ASIEN
TIBET
INDIEN
Dharamsala CHINA
Im August 2018 traf der
Dalai Lama in Dharam-
sala mit Tibetern
zusammen. Buddhisten
halten ihn für die
Verkörperung eines
erleuchteten Wesens.
Sie stehen Schlange,
um ihm von ihren Lei-
den zu berichten und
um Segen zu bitten.
Jeden Morgen tut er das, drei bis vier Stunden
lang. Wir befinden uns im Privatquartier des
Dalai Lama in dessen Exilpalast im indischen
Dharamsala. Der Raum ist nicht beleuchtet; nur
durch die Fenster dringt etwas Licht. Sie geben
den Blick frei auf genau die Gebirgskette des
Himalaja, über die er vor 60 Jahren als junges
geistiges und politisches Oberhaupt der Tibeter
flüchten musste.
Der Raum ist spärlich möbliert, abgesehen
von einer Glasvitrine mit ehrwürdigen buddhis-
tischen Statuen und einem massiven Stuhl auf
der gegenüberliegenden Seite. Darauf sitzt der
Dalai Lama reglos und schweigend im Schnei-
dersitz. Auf dem Boden vor ihm steht ordentlich
sein Paar rote Schuhe.
Wir treten vorsichtig ein, um diesen seltenen
Einblick in die private Welt Seiner Heiligkeit
festzuhalten, als er plötzlich die Augen öffnet.
„Guten Tag, guten Tag!“, sagt der Dalai Lama
lächelnd. Dann winkt er uns heran.
Nach tibetischem Protokoll faltet man jetzt
die Hände und neigt ihm den Kopf zu, während
der Dalai Lama dasselbe tut. Aber ich bin keine
Buddhistin und keine Tibeterin, und meine Ver-
beugung ist fast immer ungelenk. Ich hebe meis-
tens den Kopf zu früh, wenn sich Seine Heilig-
keit vorbeugt, um mich Stirn an Stirn zu
KARTE: NGM
„Stören Sie ihn nicht
beim Gebet“, flüstern die
tibetischen Mönche,
bevor sie die breiten
Holztüren zum inneren
Heiligtum öffnen.
Dahinter meditiert der
Dalai Lama vor Anbruch
der Dämmerung.
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