Neue Zürcher Zeitung - 17.08.2019

(Barry) #1

Samstag, 17. Au gust 2019 SPORT47


Braucht dringendFortüne auf dem Platz, da sie ihm daneben bis anhin fehlt:Real MadridsTrainer Zinedine Zidane (hinten). IMAGO


Real ist Verliere r des Epochenwechsels


Der spanische Fussball sprengt seinen Transferrekord – damit es wieder wird, wie es einmal war


FLORIAN HAUPT,BARCELONA


Im spanischenFernsehen lief diesen
Sommer eine vieldiskutierte Doku-Se-
rie überJésus Gil y Gil. Als «El Pio-
nero » – der Pionier –,so derTitel,nutzte
der schillerndeBauunternehmer, Bür-
ge rmeister von Marbella und Präsident
von Atlético Madrid dieSynergien sei-
ner Unternehmungen, um sich als eine
Art spanischer Berlusconi zu inszenie-
ren. Bei Atlético vermischteer hem-
mungslos private Interessen mit denen
des Klubs, zauberte Spieler zuWahl-
kampfzwecken aus dem Hut und zahlte
sie aus schwarzen Kassen. Oder liess zur
Meisterfeierdurch die Strassen Madrids
seinen Schimmel «Imperioso» paradie-
ren, der ihm laut eigenerAussage übri-
gens auchetlicheTransfers einflüsterte.
Die Serie ist also auch ein StückFolk-
lore: Es war die Zeit, als die mächtigen
Fussball-Präsidenten machenkonnten,
was sie wollten.


Die teuersten dreiWechsel


Wenn nun in der Primera División wie-
der derBall rollt, ist diese Zeit längst
vorbei.Infolge dergrossenWirtschafts-
krise ab 2008 platzte auch die Blase des
Fussballs; er verlor seine Carte blanche,
musste die überJahrzehnte angehäuften
Steuerschulden abstottern und wurde
strikten Lizenzauflagen sowie Gehalts-
obergrenzen unterworfen, welche auf
die Einnahmen des jeweiligen Klubs ab-
gestimmt waren. DieFolgen waren auf
dem Transfermarkt zu sehen. Häuften
die spanischenVereine zwischen 20 00
und 2009 dort ein Minus von 1,27 Mil-
liarden Euro an,waren es zwischen 2010
und 2019 trotz stark gestiegenen Preisen
nur noch 311 Millionen Euro. Besonders
frappierend war dabei der Unterschied
zur Premier League – diese gab über
die letzte Dekade 5,53 Milliarden Euro
mehr für neue Spieler aus, als sie durch
Verkäufe wieder einnahm.
Dennoch erlebte SpaniensFussball
während seiner Sanierung die grösste
Erfolgsära, die es aufVereinsebene je
gegeben hat.Allein zwischen 2014 und
2018 gewann er neun von zehn Europa-
Cups.Es dauerte bis zur vergangenen
Saison, dass die englischen Klubs mit
den Titeln für Liverpool (Champions
League) und Chelsea (Europa League)
ihre Finanzvorteile auf demRasen aus-


spielenkonnten.Für SpaniensTopver-
eine waren die Niederlagen ein klarer
Fingerzeig. Sie mussten ihren gediege-
nen Kontinuitätskurs aufgeben.Die Zeit
der Dominanz wird von einer des Um-
bruchs abgelöst.
MitAusgaben von bisher 1,26 Milliar-
den Euro hatLa Liga schon zweieinhalb
Wochen vorTransferschluss ihrenAus-
gabenrekord gesprengt. Die teuersten
drei Wechsel des europäischen Sommers
verteilen sich auf ihre Klubs:João Félix
ging für 127 Millionen Euro von Benfica
Lissabon zu Atlético Madrid, das dafür
Antoine Griezmann für 120 Millionen
an den FCBarcelona verlor, während
sich Real Madrid für 100 Millionen zu-
züglich möglicher Boni mit Eden Hazard
von Chelsea verstärkte.Anders als zu
Gils Zeiten sind alle Checks zweifels-
frei gedeckt, und doch herrscht auch an
bizarrenVoltenkein Mangel, wie allein
die noch aufzulösendenTransferkapitel
illustrieren. Neymar (Barcelona,Real)
oderPaul Pogba (Real) werden noch er-
sehnt,Gareth Bale undJames Rodríguez
(Real) oder Philippe Coutinho (Barce-
lona, vgl .Text S. 46) zumVerkauf oder
zur Ausleihe angeboten.
Wie sich das alles auf demRasen
äussert?Fürs Erste giltReal alsVer-
lierer des Epochenwechsels.Als vier-
fach er Champions-League-Sieger zwi-
schen2014 und 2018 reizte er sein Er-
folgsteam maximal aus und lag in man-
chen Sommern nicht mal unter den
Top 25 der europäischenAusgabenliste.
Vorige Saison bekamReal die Quittung


  • bereits im März wurden alleTitelchan-
    cen verspielt.Wo zu antizipieren ver-
    passt wurde, wirkt der Umbruch nun
    umso erratischer.Vor dem ersten Spiel
    am Samstag bei Celta deVigo herr-
    schen bereits erhebliche Zweifel über
    den Return on Investment von insge-
    samt über 300 Millionen Euro Sommer-
    ausgaben.
    Dass derToptransfer Eden Hazard in
    der Vorbereitung wenigengagiert und
    sogar übergewichtig wirkte und sich am
    Freitag noch verletzte, mögen bloss Ge-
    burtswehen sein, seinWeltklasseniveau
    hat er bei Chelsea jahrelang dokumen-
    tiert. Ob Spieler wie Éder Militão (50
    Mio.,Porto), Ferland Mendy (50 Mio.,
    Lyon), LukaJovic (60. Mio.,Frankfurt)
    oderRodrygo Goes (45. Mio, Santos)
    für eine neue Ära tau gen, ist allerdings
    eine andereFrage. Der Trainer Zine-


dine Zidane hat sie in derVorbereitung
in seinenAufstellungen mit Nein be-
antwortet.
Die Testeindrücke mit einem desas-
trösen 3:7 (0:5) gegen Atlético alsTief-
punkt beförderten dieReal-Gemeinde
schnurstracks in die nächste Depression.
Beziehungsweise in dieselbe wie in der
Vorsaison. Selbst Präsident Florentino
Pérez soll einigermassenschockiert da r-
über sein, dass Zidane in denTests fast
die gleiche Elf wie in den letztenJahren
auf denRasen schickte und als grösste
Innovation eine wenigköniglicheVa-
riante mit fünfVerteidigern erprobte.
«Alles andere als ein Sieg inVigo wird
die Nervosität auf allen Ebenen desVer-
eins explodieren lassen», schreibt die
klubnahe Sportzeitung «Marca».
Zidane, nach den Iden des März zu-
rückgekehrt, braucht dringendFortüne
auf dem Platz, wo sie ihm daneben bis
jetzt eklatant fehlt: DerTransfer sei-
nes WunschspielersPogba stockt, die
von ihm schon ausgemustertenBale
und James muss er nun womöglichre-
integrieren. Nachdem er in seiner ers-
ten Amtszeit ein zuvor vonJosé Mou-
rinho, Carlo Ancelottiund Rafael Bení-
tez aufgebautesTeam zu voller Blüte
geführt hat, muss er nun dem Anschein
entgegentreten, mit demAufbau einer
eigenen Elf überfordert zu sein.
Derweil lebt der Stadtnachbar Atlé-
tico den Zauber, den so ein Neuanfang
ja auch verströmen kann. Hier gibt es
mit Trainer DiegoPablo Simeone einen

über alle Zweifel erhabenenTeam-Buil-
der.Wo mit Diego Godín,Lucas Hernán-
dez, Juanfran undFilipe Luis einekom-
plette Abwehrreihe,mit Rodri Hernán-
dez der Spielmacher und mit Griezmann
der Starstürmer den Klub verliess, ergri ff
manchen Anhänger zunächst die nackte
Panik. Simeone sah darin sofort die
Chance auf einen neuen Zyklus.In der
Vorbereitung funktionierten auf Anhieb
selbst soeigenwillige neue Spieler wie der
englischeAussenverteidiger Kieran Trip-
pier vonTottenham.Vieles hängt aber
an Félix: Bestätigt er die überragenden
Testleistungen imregulären Spielbetrieb,
könnte die Euphorieder letztenWochen
den Verein über das ganzeJahr tragen.

Mit deJong, ohne Glück


Ist der19-jährigeFélix der spannendste
Neuzugang, steht ihm der 21-jährige
Frenkie deJong kaum nach. Der Regis-
seur kam für75 Millionen Euro von
Ajax Amsterdam zum FCBarcelona
und soll die Katalanen quasi mit sich
selber versöhnen – indem er den klas-
sischenBarça-Spielstil orchestriert, der
seit dem Karriereende von Xavi Hernán-
dez immer weniger zu sehen war.
Im ersten Spiel war deJong und
Barça nochkein Erfolg beschieden – am
Freitagabendresultierte in Bilbao eine
0:1-Niederlage.Aber: Back to theroots


  • das Motto gilt für eine ganze Liga, die
    mit neuemPersonal an die alten Erfolge
    anknüpfen will.


Macht und Egos – Krach um den Spielplan


fhp.·Am Montagruht in Spanien der
Ball –und das sorgt fürKontroversen.
Beinahe hätte sogar der freitägliche Sai-
sonauftakt zwischenAthletic Bilbao und
dem FCBarcelona verschoben werden
müssen, nachdem derFussballverbands-
che fLuis Rubiales alleMatches ausser-
halb desWochenendes hatte verbieten
lassen. Die spanische Liga mit ihrem
ChefJavier Tebas zog dagegen vor ein
Madrider Handelsgericht, und dieses
verhängte eine einstweiligeVerfügung
für die ersten drei Spieltage:AmFreitag
dürfeweiter gekickt werden, am Montag
aber nicht.Das vermeintlich salomoni-
sche Urteil ist jedochkeine Dauerlösung
für dieVereine, denn die bei denFans

unpopulären Montagspartien sind Be-
standteil gültigerFernsehverträge. Es
drohen schmerzhafte Schadenersatz-
zahlungen.Kleinere Klubs bestreiten bis
zu 90 Prozent ihres Budgets mit denTV-
Einnahmen. Sie wehren sich daher wei-
ter gegen die Abschaffung des Montags.
In Spanien spricht man vom «Spiel-
plankrieg», und in dem geht es um Macht
und Egos.Der ehrgeizigeRubiales,seit gut
einemJahr im Amt, ficht mit dem nicht
minder ambitioniertenTebas einenKom-
petenzstreit aus, in dem jedeVernunft
ausser Kraft gesetzt scheint. SelbstBar-
celonas sonst stets diplomatischerTrainer
ErnestoValverde kritisiert:«DieserKon-
flikt ist unfassbar. Er schadet allen.»

Aebersold nur


knapp hinter


der Dominatorin


Silber anden OL-WM


Sl. Sarpsborg·An denWeltmeisterschaf-
ten der Orientierungsläufer in Norwe-
ge nhat das SchweizerFrauenteam über
die Mitteldistanz erneut eine glänzende
Leistung gezeigt. Die 21-jährige Simona
Aebersold steigerte sich imVergleich
zur Langdistanzum einenRang und
sicherte sich die Silbermedaille. Dass
sie bloss fünf Sekunden auf die Siege-
rin Tove Alexandersson verlor, konnte
sie verschmerzen – noch vor einem hal-
ben Jahr hatte ihr Ziel darin bestanden,
überhaupt an den WM zu starten.
Alexandersson profitierte auf dem
letzten Kilometer zudem davon, dass
sie die zwei Minuten vorher gestar-
tete Norwegerin Hausken Nordberg in
Sichtweite hatte.Nach Meinung von
Konkurrentinnen bringt es entschei-
dende Sekunden, wenn man sich auf die
Kontrolle derRoute beschränken und
am Tempo derVorläuferin orientieren
kann. Alexandersson sieht es anders –
«ich laufe lieber alleine. Zusammen mit
anderen verliere ich denFokus.»

Nur OL, sommers undwinters


Die 27-jährige Schwedin hat seit 2011
20 WM-Medaillen gesammelt. Die
Schweizer OL-Legende Simone Niggli
ve rbuchte im selben Alter deren elf. In
den vergangenen dreiJahren gewann
Alexandersson in allenWald-Diszipli-
nen mindestens einmal, teilweise mit so
vielVorsprung, das s man sich fragte, was
si e derart überlegen machte. Ihr selber
fällt dieAntwort leicht–Alexandersson
sagt: «Ich trainiere härter, fordere mich
gerne und schiebe die Grenzen im mer
weiter hinaus.» Diesen Eindruck haben
auch ihre Gegnerinnen. Die mit einem
Schweizer verheirateteRussin Natalja
Gemperle,Weltmeisterin 2018 und
heuer Dritte, sagt: «Alexandersson trai-
niert doppelt so viel wie ich, ist physisch
stärker und läuft wie eine Maschine.»
Dabei konzentriertsich die Schwe-
din gänzlich auf den OL-Sport, sei es auf

Ski imWinter oder zuFuss im Sommer.
Einen anderen Beruf hat sie, im Gegen-
satz etwa zu den Schweizerinnen, nicht
gelernt. In SimonaAebersold erwächst
ihr eine neueRivalin. Parallelen zwi-
schen den beiden sind unverkennbar, so
zieht auchAebersold dieWald-Diszipli-
nen dem Sprint vor. Mit einem neuen
Lauftrainer hat sie 2019 einen grossen
Schritt vorwärts gemacht, ist aber phy-
sisch noch ein Stück von Alexandersson
entfernt – was beim Altersunterschied
von sechsJahren nicht erstaunt. Die Ge-
fahr, dass sie verheizt wird, sieht zumin-
dest ihrVater undTechniktrainer nicht.
«Sie stoppt sichselbst»,sagt Christian
Aebersold,früher auch in derWeltspitze.

WM 2023 in Flims


Die Schweizer Männer vermochten
nicht ans Ergebnis über dieLangdistanz
anzuknüpfen. Mit denRängen acht bis
zehn gelang ihnen zwar ein gutesTeam-
resultat,sie verloren aber ihrePosition
als beste Nichtskandinavier und wurden
von denFranzosen übertroffen.
Einen Sieg errangen die Schweizer
am Freitag auf sportpolitischemPar-
kett. Der Vorstand der Internationalen
OL-Föderation sprach der Schweiz die
WM 2023 zu,Finnland die WM 2025. In
beidenLändern werden–wie derzeit in
Norwegen –Wald-Weltmeisterschaften
stattfinden. Die Schweiz wird ihreWett-
bewerbe in Flims-Laax durchführen,
einem klassischen OL-Gelände, in dem
seit über 50Jahren immer wieder wich-
tige OL-Anlässe stattgefunden haben.
Als WM-Veranstalter war die Schweiz
letztmals 2012 mitLausanne am Zug.

Simona Aebersold
Schweizer
KEYSTONE Orientierungsläuferin
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