P.M. History - 08.2019

(Tina Meador) #1
II

Ab 1821 kämpfen die Griechen für einen eigenen Staat-mit Folgen für


ganz Europa. Denn das Reich der Osmanen bröckelt gewaltig


Vo n Eva Lehnen

S


eit Monaten schon versuchen
die griechischen Freischär­
ler, Tripali auszuhungern,
die wichtigste Garnison der
Osmanen auf der Halbinsel
Peloponnes. Immer enger zieht die Meu­
te aus verarmten Bauern, Söldnern und
kampferprobten Banditen die Schlinge
um die Stadt. An ihrer Spitze: Theodo­
ros Kolokotronis, ein ebenso ruchloser
wie gerissener Räuberhauptmann.
Ende September 1821 sind sie am
Ziel - dank einer List. Einige Griechen
geben vor, den feindlichen Wachposten
Früchte verkaufen zu wollen. Als die­
se sie zu nah heranlassen, klettern die
Angreifer über die Mauer und öffnen
die Tore. Tausende Aufständische fallen
plündernd und mordend in Tripali ein.
Ihr Schlachtruf: "Vorwärts Griechen,
und fressen wir die Türken!"
Drei Tage lang dauert das Massaker.
"Die Unglücklichen lagen entblößt und
schwimmend in Blut", beschreibt ein
Zeitzeuge die apokalyptische Szenerie.
In ihrem Rausch kennen die Griechen
keine Grenzen. Sie foltern Frauen und
Kinder, bevor sie sie umbringen. Türki-


sehen Deserteuren reißen sie die Zunge
heraus. Tausende treiben sie in einer
nahen Schlucht zusammen, um sie dort
zu töten. Rund 10 000 Menschen fallen
den Freiheitskämpfern in Tripali zum
Opfer- darunter viele osmanische Sol­
daten, aber auch nahezu die gesamte
muslimische und jüdische Zivilbevöl­
kerung der Stadt. Als Kolokotronis zum
Serail reitet, berichten Chronisten, be­
rühren die Hufe seines Pferdes nicht
den Boden. So dicht liegen die Toten.
Ähnliche Szenen wiederholen sich
in diesen Wochen überall auf der Pe­
loponnes. Fast alle Türken, die auf der
Halbinsel zu Hause sind, werden ermor­
det oder vertrieben. Die Geschichte des
modernen Griechenland: Sie beginnt
mit einer ethnischen Säuberung.
Die grausamen Tage von Tripali
markieren einen Wendepunkt in jenem
Aufstand, der die griechischen Provin­
zen des osmanischen Reiches seit we­
nigen Monaten erschüttert. Erstmals
sieht es so aus, als könnten die Griechen
die fast vier Jahrhunderte währende
Herrschschaft der Sultane abschütteln.
"Eleftheria i thanatos - Freiheit oder

Tod". Wie diese Wette von Provinzre­
bellen gegen das imperiale Machtzen­
trum in Konstantinopel ausgehen wird,
scheint überraschend offen.

D


er Aufstand der Griechen trifft
die Osmanen in einem Mo­
ment der Schwäche. Seit dem


  1. Jahrhundert steckt das Türkenreich
    in der Krise. Ein veralteter, ineffizienter
    Militärapparat und eine marode Ver­
    waltung haben den einst so schlagkräf­
    tigen Staat gelähmt. Die Sultane in Kon­
    stantinopel können ihr Imperium kaum
    noch zusammenhalten. Gerade erst
    haben die Serben der Hohen Pforte eine
    Teilautonomie abgetrotzt. Ob auf dem
    Balkan oder in Ägypten: Hilflos muss
    die Zentralregion mitansehen, wie re­
    bellische Regionalpotentaten unabhän­
    gige Herrschaftsgebiete etablieren.
    Auch in den griechischen Provin­
    zen scheinen die Zeiten für eine Re­
    volte günstig. Auf der Peloponnes, den
    Ägäis-Inseln und in den nördlicheren
    griechischen Gebieten sitzt der Hass
    auf die türkischen Besatzer seit Lan­
    gem tief. Die Last der Steuern und


P.M. HISTORY -AUGUST 2019 63
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