh-
lung aus einem grösserenKonvolut, das
den vielfältigenVerlusterfahrungen des
Daseins gewidmet ist und in dem die
verschrobenenFiguren wiederum zu
ihren Ehrenkommen.
Free download pdf