Türkenkriege
ernüchterndes Bild. Der Kaiser ist de
primiert, scheint kaum noch an Wiens
Rettung zu glauben. Jederzeit könnten
die Belagerer unterirdisch gelegte Mi
nen zünden und so die Festungsmauern
zum Einsturz bringen. Dann würden bis
zu 100 000 Soldaten des Osmanenhee
res in die Stadt strömen und die 15 000
bis 30 000 Verteidiger massakrieren.
Ganz so, wie deren Anführer, Kara
Mustafa Pascha, es angekündigt hat.
Der Großwesir will vollenden, woran
seine Vorfahren bei der ersten Bela
gerung im Jahr 1529 scheiterten. Wer
soll ihn diesmal aufhalten? Das Osma
nische Reich ist eines der größten Im
perien aller Zeiten. Sein Territorium
erstreckt sich über drei Kontinente. Im
Westen reicht es bis nach Algerien, im
Osten bis an den Persischen Golf, im
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Süden bis zum Horn von Afrika und im
Norden bis vor die Tore Wiens.
Dem Kaiser ist klar: Die Einnah
me seiner Hauptstadt wäre eine Kata
strophe. Das Habsburgerreich verlöre
das letzte Bollwerk, das zwischen Al
pen und Karpaten das Vordringen der
Osmanen nach Süddeutschland noch
verhindert. Dann wäre das schier Un
vorstellbare zum Greifen nahe. Der
muslimische Sultan im fernen Konstan
tinopel stiege auf zum Herrscher über
das christliche Mitteleuropa.
A
uch der junge Flüchtling weiß
das. Wortreich verspricht er dem
Kaiser "standhafte Treu" und
die Bereitschaft, all seine Kräfte zu des
"Erzhauses Österreich Wohlfahrt und
Wachstum mit unerschrockenem Mut
und meinem letzten Blutstropfen anzu
wenden und aufzuopfern". Vermutlich
bringt er seine Schwüre auf Französisch
vor, denn Deutsch kann er zu diesem
Zeitpunkt noch nicht.
Überhaupt hat der Jüngling nicht
viel zu bieten. Dass er zur Audienz beim
Kaiservorgelassen worden ist, verdankt
er einem älteren Bruder. Der kämpfte
als Oberst eines Dragonerregiments
aufseiten der Österreicher und ist vor
wenigen Wochen im belagerten Wien
gestorben. Jetzt will Eugen dessen Stel
lung einnehmen- und gegen die Musli
me ziehen. Dabei fehlt ihm nicht nur das
Auftreten eines Heerführers, sondern
auch jede militärische Erfahrung. Aber
in seiner Not kann Leopold jede Hilfe
gebrauchen. Selbst wenn es nur ein ge
flohener Franzose ist. Dass er dadurch