Delek Wangmo floh zu
Fuß aus Tibet. Heute
ist sie eine von 250
Nonnen und Lehrerin
in Dolma Ling. Das Klos-
ter in der Nähe von
Dharamsala, vom Dalai
Lama 2005 offiziell
eröffnet, bietet Mäd-
chen und Frauen aller
Traditionen eine bud-
dhistische Ausbildung.
Er floh mit einer kleinen Karawane inklusive
seiner Mutter noch am selben Abend zu Fuß aus
dem Palast – ohne zu wissen, ob er den nächsten
Tag erleben würde. Gleich in der ersten Nacht
wäre er fast einer chinesischen Patrouille in die
Arme gelaufen. Immer noch weiten sich seine
Augen, wenn er davon erzählt. Die chinesische
Armee war direkt auf der anderen Flussseite
stationiert, so nah, dass „wir miteinander spre-
chen hätten können“, sagt er in seinem gebro-
chenen Englisch: „Damals Winter, also Fluss
niedrig. Sehr, sehr große Gefahr. Irgendwie sind
wir entkommen.“
Damit begann seine sagenhafte Flucht über
den schneebedeckten Himalaja, von der die Welt
zunächst nichts ahnte. Erst nachdem er mit sei-
nen Begleitern den 4 694 Meter hohen Gebirgs-
pass unweit von Lhasa überwunden hatte,
wurde den chinesischen Behörden klar, dass der
Dalai Lama die Stadt verlassen hatte. Sie riegel-
ten die Grenzübergänge ab und mobilisierten
Truppen, um ihn aufzuspüren
14 Tage dauerte die Flucht bei Schneestürmen
und sintflutartigen Regenfällen. Ängstlich und
müde passierte der Dalai Lama am 31. März 1959
die Grenze nach Indien, „in die Freiheit“, wie er
heute sagt. Er wurde von Premierminister Ja-
waharlal Nehru als Flüchtling willkommen ge-
heißen und begann sein Leben im Exil. Für Tibet
war es der Anfang des nächsten Kapitels einer
großen Tragödie.
SCHON ZWEI TAGE NACH DER FLUCHT bombar-
dierten chinesische Truppen den Sommerpa-
last in Lhasa. Sie schossen mit Maschinenge-
wehren auf die Menge aus Tausenden von
Menschen. „Bis 1976 lag das kulturelle und reli-
giöse Erbe Tibets, darunter fast alle Klöster, in
Trümmern“, berichtete die internationale Ju-
ristenkommission 1997. „Zehn-, wenn nicht gar
Hunderttausende Tibeter wurden getötet.“ Hei-
lige buddhistische Schriften wurden verbrannt,
Wandgemälde entstellt. Der Zuzug von Chine-
sen nach Tibet nahm dramatisch zu. Die Natur
Tibets sei weitgehend zerstört, ein Großteil der
Wälder abgeholzt, die tibetische Sprache be-
droht, hieß es in dem Bericht. Und jeder, der
mit einem Foto des Dalai Lama erwischt würde,
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