Neue Zürcher Zeitung - 17.08.2019

(Barry) #1

Samstag, 17. Au gust 2019 MEDIEN 9


IN MEDIAS RAS


Greta Thunberg


versinkt im


News-Sumpf


Rainer Stadler· Wir wissen alles. Dank
den unermüdlich ratt ernden News-
Maschinen: GretaThunbergsegelt über
den Atlantik zur Uno-Vollversammlung.
Beim Probelauf auf demWasserwird ihr
schlecht. Sie besorgt sich Medikamente
gegen die Seekrankheit.Wir sind live da-
bei, als sie ins Boot steigt, das sie zur klei-
nenJacht bringt.Wir kennen das spar-
tanische Innere desRennschiffs – nicht
einmal eineToilette gibt es. Der Skip-
per sei beeindruckt von der Sprit-spa-
renden Aktivistin, heisstes. Ein Psych-
iater erklärt, was man einerJugend-
lichen mit Asperger-Syndrom zumuten
könne. Schliesslich diese Ankündigung
samt Bild:Thunberg werde im Oktober
auf derTitelseite des Lifestyle-Magazins
«Gentlemen’s Quarterly» zu sehen sein.
In ungewohnter Kleidung:mit übergros-
semschwarzenAnzugund mit weissem
Hemd. NochFragen?
Das Leben im Scheinwerferlicht
gleicht einem Stahlbad.Wer eintaucht,
ist Sklave und Profiteur zugleich.Wer
Action für die Kameras bietet, hat die
Chance,seine Botschaften inalle Winkel
der Welt zu schicken. Gleichzeitig unter-
wirfter sich den unerbittlichenRegeln
der medialenPersonalisierung. Das poli-
tischeThema versinkt jedoch zusehends
im News-Sumpf.Am Klimatreffen in
Lausanne wollteThunberg nicht im
Mittelpunkt stehen, doch Kameras und
Mikrofone blieben auf sie gerichtet. Es
gibtkein Entrinnen.
Je stärker die Medienpräsenz, umso
mehr steigt das Risiko, dass ein Star
Überdruss weckt. Medienheilige ani-
mieren zur Häme. Die aufRedaktio-
nen verbreitete Untugend lässt sich
kaschieren alsJournalismus, denn Be-
obachter des Zeitgeschehens sehen
sich berufshalber verpflichtet, kritisch
hinzuschauen. Mit Sperberaugen lau-
ert man aufFehltritte des Zielobjekts.
EineKommentatorin meint, die auf
Flugreisen verzichtende Umweltakti-
vistin hätte ein hölzernes, also umwelt-
freundlicheres Boot besteigenkönnen


  • klar, emissionsfrei sind wir erst, wenn
    wir uns in Luft aufgelöst haben. Einen
    anderen stört es, dass dieJugendliche so
    wenig lache. Ihr Thema ist bekanntlich
    nicht besonders heiter.Aber nicht nur
    das. Der Kritiker verirrt sich seinerseits
    in einerNews-Blase. Die Redaktionen
    schaffen nämlich eine Medienrealität,
    indem sie zumeist die Bilder einer ernst
    dreinblickenden jungenFrau für die
    Publikationen auswählen. Man fände
    andereAufnahmen vonThunberg.
    Es gehört zu den Klassikern der jour-
    nalistischen Kritik, einenWiderspruch
    zwischen Sagen undTun herauszustrei-
    chen. ImFall vonThunberg gleicht das
    oft einer Beckmesserei. DerVorwurf
    der Heuchelei wird auch an die An-
    hänger der Klimaaktivistin grosszügig
    ad ressiert. In Artikeln istregelmässig
    zu lesen, dieJugendlichen würden zwar
    für schärfere Massnahmen gegen die
    Klimaerwärmung demonstrieren, aber
    danach für dieFerienins Flugzeug stei-
    gen. Belege für diese Behauptung be-
    kommt das Publikum nicht. Mankom-
    mentiertimplizit oder explizit aus dem
    hohlenBauch heraus. Ebenso heikel ist
    die oft zu hörende Unterstellung, die
    Sorge um die Klimaerwärmung küm-
    mere kaum jemanden, weil die Nach-
    frage nach Flugreisen nicht gesunken
    sei. Menschen handeln und entschei-
    denkomplexer als gemäss einem sim-
    plen 0-1-Schema.
    Dennoch gewinnt man nicht den Ein-
    druck, der News-Betrieb sei der Klima-
    aktivistin und ihrem Anliegen kritisch
    gesinnt. Das Nörgeln gleicht vielmehr
    einer Unterhaltungsshow.Letztlich geht
    es nur um eines: um maximale Klick-
    und Einschaltquoten.


Tweets legen falsche Fährten


Kaum war Jeffrey Epstein tot, kursierten wilde Verschwörungstheorien. Was lä uft dabei genau ab?


GABRIELA DETTWILER


Jeffre y Epstein,der mächtige undrei-
cheFinancier, wurdeam 10.August tot
in seiner Zelle im Metropolitan Cor-
rectional Center – dem «Guantánamo
NewYorks» – aufgefunden. Um seinen
Tod gibt es viele Ungereimtheiten.Wie
konnte sich ein Häftling umbringen, der
als suizidgefährdet galt, also besonders
genau überwacht wurde?Warum war er
in Einzelhaft?Weswegen waren die Sui-
zidpräventionsmassnahmen eingestellt
worden? Alles berechtigteFragen, die
man stellen darf – ja sogar stellen muss.
Wie häufig nach Ereignissen, zu
denen anfangs noch vieleVariablen un-
bekannt sind, kursierten allerdings nicht
nur solcheFragen im Internet,sondern
sogleich auch zahlreiche Verschwö-
rungstheorien. Deren überzeugteVer-
treter kannten dieTodesursache und
die Täterschaft noch vor der amerikani-
schenJustiz. Es war Mord, so posaunte
das Netz, und dahinter steckten mäch-
tige Menschen rund um den «Clinton-
Clan». Mit der Kategorisierung «Suizid»
wolle ausserdem einKonglomerat aus
Medien,Politik undWirtschaft über «die
Wahrheit» hinwegtäuschen. Doch das ist
keine berechtigte Skepsis mehr, sondern
gezielte Desinformation.
Auch bei der NZZ begegnen wir bei-
spielsweise aufFacebook immerwieder
kruden Behauptungen zu Ereignissen
und Umständen, zu denen dieKommen-
tierenden wenig bis garkeine vertrauens-
würdigen Informationen habenkönnen.
Als Notre-Dame brannte, warman sich
eines islamistischen Anschlages sofort si-
cher, nach jedembeliebigen Mordfall wer-
den wahlweise Nazis oderAusländer als
Täter vorverurteilt, und nun kursierten
auch imFalle Epsteins bereits kurz nach
Bekanntwerden seinesTodes diverse
nicht belegte, mithin faktenfreieTheorien.
Wird man tagein, tagaus mit sol-
chenÄusserungenkonfrontiert, fällt es
auch versierten Internetnutzernmit der
Zeit schwer, Fakten von Behauptungen
zu trennen. Genau darin liegt die Ge-
fahr der sozialen Netzwerke: Sie sind
der ideale Nährboden für dieVerbrei-
tung vonVerschwörungstheorien und
Falschinformationen.Weil die nicht veri-
fiziertenÄusserungen fleissig geteilt und
ständig wiederholt werden,verbreiten
sich dieTheorien wie einLauffeuer. So
entsteht der Eindruck, dass die Informa-
tionen gesichert seien.
Sind sie aber nicht.


Das hat zurFolge, dassVerschwö-
rungstheorien einen immer grösseren
Kreis anPersonen erreichen. Manche
lassen sich gar bereitwillig von ihnen
überzeugen und teilen im Anschluss
aktiv zu deren Weiterverbreitung bei.
Geradezu grotesk, wenn auch ziem-
lich erfolgreich ist dieTweet-Flut der
bekannten amerikanischen Indie-Pop-
Band FosterThe People. Sie behaup-
tet, dass es sich bei der gefundenen
Leiche überhaupt nicht um Epstein
handle. Dieser sei stattdessen mit dem
Privatflugzeug in den Nahen Osten ge-
flogen, um sich Schönheitsoperationen
zu unterziehen. Hinter alldem stecke:
«dieRegierung».

Die Zutaten: Geld, Macht,Sex


DerFall Epstein ist, so zeigt sich, be-
sonders ergiebig fürVerschwörungs-
theoretiker. Es geht um Macht, Geld,
Verbrechen und Einfluss. Der 66-Jäh-
rige sass gemäss eigenen Angaben auf
einemVermögen von 550 Millionen
Dollar, hatte mächtigeFreunde wie Bill
Clinton und DonaldTrump und ver-
fügte damit über beste Beziehungen zu
Amerikas Elite.
Dass er mutmasslich einen Ring
illegalen Sexhandels mit teilweise min-
derjährigen Mädchen betrieb, liefert
besonders viel Zündstoff. Nun kursiert
nämlich dieVermutung, dass mächtige
Männer – wie beispielsweise Bill Clin-
ton – guteKunden Epsteins gewesen
seien und deshalb ein Mordmotiv hät-
ten: Epstein sollte für immer schwei-
gen.Fürdie Verschwörungstheoretiker
sind nur schon Bilder, auf denen Clinton
und Epstein zusammen zu sehen sind,
Beweis genug, dass ihreTheorie stimmt.
Tatsächlich gibt es aberkeine Indizien,
die Bill Clinton belastenkönnten.
Für vielekommt zudem der Zeit-
punkt desTodes äusserst gelegen. Drei
Wochen zuvor war Epstein an einem
ersten Suizidversuch gescheitert, und
nur einenTag vor seinemTod wur-
den bis dahin versiegelte Akten frei-
gegeben, die neue belastendeFakten
zutage brachten.Auch die unglück-
liche, zurückhaltendeKommunikation
der Behörden fördert solcheTheorien:
Wenn beim Obduktionsbericht bei-
spielsweise erwähnt wird, dass das ge-
brochene Zungenbein auch auf einen
Tod durch Erwürgen hindeutenkönnte,
heisst das nicht, dass Suizid alsTodes-
ursache ausgeschlossen wird.Welche

Kreise an einer solchen Deutung inter-
essiert sind und diese aktiv verbreiten,
ist völlig unklar.

Trumps Gerüchteküche


Vor allemTwitter trägt einen grossen
Teil zurVerbreitung solcherTheorien
bei. Beispielsweise erschienen die Hash-
tags#ClintonBodyCount und #Trump-
BodyCount aufTwitterschonfrüh und
prominent in der Kategorie«Trending»


  • also unter denjenigen Hashtags, die
    am häufigsten genutzt werden. Diese
    Wortkreationen spielen darauf an, dass
    die Clintons beziehungsweise Donald
    Trump schon für zahlreiche politi-
    sche Morde verantwortlich seien und
    sich die Zahl ihrer Todesopfer («body
    count») laufend erhöhe. So werden die
    Verschwörungstheorienin dieTime-
    lines von vielenTwitter-Nutzern gespült

  • unter anderem wohl auch in diejenige
    von PräsidentTrumpselbst.
    Er teilte denTweet vonTerrenceWil-
    liams – aufTwitter bezeichnet dieser sich
    selbstals Schauspieler und Comedian –,
    der Bill Clinton für denTod Epsteins
    verantwortlich macht. Mit einem
    «Retweet» des amerikanischen Präsi-
    denten haben dieVerschwörungstheo-
    rien nun also bereits dasWeisse Haus
    erreicht. Nach einer Kritikwellerecht-
    fertigte sichTrump damit,dassWilliams
    ein grosserTrump-Fansei und er über
    eine halbe MillionFollower aufTwitter
    habe. Das sagt viel aus über dieFunk-
    tionsweise vonTwitter – und vonTrump.
    Verschwörungstheorien sind also
    schon lange kein Nischenphänomen
    mehr, sondern erreichen mittlerweile
    auch die hochoffizielle Politik, die
    Unterhaltungsindustrie und die breite
    Bevölkerung. Jan-Willemvan Prooijen
    ist Professor für Psychologieander VU
    Amsterdam und hat sich aufVerschwö-
    rungstheorienspezialisiert. Er sieht sie
    als eine Art Selbstschutzmechanismus:
    «Es ist manchmal einfacher, an eine
    sorgfältig ausgearbeitete Lüge zu glau-
    ben, als sich mit derWahrheit auseinan-
    derzusetzen», führt er gegenüber dem
    Online-Magazin«Vox» aus.
    Auch wenn die NZZ inFacebook-
    Kommentaren darauf hinweist, dass es
    sich beimFall Epstein nach allen bisheri-
    gen Erkenntnissen nicht um Mord ge-
    handelt habe, kommt typischerweise die
    Gegenfrage:«Wieso wisstihr das? Habt
    ihr Videoaufnahmen?» Nein, haben wir
    nicht. Medien berichten, was bekannt


ist. Aber selbstVideoaufnahmen halten
die Menschen nicht davon ab, das zu
glauben, was sie glauben wollen. Denn
solcheTheorien geben ein Gefühl der
Kontrolle und helfen dabei, einekom-
plizierteWelt in Gut und Böse einzutei-
len und besser zuverstehen. Stets gibt es
eine Gruppe von Menschen im Hinter-
grund, die dieFäden ziehen.
Verschwörungstheoretiker gehen
meist nach demselben Muster vor. Sie
identifizieren jemanden – einePerson,
eine Gruppe, eine Institution –, die von
einer «alternativenRealität» profitieren
würde.Aus dem theoretischen Nutznies-
ser wird im Anschluss der «wahre» Ur-
heber. Mit vielenKonjunktiven lässt
sich das wie folgt ausformulieren:Wäre
Clinton in den illegalen Sexhandelsring
involviert gewesen, hätte er ein gros-
ses Interesse daran, die Sache zu ver-
tuschen.Wäre Clinton involviert gewe-
sen und hätte einen Mord an Epstein
in Auftraggegeben, hätte die Regie-
rung wiederum grosses Interesse daran,
die Sache zu vertuschen.Wer profitiert,
muss die Sache eingefädelt haben.Das
Misstrauen, das vieleMenschen gegen-
über derRegierung und der Presse ver-
spüren, verlangt nach grösseren Antwor-
ten. EpsteinTod muss mit mehr zu tun
haben als mit einem versagenden ame-
rikanischenJustizsystem. Es muss sich
also anders zugetragen haben.

Vollständiginfo rmieren


Im Internetzeitalter hat sich ein neues
Modell derVerschwörungstheorie dazu-
gesellt, das die amerikanischenPolitik-
wissenschafter Nancy Rosenblumund
Russell Muirhead als «neuerVerschwö-
rungstheorismus» bezeichnen. Anders
als bei ausgefeiltenVerschwörungstheo-
ri en wie derjenigen über 9/11 oder die
Mondlandung begnügt man sich heute
mit einzelnenFundstücken – beispiels-
weise einem Bild von Bill Clinton und
Jeffre y Epstein – und suggestivenAus-
sagen wie: «Das kann dochkein Zufall
sein!» Sokommt man ganz ohne Argu-
mente, Beweise und Erklärungen aus.
Medien undPolitik scheinen sich des
Ernstes derLage noch nicht bewusst zu
sein. Durch langes Schweigen und un-
klareÄusserungen befeuert die ameri-
kanischeJustiz dieTheoretiker gleich
selbst. Und die Medien müssen vollstän-
dig darüber informieren, was man über
einenFall weiss, aber auch darüber, was
noch offen und ungeklärt ist.

Über soziale Netzwerke verbreitensichVerschwörungstheorienwie ein Lauffeuer. ANGEL GARCIA / BLOOMBERG

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