Neue Zürcher Zeitung - 17.08.2019

(Barry) #1

Samsta g, 17. Au gust 2019 INTERNATIONAL


Pragmatiker ohne Charisma


NachlangemZögern steigt der deutscheFinanzministerOlaf Scholz dochnochin das Rennenumden SPD-Vorsitz ein


Vor allem unterkonservativen


Sozialdemokraten dürfte das


Schwergewicht aus Hamburg


mit seiner Kandidatur für


Erleichterung sorgen.Wunder


sollten sie sich von ihm allerdings


nicht versprechen.


HANSJÖRG MÜLLER, BERLIN


Der deutscheFinanzminister undVize-
kanzler Olaf Scholz bewirbt sich nun
doch um das Amt desParteichefs der
SPD. Laut deutschen Medienberichten
hat er dies bereits vergangenen Mon-
tag Malu Dreyer, Manuela Schwesig
undThorsten Schäfer-Gümbel, den drei
kommissarischenParteichefs, in einer
Telefon-Konferenz angeboten. Allein
mag auch Scholz nicht antreten:Wie die
grosse Mehrheit der bisherigen Bewer-
ber strebt er eine Kandidatur imTan-
dem an.Dafür sucht er offenbar noch
nach einer geeignetenPartnerin.
Dass sich der 61-Jährige zurVerfügung
stellt, dürfte in weitenTeilen seinerPartei
für Erleichterung sorgen: Die bisherigen
Bewerber gehörten überwiegend dem lin-
ken Parteiflügel an; grosse Namen aus der
Bundespolitik suchte man vergebens. Bei-
des ändert sich mit Scholz.Das Zeug zum
Heilsbringer hat er allerdings nicht.Da-
für fehlt es ihm an Charisma. Scholz wirkt
oft hölzern und technokratisch; seinen
Reden fehlt meist jedes überraschende
Moment. «Scholzomat» nannte ihn 2003
einRedaktorder «Zeit».


Law-and-Order-Mann


AlsJungsozialist trat Scholz noch für
die Überwindung des Kapitalismus ein,
auf dem Marsch durch die Institutionen
bewegte er sich in die Mitte.Hamburg,
wo er seine politische Karrierelancierte,
wird traditionell meist vonkonservati-
ven Sozialdemokratenregiert, die das
Einvernehmen mit bürgerlichen Milieus
und der lokalen Wirtschaft suchen.


Scholz fügte sich in dieseReihe bes-
tens ein. 20 01 amtierte er kurzzeitigals
Innensenator.Als solcher entwickelte
er sich für viele Linkerasch zumFeind-
bild.Damals trat er unter anderem da-
für ein, Drogendealer mit Brechmitteln
zu traktieren.
2011 führte Scholz die SPD in Ham-
burg zurück an dieMacht. Bei der Bür-
gerschaftswahl erreichten die Sozial-
demokraten fast 49 Prozent der Stim-
men, vierJahre später gewannen sie
immerhin noch 45 Prozent: glanzvolle
Ergebnisse,die angesichts der tristen
Gegenwart derPartei fast schon sur-

real wirken. 2017 geriet Scholz als Bür-
germeister unter Druck, nachdem Sau-
bannerzüge anlässlich eines G-20-Gip-
fels weiteTeile der Hamburger Innen-
stadt verwüstet hatten. Scholz, der
Law-and-Order-Champion, hatte in
denAugen seiner Kritiker versagt. Er
sass die Krise aus und wechselte im
März 20 18 ins Bundeskabinett nach
Berlin. Innerhalb seinerPartei gehört
er zu denen, die an der grossenKoali-
tion aus CDU,CSU und SPD fest-
halten wollen.
Scholz’ Kandidatur ist insofern eine
Überraschung,als er imJuni noch er-

klärt hatte, aus zeitlichen Gründen
nicht für denParteivorsitz zurVe r-
fügung zu stehen. In derTat läuft be-
reits derWeg ins Amt für die Bewerber
auf eine Ochsentour hinaus: Nicht weni-
ger als 23Regionalkonferenzen werden
sie im September und Oktober absol-
vieren müssen, bevor die 430 000 Partei-
mitglieder in einer Online-Abstimmung
eine Entscheidung treffen.Das ist ein
ungeheurerAufwand, zumal für einen
Bundesminister.
Eine Monopolstellung alsVertreter
desrechtenParteiflügels werden Scholz
und seineKo-Kandidatin nicht haben:

Wenige Stunden bevor die Kandidatur
desFinanzministers bekanntwurde, be-
richteten deutscheMedien, dass auch
die sächsische Integrationsministerin
PetraKöpping und der niedersächsi-
sche Innenminister Boris Pistorius ge-
meinsam anträten.Wie Scholz gilt auch
der 59-jährige Pistorius alsVerfech-
ter einer harten Linie bei der inneren
Sicherheit. Einer breiteren Öffentlich-
keit wurde er durch seine Liaison mit
Doris Schröder-Köpf bekannt, der Ex-
Frau des früheren Bundeskanzlers Ger-
hard Schröder.

Die Ostdeutschen-Versteherin


Pistorius’Ko-KandidatinKöpping pro-
filierte sich bisher vor allem als Ost-
deutschen-Versteherin: Ihre Aufgabe
als Integrationsministerin sieht sie laut
eigenerAussage auch darin, die Inte-
gration ihrer ostdeutschenLandsleute
in die Gesellschaft der Bundesrepublik
zu fördern.Für die spezifischen Sor-
gen und Mühen der Ostdeutschen be-
kundeteKöpping verschiedentlichVer-
ständnis; zu jenenPolitikern, die mei-
nen, auf die Erfolge der AfD mitWäh-
lerbeschimpfungreagieren zu müssen,
gehörtsie gewiss nicht.
Mit der Kandidatur des Niedersach-
sen Pistorius hat sich auch eine Bewer-
bung des niedersächsischen Minister-
präsidenten StephanWeil erledigt. Nie-
mandrechne mehr damit, dassWeil jetzt
nochantrete,heisst es aus der SPD-Par-
teispitze. Die Bewerbungsfrist läuft nun
noch zweiWochen. Ob Scholz weitere
politische Schwergewichte zum Nach-
ziehen animiert oder diese im Gegen-
teil von einer KandidaturAbstand neh-
men lässt, wird sich nun zeigen. Inter-
esse wird unter anderem noch dem
Juso-ChefKevinKühnert sowieLars
Klingbeil, dem Generalsekretär derPar-
tei, nachgesagt.Aussenminister Heiko
Maas und Arbeitsminister Hubertus
Heil haben Scholz laut einem Bericht
der «Bild»-Zeitung ihre Unterstützung
zugesagt.

Als Jungsozialistwollte Olaf Scholz nochden Kapitalismus abschaffen, heutegilt er als bürgerlich. FILIP SINGR / EPA

Aramäer erhalten ihre erste Kirche in der Türkei


Präsident Erdogan inszeniert sichbei der einst diskriminiertenchristlichen Gemeindeals Reformer


FRANK NORDHAUSEN


Die Bilder vom 3.August gingen um die
Welt und wurden selbst imVatikan als
historische Sensation gewertet. Der tür-
kische StaatschefRecepTayyip Erdo-
gan stand in der mehrheitlich muslimi-
schen MetropoleIstanbulzwischen drei
christlich-orthodoxen Würdenträgern
mit ihren schwarzenRoben und vollzog
den Spatenstich für den ersten Neubau
einer christlichen Kirche seit Gründung
der türkischenRepublik1923. Es gibt
Videos von der Grundsteinlegung für
die syrisch-orthodoxe Mor-Efrem-Kir-
che und von der Ansprache Erdogans,
in der er es als Pflicht des Staates be-
zeichnete, allen Bürgern zu dienen, egal
welcherReligion sie angehörten. Denn
unter der fast tausendjährigen türki-
schen Herrschaft sei das gesamte Gebiet
der heutigenTürkei «stets ein Zentrum
verschiedenerFarben,Kulturen,Religio-
nen und Ethnien gewesen», so Erdogan.
Dann geschah etwas Seltsames.
Als Erdogan den syrisch-orthodoxen
Bischof für Istanbul und Ankara,Yusuf
Cetin, fragte, ob er nicht ein Gebet
sprechen wolle, lächelte der Kirchen-
mann verschämt und verneinte, ermun-
terte aber den Präsidenten seinerseits
zu beten. Erdogan lehnte höflich ab, er-
bat aber Gottes Segen für das Projekt.
Der Dialog wurde von vielen Medien
als freundschaftliches Geplänkel inter-
pretiert, zumal Erdogan seinenAuftritt
dazu nutzte, an frühere Zeiten alsRefor-
mer anzuknüpfen. Er nannte die Kirche,
die in zweiJahren fertigsein soll, «eine
Bereicherung» für Istanbul und sagte,
die Assyrer gehörten «seit alten Zeiten
zu unserer Geografie».


Tatsächlich sind die semitischen
Assyrer oder Aramäer die älteste
christliche Gemeinde desLandes, stam-
men historisch aus dem antiken nörd-
lichen Mesopotamien und siedelten
sich lange vor denTürken in der heu-
tigen südostanatolischen Provinz Mar-
dinan. Siesprechen Aramäisch, die
Sprache vonJesus Christus. Im Osma-
nischenReich wurden sie wie Arme-
nier und Griechen Opfer vonVertrei-
bungen,Pogromen und Massakern. In
den1990erJahren flohen viele Ara-

mäer, die sich selbst Suryoye nennen,
vor Übergriffen der militantenKurden-
guerilla PKK nach Europa oder Ame-
rika. Inzwischen leben rund 30 0000
Assyrer imAusland, während höchs-
tens 25 000 zurückblieben, davon etwa
5000 in ihren angestammten Gebieten
und 17000 in Istanbul. Dort hatten die
Gläubigen bisher nur eine Kirche. Ihre
neue «Marienkirche» entsteht nun für
rund 3,5 Millionen Euro im westlichen
Istanbuler StadtteilYeniköy, wo viele
Suryoye leben.

Für seine Unterstützung dankten die
Kirchenmänner dem Staatschef Erdo-
gan beim Spatenstich. Bischof Cetin
sprach von einem «historischenTag».
Doch in der weltweiten Diaspora rief
das Ereignis ambivalenteReaktionen
hervor. «Als assyrische Gemeinde be-
grüssen wir die Grundsteinlegung für
eine christliche Kirche in derTürkei
natürlich», sagt Dikran Ego, der Chef-
redaktor des unabhängigen assyri-
schen Satellitenfernsehsenders Assy-
rianTVaus Schweden. Der seit 1991
im Exil lebendeJournalist lässt dem
Lob ein langes Aber folgen. «DieTür-
kei hat unsere Gemeinschaft praktisch
eliminiert.Wir wurden verfolgt, massa-
kriert,haben Hunderte Kirchen und viel
Land in derTürkeiverloren – und sie ge-
ben uns eine Kirche.Die wir dazu noch
selbst bauen und bezahlenmüssen.Das
ist einfach nicht ausreichend.»

Ein Lebenin Angst


Ego sagt,dass die positive Geste zudem
von feindseligen Signalen überlagert
worden sei. Er spricht von der Angst,
die wie ein dunkler Schatten über allen
in derTürkei lebenden Assyrern liege.
«Genau deshalb hat der Bischof bei der
Zeremoniekein Gebet gesprochen»,be-
hauptet er. «Mankonnte sehen, dass er
Angst hatte – dienatürlichsteReak-
tion von Assyrern in derTürkei.» Hinzu
kam eine Geste der türkischen Staats-
führung, die von vielen Exil-Assy-
rern als Affront gewertet wurde. Erdo-
gan brachte zum Spatenstich inYeni-
köy nämlich seinen früheren EU-Minis-
ter EgemenBagis mit, der wegen eines
Korruptionsskandals 2013 zurücktreten

musste. Im selbenJahr hatteBagis assy-
rischen Organisationenvorgeworfen,
dieFrage desVölkermords immer wie-
der «wie Masturbation» hochzuspielen,
wofür er sich später entschuldigte. Den
Völkermord an den Armeniern leugnete
er öffentlich.«Bagis gilt unterAssyrern
als der schmutzigste türkischePolitiker
überhaupt», sagt Ego. «SeinAuftritt war
schockierend. Aber die Assyrer in Istan-
bul wünschen sich wegen ihrer prekären
Lage enge Beziehungen zu türkischen
Politikern.Was hätten sie tun sollen?»
Viele Exil-Assyrer fragten in den
sozialenNetzwerken auch,warum das
ge istliche Oberhaupt der syrisch-ortho-
doxen Kirche,Ignatius Aphrem II. aus
Damaskus, bei der historischen Zeremo-
nie in Istanbul gefehlt habe. «Er sagte
uns, man habe ihm nahegelegt, nicht zu
kommen», erklärt Ego. «Es war politisch
unerwünscht.» DerPatriarch unterstützt
dasRegime vonBashar al-Asad, mit
dem Erdogan auf Kriegsfuss steht.
Aus Egos Sicht sei es Erdogan mit
der Kirchenneubauzeremonie vor allem
darum gegangen,einenPropaganda-Er-
folg zu verbuchen. «Und das ist ihm ge-
glückt.»Dabeisei die Lage der Christen
in derTürkei nach wie vor dramatisch.
Zwargarantiert dieVerfassungallen
BürgernReligionsfreiheit. Doch in der
Folge desVölkermords an den Arme-
niern und Assyrern 1915 und antigrie-
chischer Übergriffe verliessen die meis-
ten Christen dasLand. Betrug ihr Anteil
an der Bevölkerung 1914 noch fast 20
Prozent, so ist er heute mit rund 120 000
Gläubigen auf weniger als ein halbes
Prozent gesunken. Offiziell bekennen
sich mehr als 99 Prozent der türkischen
Bevölkerung zum Islam.

Zwar hat sich dieLage der kleinen
christlichen Gemeinschaften unter der
seit 2002regierenden,religiös grundier-
ten AKP imVergleich zu den säkular-
kemalistischenVorgängerregierungen
leicht verbessert.Denorthodoxen Ge-
meinschaften wurden einige Sakral-
bauten aus der Zeit des Osmanischen
Reiches zurückgegeben undrenoviert
wie das griechisch-orthodoxe Sümela-
Kloster inTr abzon – aber längstnicht
alle.Viele bedeutendeKirchenbauten
wurden enteignet, in Moscheen oder
Museen umgewidmet. Obwohl Erdo-
gan den Assyrern bereits 2009 eine neue
Kirche in Istanbul versprochen hatte,
waren die Pläne wegenLandstreitigkei-
ten, bei denen dierömisch-katholische
Kirche eine unrühmlicheRolle spielte,
nie vorangekommen. Inzwischenkonnte
derKonflikt unterVermittlung staat-
licher Stellen beigelegt werden.

Kampfum Ländereien


Derzeit verlörendie letzten Assyrer in
Südostanatolien ihre Hoffnung, berich-
tet Ego. Gegen die Übergriffe kurdischer
Bauern gewähreder Staat den Assyrern
ebenso wenig Schutz wie vor Attacken
der PKK.Das berühmte Kloster Mor
Gabriel imTurAbdin kämpfe weiter-
hin juristisch um seine angestammten
Ländereien; nur etwa 20 Prozent habe
der Staat der Gemeinde zurückgegeben.
DieseVorgängewürden ErdogansVer-
söhnungsgeste in denAugen vieler Assy-
rer entwerten.«Esbleibt ein fader Bei-
geschmack»,sagt Ego.«Am Ende sind
es doch immer die Assyrer, die verlie-
ren. Deshalbsind wir skeptisch, was den
Kirchenneubau anbelangt.»

«Wir wurden verfolgt
und massakriert,
jetzt geben sie uns
eine Kirche. Das ist
nicht ausreichend.»

Dikran Ego
Assyrischer Journalist
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