Neue Zürcher Zeitung - 17.08.2019

(Barry) #1

Samstag, 17. Au gust 2019 INTERNATIONAL


Hongkongs Jugend hat nichts zu verlieren


Seit zehn Wochen dauern die Protes te an – um das Ausl ieferungsgesetz geht es nur noch a m Rande


MATTHIAS MÜLLER,HONGKONG


«Während der Regenschirm-Bewe-
gung 20 14 haben wir für Demokratie
und damit für etwas gekämpft, was wir
nochnicht hatten. Nun kämpfen wir für
unsereFreiheit, etwas, was wir verlieren
können. Erst wenn dieFreiheit weg ist,
werden alle aufwachen und denVerlust
bemerken»,sagtdie 23-jährige Hong-
kongerinYolanda*. Die Akademikerin,
die in einem Biotechnologie-Unterneh-
men arbeitet, ging bereits vor fünfJah-
ren auf die Strasse. Bei den gegenwärti-
gen Demonstrationen ist sie wieder da-
bei. Diese begannen am 9.Juni gegen das
vonRegierungschefin CarrieLam lan-
cierteAusschaffungsgesetz. Doch darum
geht es nur noch vordergründig.Inzwi-
schen kämpft die Bewegung für die Zu-
kunft ihrer Heimat.
Yolanda, die wie andere Aktivisten
ihren richtigen Namen nicht nennen will,
stehtstellvertretend für eine junge, gebil-
dete freiheitsliebende Schicht, die Angst
vor dem Einfluss derKommunistischen
Partei Chinas hat. «Sie identifizieren sich
auch dank dem freien Internet in Hong-
kong mit liberalem westlichem Gedan-
kengut»,sagt derPolitikwissenschafter
Ngok Ma, der an derChinese University
of HongKong lehrt und forscht.


Graben zwischenGenerationen


Diese gebildeteJugend verfolgt die seit
der Machtübernahme des chinesischen
Partei- und Staatschefs Xi Jinping voran-
schreitendenRepressionen und dieAus-
höhlung von Bürger- sowie Menschen-
rechten auf demFestland mit Argusaugen.
Ihr schwant, dass sie das gleiche Schicksal
ereilt, wenn sie nichts unternimmt.
«Die älteren Hongkonger, die einst
vor denKommunisten vomFestland in
die Stadt geflüchtet sind, bezeichnensich
noch als Chinesen», sagt derPolitologe
Ma: «Meine Generation in denFünfzi-
gern ist gespalten. Und die gebildeten
Jugendlichen betrachten sich als Hong-
konger, weil sie andere Lebensstile,
Werte und Ideale als ihreAltersgenos-
sen auf demFestland haben.»Yolanda
verbirgt ihren Argwohn denn auch nicht:


«DerVolksrepublik kann man nicht ver-
trauen. China istkein guter Ort, um sich
dort aufzuhalten.»
Die Ansichten der älteren Generation
findetYolanda in der eigenenFamilie, bei
ihremVater. Tochter undVater diskutie-
ren immer wieder über die heutigeLage.
DerVater sorgt sich um dieFolgen der
Demonstrationen für HongkongsWirt-
schaft und hat Angst, seine Stelle zu ver-
lieren. Denn dieWirtschaft in der einsti-
gen britischenKolonie durchläuft wegen
derProteste und desamerikanisch-chine-
sischen Handelskonflikts eine schwierige
Phase.Yolanda ficht die Argumente ihres
Vaters nicht an.«Wir haben nichts zu ver-
lieren», sagt sie mit ernstem Gesicht.
Yolanda steht bei den Gefechten
mit derPolizei zwar nichtanvorders-
terFront. Sie sei zu langsam, um vor den
Sicherheitskräften zu flüchten,sagt sie
und lacht. Sie versorgt stattdessen jene
jungen Kämpfer, welche derPolizei die
Stirn bieten, mit Helmen und Masken
und anderem, was sie für ihren Kampf
brauchen.Angstvor einerVerhaftung
hat sie nicht, auch wenn jüngst ein be-
kannter Studentenführer allein für den
Kauf vonLaserpointern in polizeilichen
Gewahrsam gekommen ist. Probleme
bei der Beschaffung gebe es bei den Gas-
masken. Sie sind gefragt, weil diePolizei
seitWochenTr änengas einsetzt. Am ver-
gangenenWochenende feuerten Beamte
sogarTr änengas in eine Metrostation.
Einer der Leidtragenden dieses viel-
kritisierten Einsatzes war der 21-jäh-
rigeKelvin*. «Ich war vor Ort», sagt
der schlaksige junge Mann mit einer
Zahnspange. Er sprichtruhig und wählt
seineWorte mit Bedacht. SeinT- Shirt ist
schwarz, die Farbe des Protests. Kelvin
sieht müde aus. «Ich bin sehr beschäf-
tigt und schlafe wenig», sagt er.Wenn er
nicht gegen diePolizei und dieRegie-
rung kämpft, studiert er Krankenpflege.
ImkommendenJahr will er sein Stu-
diumabschliessen. Kelvin deutet an,
dass er schon an einigen chaotischen
Aktionen teilgenommen habe – auch
am vergangenen Sonntag, als diePolizei
in der MetrostationTr änengas einsetzte.
Am nächsten Morgen habe er sich nicht
gut gefühlt und sich krank gemeldet. Als

dann aber die Meldungen kamen, die
Demonstranten machten sich auf, um
den Flughafen zu blockieren, nahmKel-
vin alle Kräfte zusammen und fuhr hin.
Wie Kelvin bezeichnet sich auch die
21-jährige Angela* als Aktivistin. Sie hat
ihr Studium der Umweltwissenschaf-
ten abgeschlossen und arbeitet an einer
Forschungseinrichtung.Auch sie trägt
Schwarz.«Wir kaufen schwarzeT-Shirts,
wo immer wir welche finden», sagt sie. Sie
hatVerständnis dafür, dass die Demons-
tranten in den vergangenenWochen ver-
stärkt zu Gewalt schreiten. Die Hong-
kongerRegierung, die vonPeking mani-
puliert sei, habe sich taub gestellt.Darum
sei es angemessen, die Aktionen zu er-
weitern, selbst wenn diese «etwas ge-
waltsam» seien, sagt sie. «Wir haben uns
alle gefragt, wie wir es schaffen, dass die
Regierung sich endlich um unsere Be-
lange kümmert», meint Angela.

Unabhängigkeit ist illusorisch


Schon früh kamen viele Demonstran-
ten zum Schluss, dass sich dieRegierung
allein durch Menschenmassen nicht zu
einem Umdenken bewegen lässt. Denn
eine Demonstration mit einer Million
Teilnehmern änderte nichts. Erst nach-
dem Demonstranten dasParlament blo-
ckiert und so die zweite Lesung desAus-
schaffungsgesetzes verhindert und nach-
dem die Blockierenden versucht hatten,
dasParlament zu stürmen, nahmLam
das Gesetz zurück. Besänftigt hat dies
die Menschen auf der Strasse nicht. Am


  1. Juli, als das offizielle Hongkong die
    Rückgabe der Stadt an das chinesische
    Festland feierte, stürmten Aktivisten das
    Parlament undrandalierten im Innern.
    Für JohnsonYeung war dieseAktion
    in Ordnung. Er war einer der führen-
    denKöpfe derRegenschirm-Bewegung
    und beteiligt sich wieder an den Protes-
    ten, auch wenn er laut eigenenAussa-
    gen nicht in der vorderstenReihe steht.
    Natürlich habe dasParlament in einer
    Demokratie eine hoheSymbolik, betont
    Yeung, der inzwischen der Bürgerrechts-
    bewegung HongKong Civil Hub vor-
    steht. Aber in Hongkong gebe eskeine
    Demokratie. Deshalb sei dasParlament


in der einstigen britischenKolonie ein
Symbol für Ungerechtigkeit, betont er.
Yeung spielt daraufan, dass nur die
Hälfte derParlamentarier im Legislative
Council (Legco) frei gewählt werden. So
hat dasPeking-treueLager immer eine
Mehrheit. Und der Chef der Sonderver-
waltungszone wird nicht in freienWah-
len,sondern durch einPeking-treues
Komitee bestimmt.Das Prinzip «Ein
Land, zweiSysteme», das bei derRück-
gabe anPeking vereinbart wurde, sichert
der Stadt eine weitgehende, aberkeine
vollständigeAutonomie zu. Allerdings
wirdder wieder zu hörendeVorwurf,
Peking untergrabe das Prinzip immer
mehr, nicht von allen geteilt. «Die Zahl
der Eingriffe lässt sich an einer Hand
abzählen», sagteinDeutscher.Andere,
vor allemWestler, teilen seine Ansicht.
Völlig unklar bleibt,inwelche Rich-
tung sich dieAktivisten bewegen werden.
«Ich habe wirklichkeine Ahnung», sagt
Angela.Kelvinist sich bewusst, dasseine
Unabhängigkeit Hongkongs illusorisch
ist.Peking lässt mit sich nicht über die
territoriale Integrität verhandeln. Und

die ernüchterndeWahrheit für Hong-
kong ist, dass der wirtschaftliche Erfolg
der Stadt stark vom chinesischenFest-
land abhängig ist.
Für Yolanda undYeung besteht ge-
nau darin der Hebel für die Bewegung.
Hongkong sei fürPeking noch immer
sehr wichtig, sagen sie.Auch vielereiche
Chinesen hätten in derFinanzmetro-
pole ihr Geld investiert.Wenn durch die
Aktionen HongkongsWirtschaft desta-
bilisiert würde, käme die Entwicklung
dasFestland teuer zu stehen, betont
Yolanda. «UnsereLöhne sindgering,
unsereLebensverhältnisse wegen der
kleinenWohnungen nicht besonders gut.
Wir haben im Gegensatz zuPeking nur
wenig zu verlieren», erläutertYolanda.

Es gibt keinZurück


AuchYeung denkt in gleichen Kategorien.
Er glaubt, dass dieWirtschaft desFest-
lands immer mehr unter denTurbulenzen
in Hongkong leidet. Die Machthaber in
Peking gerieten durch die schwächelnde
Wirtschaft in Schwierigkeiten, weil sie
dann ihr Versprechen, alle Chinesen
wohlhabend zu machen, nicht mehr erfül-
lenkönnten, sagtYeung. Dannkomme es
zumKollaps derKommunistischenPar-
tei. «Hongkong spielt deshalb bei der
Bekämpfung eines totalitärenRegimes
für die ganzeWelt eine wichtigeRolle»,
sagtYeung. Für die nahe Zukunft ist er
dennoch pessimistisch, weil die Über-
macht desFestlands noch zu erdrückend
sei. Er bleibe dennoch in Hongkong, um
denKampf fortzuführen. Zudemkönne
er die pulsierende Stadt nicht verlassen,
weil er dieKultur und das Essen vermis-
sen würde, fügtYeung schmunzelnd an.
Auch für Angela undKelvingibtes
kein Zurück mehr. «Der Kampf geht
weiter.Wirkönnen denKonflikt nicht
mehr stoppen», sagtKelvin. Und Angela
fügt an, es gehe um alles oder nichts. Un-
klar bei solchenAussagen bleibt, ob sie
sich den Gefahren ihresTuns bewusst
sind. «Ich werde bestimmt nicht verhaf-
tet», sprichtsichKelvin Mut zu.Woher
er den Zweckoptimismus nimmt, kann
er nicht erklären. Denn dieWarnzeichen
sind da: Sein 20-jähriger Bruder wurde
jüngst bei Aktionen verhaftet. Er ist
zwar wieder auf freiemFuss. Im Septem-
ber wirdjedoch entschieden, ob gegen
ihn Klage erhoben wird.
Yolanda ist dagegen vorsichtiger ge-
worden.«Vor fünf Jahren bei derRegen-
schirm-Bewegung war ich noch muti-
ger», gesteht sie. Inzwischen arbeitet die
23-Jährige und hatTr äume, wie ihr Le-
ben einesTages aussehenkönnte. Ihr
schwebtAustralien als künftiger Le-
bensmittelpunkt vor.«Ich habekeine
Angst vorTr änengas, sondern vor der
Polizei», sagt sie nachdenklich.Für sie
ist es eine Horrorvorstellung, bei den
Aktionen festgenommen und ange-
klagt zu werden. EineVorstrafekönnte
ihre Zukunftsträume beerdigen.Dann
stünde sie vor dem Nichts.

* Name geändert

Hinter den Gasmasken derDemonstrierenden verbergen sichmeist gut ausgebildete,freiheitsliebendeJugendliche. MIGUEL CANDELA/EPA


Eine gespaltene Gesellschaft


Mue.· Hongkong ist dieserTage eine
brodelnde Gerüchteküche. Es mehren
sich die Spekulationen, dass sich unter
die lokalenPolizisten Sicherheitskräfte
vom chinesischenFestlandgemischthät-
ten. Einige sollen weder Englisch noch
Kantonesisch verstanden haben – womit
für viele klar ist, dass es sich umFest-
land-Chinesen handelt. Als Beleg wer-
denAufnahmen gezeigt; auf denen ist
zu sehen, wie einPolizist diebeieiner
chinesischen Kampftechnik praktizierte
Haltung eingenommen hat. Die Hong-
konger Sicherheitskräfte bewegen sich
dagegen anders.Andererseits gibt es
Mutmassungen,von wem die Demons-
tranten finanzielle Unterstützung er-
halten.«Wer hat dieRechnungen begli-
chen, als am Montag die Aktivisten mit
Bussen zum Flughafen gebracht wurden
und siediesenblockierten?», fragt ein in
Hongkong lebender Brite spöttisch. Die

chinesischen Staatsmedien behaupten,
dass sich dahinter Kräfte aus denVer-
einigten Staaten undTaiwan verbärgen.
Die Gerüchte spiegeln die tiefe Zer-
rissenheit der Hongkonger Gesellschaft:
Rund 55 Prozent der Bevölkerung sym-
pathisiert mit dem demokratischenLa-
ger, derRest bekennt sich zuPeking. Ein
seit einigenJahren in Hongkong leben-
der Schweizer erkennt eine inzwischen
erschreckende Emotionalität, die sich
rational nicht mehr erklären lasse. Die
Gräben ziehen sich quer durchFreun-
deskreise und garFamilien. DieSpal-
tung geht so weit, dass man sich beiTr ef-
fen darauf verständigt, nicht überPoli-
tik zu diskutieren. Die Gefahr ist gross,
dass sonstFreundschaften in Brüche
gehenundFamilien gespalten werden.
Das Misstrauen und der Argwohn ber-
gen sozialen Sprengstoff für das künftige
Miteinander in der Stadt.
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