Frankfurter Allgemeine Zeitung - 05.08.2019

(Dana P.) #1

SEITE 10·MONTAG, 5. AUGUST 2019·NR. 179 Krimi FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Auf Seite 187 ist der Fall nicht gelöst,
aber abgegeben. „Für uns ist die Arbeit
zu Ende“, spricht der Leiter der Mordun-
tersuchungskommission (MUK) im thü-
ringischen Gera. „Wenn es begann, nach
Politik zu riechen, übernahmen die Ge-
nossen“ – die von der Spezialkommissi-
on des Ministeriums für Staatssicherheit.
Das weiß Otto Castorp, Oberleutnant
bei den Kriminalern, nur zu gut, schließ-
lich arbeitet sein Bruder Bodo beim MfS.
Sie gehen zusammen auf den Fußball-
platz, und jeden Sonntag sitzen sie brav
zum Mittagessen bei ihren Eltern, damit
die sich an ihren staatsschützenden Söh-
nen erfreuen können.
Wir sind in den mittleren achtziger
Jahren in der DDR und im fünften Ro-
man seit 2014 von Max Annas, den der
1963 in Köln geborene Autor – ein Spät-
einsteiger im Genre, der sich rasant ent-
wickelt hat – soeben vorgelegt hat.
„Morduntersuchungskommission“ ist
der Auftakt einer Serie, Band zwei ist in
Arbeit. Annas bringt historische An-
schauung mit: In den Achtzigern hat er
sich nach eigenen Angaben im Arbeiter-
und-Bauern-Staat herumgetrieben, bis
man ihm die Einreise verweigerte, als es
beinahe schon zu spät war – 1989.
Diese Erfahrung nutzt er auf ange-
nehm zurückhaltende Weise. Die Atmo-
sphäre dieser schon bleiern werdenden
Zeit evoziert er vorsichtig, er tupft, an-
statt zu prunken. Weder wird mit Biersor-
ten oder Zigarettenmarken Echtheit be-
hauptet, noch knattern ständig Plaste-
und-Elaste-Bomber durch die Seiten –
DDR-Nostalgie hat bei Annas keinen
Raum. Stattdessen ein schlankes Glos-
sar, darin Begriffe wie „Erster Angriff“,
was „Sicherung des Auffindungs- oder
Tatortes, gegebenenfalls Festnahme
oder Fahndung“ bedeutet.
Aber viel ist nicht mehr zu holen bei
dieser übel zugerichteten Leiche, welche
die MUK nahe den Bahngleisen findet.
Ein Schwarzer, einer jener 90 000 Ver-
tragsarbeiter, die von den siebziger Jah-
ren an aus Angola, Kuba, Vietnam, Alge-
rien und Moçambique ins Land geholt
wurden, um den Sozialismus aufzubau-
en. Aber ein Mord an einem Vertreter ei-
nes Brudervolkes? Sieht so Völker-
freundschaft aus? Man wird der Familie
schreiben: Arbeitsunfall, schrecklich zu-
gerichtet, besser den Sarg nicht öffnen.
Es ist nicht der einzige Leichenfund in
diesem Roman, aber der zentrale. Denn
als die MUK den Fall abgeben muss,
macht Otto allein weiter. Was er nicht be-

denkt, ist, dass er vielleicht selbst über-
wacht werden könnte bei seinen Privat-
ermittlungen. Denn das Schicksal des
Schwarzen lässt ihm keine Ruhe. Und so
kommt er mit klassischer Polizeiarbeit
Schritt für Schritt zu der Erkenntnis,
dass er es mit Tätern zu hat, die es offi-
ziell in der DDR gar nicht gibt – Nazis.
Annas rekurriert auf einen bis heute
nicht vollständig aufgeklärten echten
Fall aus dem Jahr 1986. Manuel Diogo,
dem er das Buch widmet, wurde in ei-
nem Zug von Berlin nach Dessau von
Neonazis ermordet. Der Elan, diesen
und ähnliche Fälle nach der Wiederverei-
nigung aufzuklären, scheint bei den
Staatsanwaltschaften nicht stark ausge-
prägt gewesen zu sein. Und so ist Annas’
Roman auch ein Bemühen um Gerechtig-
keit gegenüber dem Leiden Diogos, der
im Buch Teo Macamo heißt. Dass das Set-
ting im dreißigsten Jahr des Mauerfalls
und angesichts der politischen Lage im
deutschen Osten punktlandet, schadet
der Aufmerksamkeit gewiss nicht.
Und Annas bleibt seinem Thema, der
Ausländerfeindlichkeit, treu, dem er sich
nach zwei Romanen, die in Afrika spiel-
ten („Die Farm“, „Die Mauer“), auf deut-
schem Grund und Boden zugewendet
hat („Illegal“ und „Finsterwalde“). Ei-
nen ähnlichen Fall hat zuletzt Philipp
Reinartz in „Fremdland“ verhandelt
(F.A.Z. vom 4. März 2019). Annas
schreibt einen schlackenlosen Stil, der
nicht nach Cliffhangern schielt und
nicht zu sehr auf die Noir-Tube drückt. Er
entwickelt die Geschichte aus dem All-
tag der Polizeiroutine, folgt Otto Castorp
ins Familienleben und zu einer Gelieb-
ten, die mehr ist, als sie vorgibt zu sein.
Im Kern geht es darum, dass Castorp
ein guter Bulle ist. Und um ein solcher zu
bleiben, riskiert er seine Laufbahn. Als er
zur Rede gestellt wird, warum er trotz an-
derslautenden Befehls weiter ermittelt,
sagt er: „Es gibt diese Momente, die ge-
hen einfach über das hinaus, was wir in
der Ausbildung und im Studium lernen.“
Man sieht den Schwierigkeiten, in die er
im nächsten Fall geraten wird, gelassen
entgegen. HANNES HINTERMEIER

„Du brauchst mir nicht zu glauben“, sagt
Remi zu ihrer neuen Freundin. „Es gibt
ungefähr so viele Versionen davon, was
passiert ist, wie es Nigerianer gibt.“ Sie
meint den Biafra-Krieg, in dem die Igbo
Ende der sechziger Jahre erfolglos für
ihre Unabhängigkeit kämpften, sowie die
daran anschließenden Jahre der Unruhen
und Putsche in Nigeria. Grundsätzlich
trifft ihre Beobachtung aber genauso gut
auf Ehekrisen zu, auf Eifersüchteleien un-
ter Freundinnen, auf Kleinkriege unter
Hausangestellten und einander misstrau-
enden Nachbarn. Im neuen Buch von Sefi
Atta, die für ihr Romandebüt „Everything
Good Will Come“ (2005) mit dem Wole-
Soyinka-Preis ausgezeichnet wurde, dem
panafrikanischen Pendant zum Literatur-
nobelpreis, gibt es all das.
Remi Lawal kommt aus dem teuersten
Viertel von Lagos, ist verheiratet und Be-
sitzerin eines Geschäfts für edle Grußkar-
ten; sie hat zwei Kinder und mehrere An-
gestellte. An Frances, einer Amerikane-
rin, die nach Nigeria gekommen ist, um
Perlen zu kaufen, und die sie auf einer
mittelmäßigen Vernissage kennenlernt,
schätzt sie all das Gegensätzliche, vor al-
lem ihre Ungebundenheit. Nur Remis
Ehemann Tunde hält Frances für eine
Spionin der CIA. Ein Mitte der siebziger
Jahre nicht einmal aus der Luft gegriffe-
ner Verdacht in Nigeria, einem der zahl-
reichen afrikanischen Nebenschauplätze
des Kalten Krieges. Noch dazu geäußert
von einem kürzlich von höchster Ebene
entlassenen Staatsbeamten.
„Die amerikanische Freundin“ ist viel-
leicht unter allen je verfassten Spionage-
thrillern der denkbar antiklimaktischste.
Denn die 1964 in Lagos geborene Sefi
Atta wechselt mit bemerkenswerter
Leichtigkeit mitten im Satz die Genrere-
gister. Besuche und Gespräche ereignen
sich, aber Dialoge sind für die Autorin
selten von Interesse. Nur gelegentlich ver-
folgt sie Streitgespräche und Meinungs-
verschiedenheiten, Auseinandersetzun-
gen zwischen Figuren, die ständig um die
eigenen Standpunkte kreisen – anstatt ge-
meinsam nach Lösungen zu suchen.
Ausführlich lässt Remi lieber Hinter-
gründe über die verschiedenen Figuren
in ihren Gedankenstrom einfließen, über
ihre eigene Geschichte, die politische
und gesellschaftliche Situation in Nige-
ria, die Verhältnisse unter den Ethnien,
den Yoruba, Igbo und Hausa. Spannung
entwickelt Atta also weniger auf der

Handlungsebene als mit Hilfe ihrer Spra-
che und des dramaturgischen Konzepts.
Die kurzen Kapitel, überschrieben mit
aufeinanderfolgenden Daten von Januar
bis März 1976, entwickeln den hypnoti-
schen Sog eines Countdowns, der mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlich-
keit auf eine Katastrophe zusteuert.
Tundes Befürchtungen nisten sich ir-
gendwann auch bei Remi ein. Atta
schmuggelt diese langsam, doch stetig
wachsende Paranoia geschickt zwischen
die Zeilen. Sie lässt ihre grüblerische Ich-
Erzählerin Remi alle Möglichkeiten so
lange im Kopf durchspielen, bis alles und
nichts mehr plausibel erscheint. Bis man
ihre Zuverlässigkeit selbst in Frage stellt.
Schließlich entzieht sich Remi durch ihre
Beobachterposition selbst ihrer Umge-
bung ein Stück weit, denkt und agiert wie
eine Kulturanthropologin.
Der Originaltitel des Buchs verdeut-
licht diese Ambivalenz gelungener als
der deutsche: „The Bead Collector“, die
„Perlensammlerin“, das kann sich auf die
Amerikanerin ebenso beziehen wie auf
Remi selbst, die Informationen sammelt
und aneinanderreiht wie Dutzende Per-
len auf einer langen Schnur. Anhand die-
ser hochintelligenten Konstellation ver-
bindet Sefi Atta Gedanken zur Rolle der
Frau in der Gesellschaft mit Überlegun-
gen zum Post- und Neokolonialismus,
zum klaffenden Spalt zwischen Eigen-
und Fremdwahrnehmung. Insbesondere

das Verhältnis zwischen Nigeria und den
Vereinigten Staaten treibt Remi, ausge-
löst durch die sich um ihre Freundin ran-
kenden Gerüchte, um: „Ich hatte immer
den Eindruck gehabt, Amerikaner hätten
Zugang zu allen Informationen der Welt,
wüssten aber gleichzeitig so gut wie
nichts über den Rest der Welt, sodass sie
selbstbewusst und unsicher zugleich wä-
ren“, sinniert sie an einer Stelle. „Auslän-
der bezeichneten die Nigerianer gern als
arrogant, ich dagegen hatte in Lagos ei-
nen schockierenden Mangel an Selbstver-
trauen beobachtet. Unsere Geschichte
war größtenteils nicht schriftlich festge-
halten und von Lücken geprägt, und wir
hatten keine Ahnung, wie wir uns selbst
regieren sollten.“
In ebenjene Lücken stößt Sefi Atta
mit ihrem Sittenbild vor, beschreibt ein
Ordnungssystem komplexer Verflechtun-
gen auf privater und politischer Ebene,
das ebenso störanfällig ist wie das Strom-
netz der nigerianischen Metropole La-
gos. KATRIN DOERKSEN

A

m Anfang schuf Garry Dis-
her eine Schlange. Es hätte
kein anderes Tier sein dür-
fen, denn die listige Verführe-
rin aus dem ersten Buch
Mose bringt eine Ermittlung in Gang, an
deren Ende die fundamentalen Dinge des
Lebens stehen: Gut und Böse, Schuld und
Sühne, die Frage nach Gott. Das Reptil,
ein Kupferkopf aus der Familie der Gift-
nattern, gleitet über die Veranda einer
kleinen Familie und verschwindet unter
einer Betonplatte. Panik. Zunächst
kommt der Schlangenfänger, dann dessen
Kumpel, der sich mit einem Brecheisen
ans Werk macht. Unter der Platte vermu-
ten die Männer ein ganzes Natternnest.
Sie schauen nach und stellen erschrocken
fest, dass sie sich geirrt haben: keine
Kriechtiere, dafür eine verrottete Leiche.
Damit ist der Ton gesetzt und der Fall
eröffnet. Nach dem klassischen Muster
des Detektivromans müsste nun ein Poli-
zist anrücken, um herauszufinden, wer
der Tote ist, ob er ermordet wurde und
falls ja, wer ihn warum auf dem Gewis-
sen hat. Die Spurensuche würde tief in
die Vorgeschichte des Verbrechens ein-
tauchen und die Neugier des Lesers anfa-
chen: Wie wird der Täter überführt? Wo
lauern falsche Fährten? Werde ich vor
der Polizei auf die Lösung kommen? All
das trifft auch hier zu, aber weil Disher,
der in zehn Tagen siebzig wird, keine Kri-
mis nach Lehrbuch schreibt, breitet er in
seinem neuen Roman „Kaltes Licht“
noch einen zweiten Fall aus. Und einen
dritten. Und einen vierten.
Das ist viel Zeug, vor allem für einen
Ermittler, der seine glorreichen Tage hin-
ter sich hat. Sergeant Alan Auhl arbeitete
„zehn Jahre in Uniform, zehn in verschie-
denen Sondereinheiten, zehn bei der
Mordkommission“. Mit fünfzig war er so
„ausgebrannt und traurig“, dass an der
Frührente kein Weg vorbeiführte. Nun ist
er zurück, allerdings in der Abteilung für
ungelöste Fälle und vermisste Personen.
Man hat ihn rekrutiert, „um jüngere De-
tectives für andere Aufgaben freisetzen
zu können“ und weil er einen „erfahre-
nen Blick auf ungeklärte Morde“ mit-
bringt. Davon gibt es reichlich in den Poli-
zeiakten des australischen Bundesstaats
Victoria. Zweihundertachtzig seit den
fünfziger Jahren, um genau zu sein. Hin-
zu kommen rund tausend verschwunde-
ne Personen, von denen ein Drittel wahr-
scheinlich Mordopfer sind.
So gesehen muten vier Recherchen
dann doch machbar an. Der zweite Fall
dreht sich um einen Mann, der auf seiner
Farm tot aufgefunden wurde, die Fälle
drei und vier sind interessanter, gehen
sie doch mit einem Genrewechsel einher


  • vom Detektivroman zum Thriller. Da-
    bei ändert Disher die Zeitachsen. Wäh-
    rend die Vergangenheit immer unwichti-
    ger wird, entwickelt sich die Spannung,
    von der Gegenwart ausgehend, in die Zu-
    kunft, was bedeutet: Richtung Verbre-
    chen. Plötzlich entsteht der Nervenkitzel


aufgrund von Delikten, die noch passie-
ren könnten, nicht wegen Taten, die be-
reits begangen wurden. Insofern befindet
sich der Leser nicht länger im Bann alter
Geheimnisse, sondern im Thrill des „Sus-
pense“. Hauptfigur des dritten Falls ist
ein Arzt, der verdächtigt wird, seine Ehe-
frauen zu vergiften; die vierte Geschich-
te handelt von einer jungen Mutter, die
verhindern will, dass ihr zwielichtiger
Mann die gemeinsame Tochter sieht. Bei-
de Erzählstränge lassen die gängige Kri-
mietikette am Ende wie harmlosen Mum-
pitz aussehen, indem sie aus einem be-
merkenswerten Ermittler einen unver-
gesslichen Grenzgänger machen.
Die Risiken und Nebenwirkungen ei-
nes solchen Vielklangs haben schon man-
chen Autor restlos überfordert, manchen
Plot unter einem Schwächeanfall zusam-
menklappen lassen, manchen Leser in
Orientierungskalamitäten getrieben. Dis-

her hingegen dirigiert sein Ensemble so
taktvoll, dass jede Figur an der richtigen
Stelle das Richtige sagt und dass jeder
Handlungsschwenk wie eine absolute
Notwendigkeit erscheint. Um das Gesche-
hen zu verdichten, benötigt er keine Ac-
tion- und Bombastsequenzen; vielmehr
verweigert er Antworten auf maßgebli-
che Fragen und lässt etliche Facetten sei-
nes Personals im Ungefähren. „Kaltes
Licht“ ist kein Roman der scharfen Kon-
turen, sondern der weich gezeichneten,
ineinanderfließenden Vignetten. Nur we-
nige Krimi-Autoren beherrschen dieses
erzählerische Sfumato ähnlich virtuos.
Falls Karl Kraus mit der Behauptung rich-
tigliegt, dass nur derjenige ein Künstler
ist, der aus der Lösung ein Rätsel ma-
chen kann, darf an Dishers Kunstfertig-
keit keine Sekunde gezweifelt werden.
Als er erfuhr, dass „Kaltes Licht“ zwei
Jahre nach der Publikation des Originals

auf Deutsch erscheinen soll, hat Disher
seinem hiesigen Verlag sofort eine Mail
geschrieben: „In Deutschland veröffent-
licht zu werden freut mich aus vielen
Gründen ganz besonders. Nirgendwo
sind meine Bücher erfolgreicher, schon
dreimal wurde ich mit dem Deutschen
Krimipreis ausgezeichnet, und bei insge-
samt drei anregenden Lesereisen bin ich
auf ein enthusiastisches und bestens in-
formiertes Publikum gestoßen.“
Trotz alledem fristet Garry Disher bei
uns ein Dasein in der zweiten, wenn
nicht dritten Krimireihe – hinter zahllo-
sen Nichtskönnern, Blendern und Lang-
weilern. Zwar werden seine Roman-Seri-
en um Inspector Challis und den Berufs-
kriminellen Wyatt unter Connaisseurs
beklatscht. Doch das große Publikum
muss diesen Ausnahmeautor erst noch
für sich entdecken. Das kann nicht
schnell genug geschehen. KAI SPANKE

Großartig, wie ungeniert brachial die
Buchtiteldichter um 1970 kalauerten, als
Ross Thomas’„The Singapur Wink“ unter
dem deutschen Titel „Sing Sing Singapur“
erschien – leider gekürzt, weil man bei al-
ler Liebe dann doch nicht noch einen wei-
teren Bogen drucken mochte. Zum Glück
gibt es das Buch jetzt komplett auf
Deutsch, als„Der Fall in Singapur“(Alex-
ander Verlag, 320 S., br., 16,– €), weil es
sich der Alexander Verlag zur Aufgabe ge-
macht hat, in seiner Werkausgabe die voll-
ständigen Texte zu bringen. Und wenn
man jetzt einen Autor hemmungslos emp-
fiehlt, der schon vierundzwanzig Jahre

tot ist, geschieht das nicht aus Nostalgie,
weil früher angeblich alles besser war.
Sondern weil diese Eleganz und Lässig-
keit, diese durchtriebenen Plots eines
Ross Thomas nie alt geworden sind und
immer noch sehr heutig wirken, mögen
auch die politischen und die kriminellen
Verhältnisse sich geändert haben.
Für diesen Thriller, Thomas’ einzigen
über die Mafia, profitierte er von seinen
Recherchen über einen amerikanischen
Mafioso, aus denen nie ein Buch wurde.
Es beginnt mit einer angemessen absur-
den Ausgangskonstellation: Ed Cauthor-
ne, früher Stuntman, jetzt Händler für
edle Oldtimer, bekommt Besuch von Ma-
fia-Unterlingen. Er soll seinen alten Kolle-
gen finden, an dessen Tod bei Dreharbei-
ten in Singapur er sich die Schuld gibt.
Wie das funktionieren soll, ist der Mafia
egal. Ihre Angebote lassen sich bekannt-
lich nicht ablehnen. Und so reist Ed mit
der aparten Tochter eines wichtigen Ma-
fiosos nach Singapur. Viel mehr gibt es
nicht zu verraten – außer dass auch hier
die Lektüre ein reines Vergnügen ist. Die
Skala der Typen und Charaktere, die ei-
nem unterwegs begegnen, ist breit und
reicht von abstoßend bis amüsant. Nur
eine langweilige oder uninteressante Fi-
gur wird man nicht finden.
Um 1970 klangen nicht nur Buch- und
Filmtitel ziemlich anders, es gab auch
noch die DDR in jenem Zustand, den man
mit zusammengebissenen Zähnen ihre
Blüte nennen könnte. Dennoch kehrt
1973 eine siebzehnjährige Schwimmerin
den Arbeitern und Bauern den Rücken, als
sie an einem Wettkampf in Oslo teil-
nimmt. Aus dem Hallenbad in die Frei-
heit. Neun Jahre später verschwindet diese
Christel, aus der eine Agentin und womög-
lich auch eine Doppelagentin wurde, spur-
los in ihrer neuen Heimat Norwegen. 2016
dann, wenn der Thriller„Die stille Toch-
ter“(List, 368 S., br., 14,99 €) vonGard
Sveeneinsetzt, werden ein alter Agent
und dessen Frau ermordet, und in einem
See wird eine Frauenleiche entdeckt.
Man muss mit dem Ermittler Tommy
Bergmann, um dessen vierten Fall es sich
hier handelt, nicht vertraut sein, um
schnell in die Geschichte hineinzufinden.
Der Plot, den Sveen konstruiert hat, ist
komplex und spannend, was vor allem da-
mit zu tun hat, wie geschickt er die ständi-
gen Wechsel zwischen den Zeitebenen
handhabt. Das ist mehr als das übliche
Cliffhanger-Geklapper. Es bilden sich Ah-
nungen beim Leser, die mal trügen und
mal bestätigt werden. So verfestigt sich
lange Zeit wenig, und die frühe Vorher-
sehbarkeit, die einen bei so vielen Krimi-
nalromanen anöden kann, stellt sich
nicht ein. Dass Sveen, wenn er nicht Bü-
cher schreibt, als Berater im norwegi-
schen Verteidigungsministerium arbeitet
und sich auch mit Geheimdiensten aus-
kennen dürfte, hat dem Roman nicht ge-
schadet – auch wenn es fraglich ist, ob ein
Dienst einen Problempolizisten wie Berg-
mann für eine Mission rekrutieren würde.
Beim australischen JournalistenChris
Hammer ist das Verhältnis zwischen
Haupt- und Nebenerwerbstätigkeit nicht
ganz so produktiv. In seinem Roman„Out-
back“(Scherz, 496 S., br., 14,99 €) gehö-
ren die Passagen über die skrupellosen Me-
dienvertreter zu den langweiligsten, weil
plakativsten. Was aber nicht heißt, dieses
Buch lohne die Lektüre nicht. Im Gegen-
teil. Es spielt, wie der Titel sagt, dort, wo
die Zivilisation langsam in Hitze und Dür-
re zerbröckelt, im ewigen Funkloch gewis-
sermaßen. Ein Priester hat in einem klei-
nen Kaff fünf Männer erschossen, bevor
der örtliche Polizist ihn erschoss. Es fehlt
jedes Motiv, jede Erklärung.
Ein Jahr später wird der Journalist Mar-
tin Scarsden aus Sydney für eine Reporta-
ge in die Einöde geschickt. Er lernt
schnell die Gegebenheiten kennen, etwas
langsamer die Geheimnisse, die Verstri-
ckungen und Halbwahrheiten der Provinz-
ler. Er müsste nicht auch noch ein Trau-
ma aus einem Job in Gaza mit sich herum-
schleppen, der Plot ist auch so vertrackt
genug. Hammer gelingt es ziemlich gut,
die Zumutungen von Natur und Klima
und deren Auswirkungen auf Psyche und
Sozialleben zu beschreiben, was nicht al-
lein für die Ansässigen, sondern auch für
den Reporter gilt, für den die Grenzen
zwischen neutralem und teilnehmendem
Beobachter in der Hitze immer mehr ver-
schwimmen. „Er kennt die Stadt, die
Stadt kennt ihn, und er weiß, es ist Zeit zu
gehen“, heißt es gegen Ende. Wäre das so
leicht, dann wäre er schon viel früher ge-
gangen. PETER KÖRTE

Max Annas:
„Morduntersuchungs-
kommission“. Roman.

Rowohlt Verlag,
Hamburg 2019.
352 S., geb., 20.– €.

Sefi Atta:
„Die amerikanische
Freundin“. Roman.

Aus dem Englischen von
Simone Jakob.
Peter Hammer Verlag,
Wuppertal 2019.
400 S., geb., 26.– €.

Garry Disher:
„Kaltes Licht“.
Kriminalroman.

Aus dem Englischen
von Peter Torberg.
Unionsverlag, Zürich 2019.
320 S., geb., 22,– €.

STREIFSCHUSS


Australischer Meister


Täter, die es gar nicht gibt


Max Annas rekonstruiert einen Mord aus DDR-Zeiten


Countdown zur Katastrophe


Lauter unzuverlässige Erzähler in Nigeria: Sefi Atta hat Besuch aus Amerika


Die Kluft zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung: Sefi Atta Foto Getty Images Entertainment

Wenn die Dämmerung einsetzt,
kommt nicht unbedingt Frieden ins
Outback. Garry Disher zeigt uns
Australien als sozial kaltes Land.
Foto David Maurice Smith / Laif

Dort, wo die


Zivilisation


zerbröckelt


Krimis in Kürze:


Ross Thomas, Gard Sveen


und Chris Hammer


Garry Disher ist einer der besten zeitgenössischen Krimiautoren,


weil er aus einer Lösung ein Rätsel machen kann.

Free download pdf