San Francisco
S
an Francisco, 18. April 1906.
Das Licht des ersten war
men Frühlingstages zeigt
sich gegen 4.45 Uhr über
dem Pazifik. Als die Glocke
der Old St. Mary's Cathedral die vol
le Stunde schlägt, leuchten die Hügel
von Oakland auf der anderen Seite der
Bucht. Mit leisem Zischen erlöschen um
5.08 Uhr die Gaslaternen. Die Cable
Car-Waggons rollen quietschend aus
ihren Schuppen. Der Geruch von Holz
feuer zieht durch die Gassen: Frühauf
steher bereiten Kaffee auf dem Ofen zu.
Am Ocean Beach legt Clarence Jud
son seinen Bademantel auf den Strand.
Wie jeden Morgen will er im Meer
schwimmen. Aber etwas stimmt nicht.
Die Wellen rollen nicht parallel heran,
"sondern schräg, in gebrochenen Lini
en, in einer teuflischen, zackigen, rei
ßenden Bewegung". Judson wagt sich
dennoch in die Brandung. Sofort wird
er nach unten gerissen, hochgespült,
dreimal. Er kämpft sich an Land, fällt
immer wieder in den Sand. "Ich dach
te: ein Blitzschlag. Der ganze Strand
schien zu fluoreszieren. Meine Schritte
hinterließen eine glitzernde Spur."
Eine Naturgewalt, entsprungen
unter dem Ozean, hat das Festland
erreicht. Sie nähert sich entlang der
sechs Kilometer langen Washington
Street. In der Dämmerung sieht Jesse
Cook, wie Gebäude von unterirdischer
Kraft angehoben werden und wieder
absinken - eine Riesenwelle aus Stein
und Holz, mit einer Gischt aus stürzen
den Ziegeln. Pflastersteine tanzen wie
Popcorn in der Pfanne. Der Erdboden
würgt Rohre und Stromkabel hervor.
In der Straße öffnen sich Risse, manche
schließen sich wieder mit Getöse. "Wie
eine außerirdische Bulldogge", schreibt
Reporter James Hopper, habe die Kata
strophe sich auf die Stadt gestürzt, brül
lend mit hungrigem Ungestüm, ohne
Zweifel an ihrem Ziel: Zerstörung.
Mauersteine fallen in Kaskaden.
Deckengips rieselt wie grobes Salz
auf Betten und schlafende Körper. Die
Säulen des Rathauses zerspringen mit
einem Geräusch wie Kanonendonner.
In der Valencia Street sinkt ein vier
stöckiges Hotel in sich zusammen. Das
18 P.M. HISTORY -AUGUST 2019
TODESFALLE Das vierte Stockwerk des .Valencia St. Hotel" ist auf Straßen höhe. ln
den Etagen dazwischen wurden 100 Menschen zerquetscht
WASSERNOT Das Beben hat 20000 Rohre zerstört. Feuerwehrleute müssen das aus
strömende Wasser stauen und auffangen - denn die Hydranten haben keinen Druck
LÖSCHARBEITEN Drei Tage lang versuchen die Feuerwehrleute, der Brände Herr zu
werden. Viele Gebäude müssen gesprengt werden, um Feuerschneisen zu bilden