oberste Geschoss ist nun auf Straßen
höhe. Darin überleben ein jüdischer
Schneider und seine Frau, ein alter Ma
ler und dessen Kanarienvögel. In den
Etagen dazwischen werden 100 Men
schen zerquetscht.
In seinem Haus an der Washington
Street ist Geografieprofessor George
Davidson erwacht. Im Pyjama taumelt
der 80-Jährige zum Schreibtisch, wo er
seine Uhr findet. Den ersten Stoß stoppt
er mit 60 Sekunden. Pause, ein Grollen,
ein weiterer Stoß. Ähnlich lang, we
niger stark. Nord-südliche Richtung.
Die Erde unter Kalifornien ist um fünf
Uhr, zwölf Minuten, null Sekunden
Pacific Time aus den Fugen geraten -
"plus oder minus zwei Sekunden". Eine
Kommission wird Davidsons Schätzung
später als den offiziellen Beginn einer
Megakatastrophe übernehmen.
Die Straßen füllen sich mit Men
schen, manche sind im Morgenman
tel, andere im hastig übergestreiften
Smoking vom Vorabend. Ihre Haare
sind voller Staub und Mörtel. Eini
ge bluten. Hustend drängen sie sich
in den Straßenmitten, weg von den
Wänden. Sie wagen nur zu flüstern.
Als könnte ein lautes Wort das fragile
Gleichgewicht der Erdgewalten wie
der zunichtemachen. Nicht einmal
die Kinder weinen. Hier und da stürzt
noch ein Kamin ein, zerschellt ein Sims
auf dem Gehweg, knackt ein Balken.
sehen Platte entlang, ein Floß auf dem
zähflüssigen Erdmantel, unterwegs seit
30 Millionen Jahren. An diesem Mor
gen hat eine steinerne Blockade dem
Druck nachgegeben: Das Epizentrum
lag südwestlich der Golden Gate Bridge.
Seismologen haben berechnet, dass
der Erdstoß eine Stärke von 7, 8 auf der
Gasleitungen bersten. Decken
gips rieselt auf schlafende Körper
Vereinzelte Geräusche, "wie das letzte
Tröpfeln eines erschöpften Regens", so
erinnert sich James Hopper. Dazwi
schen: "entsetzliche Stille."
Es scheint vorbei.
Heute wissen Geologen: Die Kata
strophe war unvermeidlich. Weil im
Westen der USA ein etwa 1300 Kilo
meter langes Spaltensystem die Grenze
zwischen zwei Erdplatten markiert: die
San-Andreas-Verwerfung. Die Pazifi
sche Platte schrammt mit 3,5 Zentime
tern pro Jahr an der Nordamerikani-
Richterskala hatte; dass seine Kraft im
Umkreis von 500 Kilometern spürbar
war. Schäden im Wert von 235 Millio
nen Dollar (heute wohl eine zweistelli
ge Milliardensumme) wurden bei mehr
als 100 Versicherungen gemeldet.
D
as alles lässt sich fassen, mes
sen, zählen. Aber die Zahl der
Todesopfer ist nicht bekannt.
Ein Bericht bezifferte sie mit 450. Nach
Auswertung privater Briefe nimmt
man heute an, dass 4000 Menschen ihr
P.M. HISTORY -AUGUST 2019 19