P.M. History - 08.2019

(Tina Meador) #1
Entführung von Zivilisten, die Zerstö­
rung von Dörfern, die Plünderungen­
das gehörte damals zum Repertoire der
Kriegsführung. Gegen die Osmanen
wurde dies allerdings gezielt propa­
gandistisch eingesetzt. Und dieses Bild
hat sich später verfestigt.

Dem Islam wird oft ein besonderer
Expansionsdrang unterstellt. Sind
die Feldzüge der Osmanen nicht der
beste Beweis für diese These?
Hier muss man differenzieren. Das Os­
manische Reich wuchs tatsächlich ext­
rem schnell. Das ist ein ganz erstaunli­
ches Phänomen, und die Türken konnte
man durchaus zu Recht mit dem Bild
eines aggressiven Islam in Verbindung
bringen. Zumal sie sich nach innen
auch so dargestellt haben. Die Sultane
gaben vor, einen Dschihad- einen
heiligen Krieg- zu führen, so konnten
sie ihre Truppen leichter mobilisieren.
Wenn man aber genauer hinschaut,
kann man diese Expansion nicht allein
durch den Willen erklären, das Reich
zu vergrößern.

Was war noch ein Faktor?
Konkurrenzkämpfe mit den Nachbarn.
Im Grunde haben wir es im 16. Jahr­
hundert mit einem Hegemonialkonflikt
zwischen zwei wachsenden Mächten
zu tun: den Osmanen auf der einen
Seite und den Habsburgern auf der an­
deren. Letztere stiegen ja gerade zum
Weltreich auf. Es ging in erster Linie
darum, die jeweiligen Einflusssphären
zu sichern- etwa in Ungarn.

FEINDBILD Ein Fanatiker auf einem
Leichenberg. Dieses Klischee des Islam
erschien im Jahr 1904 in einem franzö­
sischen Satiremagazin

Wie hat sich der Konflikt auf das
christliche Selbstbild ausgewirkt?
Die Konfrontation mit den Osma-
nen brachte eine wichtige Neuerung
hervor: Nach dem Fall Konstantinopels
begannen italienische Gelehrte erst-

Die Christenheit kämpfte nie


geschlossen gegen die Türken.


Machtpolitik ging stets vor Religion


Die Schablone "Islam gegen Christen­
heit" passt also nicht ganz?
Die Türkenkriege nur als Folge musli­
mischer Eroberungsgelüste zu interpre­
tieren greift zu kurz. Oft bekämpften
die Osmanen nur deshalb äußere Geg­
ner, um das Reich im Innern zusam­
menzuhalten und zu stabilisieren.

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mals damit, Europa als identitätsstif­
tende Einheit zu denken. Man könnte
in diesem Zusammenhang tatsächlich
von der "Geburt Europas" sprechen.

Kämpfte dieses Europa denn geschlos­
sen gegen die Türken?
Nein, natürlich nicht. (lacht) Dafür

waren die christlichen Herrscher dann
doch zu sehr von machtpolitischen
Interessen geleitet. Während die
Habsburger gegen die Türken zu Felde
zogen, unterhielt etwa Frankreich gute
Beziehungen zum Sultan. Den Franzo­
sen kam es sehr zupass, dass ihr Rivale
unter osmanischem Druck stand.

Spätestens im 19. Jahrhundert ver­
änderten sich die Machtverhältnisse
dann radikal. Die Europäer unter­
warfen die Welt, das Osmanische
Reich wurde zum" kranken Mann am
Bosporus". Welche Folgen hatte das?
In dieser Zeit entwickelte sich ein
ganz anderes Bild von den Osmanen.
Vor allem liberale Bürger und Den-
ker betrachteten die Sultane nun als
despotisch-orientalische Gegenspie­
ler eines modernen, demokratischen
Europas. Das zeigte sich insbesondere
im griechischen Unabhängigkeitskrieg,
als sich viele Briten, Deutsche und
Franzosen für die Sache der Hellenen
begeisterten (siehe auch Seite 62).
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