Frankfurter Allgemeine Zeitung - 05.08.2019

(Dana P.) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton MONTAG, 5. AUGUST 2019·NR. 179·SEITE 11


S


chon dieser vorsintflutliche Taucher-
anzug wirkt wenig vertrauenerwe-
ckend. Innen gepresster Atem, drau-
ßen blubbernde Schwärze. In der Hand
wackelt die Taschenlampe, in ihrem Licht-
kegel die Ausläufer grauer Schlammwol-
ken, die unsere Schritte auf dem Meeres-
grund verursachen. Die Sichtweite ist ge-
ring. Wir folgen fest installierten Unter-
wasserlampen, vorbei an Schiffswracks
und abgerissenen Taucherhelmen. Ein
Harpunengewehr steht uns zur Verfü-
gung. In der Beschreibung heißt es, damit
könne allenfalls betäubt werden, was
auch immer in der Tiefe lauere. Auch die
Signalpistole diene nur zur Ablenkung.
Doch es bleibt ruhig bei dieser ersten
Unterwasserepisode im Videospiel „The
Sinking City“, das sich nicht nur an den
Geschichten von H. P. Lovecraft orien-
tiert, sondern gewissermaßen von ihnen
durchtränkt ist. Nur als wir unter Wasser
an einen Abgrund gelangen, bleiben wir
still stehen. Schockstarre: In der Ferne
gleitet die Silhouette einer gewaltigen
Kreatur vorüber, weder Wal noch Kraken


  • obwohl es lange Tentakel hat. Der dun-
    kelblaue Balken am linken Bildschirm-
    rand, der den Zustand der geistigen Ge-
    sundheit der Spielfigur anzeigt, rauscht
    schlagartig nach unten. Plötzlich huschen
    noch andere Dinge durch unser Sichtfeld.
    Sie sind nicht real. Aber was ist das hier
    schon. Die Psyche flackert wie eine Ker-
    ze. Nachdem der Schattenriese fast vor-
    übergezogen ist, packt uns der Übermut:
    Wir feuern eine Harpune in Richtung
    Kreatur, die für sie den gleichen Schre-
    cken besitzen dürfte wie eine Stecknadel
    für einen Blauwal. Sie entschwindet ge-
    mächlich, lässt sich nichts anmerken.
    In diesem Kapitel taucht man als Privat-
    detektiv Charles Winfield Reed (zufällig
    ehemaliger Navy-Taucher) in die Tiefe,
    um dem Verbleib einer Expedition zu ei-
    ner Unterwasserhöhle mit mysteriösen
    Gesteinsformationen nachzuspüren. In
    der Höhle befinden sich: ein Mann mit ei-
    nem Ritualdolch im Schädel und lauter
    Verrückte. „Götter beugen sich über uns!


Götter kriechen in uns hinein! Götter, de-
nen gegenüber ich mich wie eine mickri-
ge Blattlaus fühle“, sagt ein Mann, der die
Hände final über dem Kopf zusammenge-
schlagen hat und in der Hocke umher-
hüpft. Schuld ist unter anderem ein „per-
fekt erhaltenes Artefakt“ nach Form und
Art eines versteinerten Nautiloiden. Die
Expedition hatte dieses „Siegel“ just ent-
deckt, doch eine Horde überzeugter Kul-
tisten verfolgt andere Interessen.
Reed kann in solchen Momenten auf
sein drittes Auge zählen. Es ermöglicht
ihm und dem Spieler, das Geschehen an
Orten unheilvoller Tätigkeiten zu rekon-
struieren, indem er einen Blick in eine
Art Schattenspiegelwelt wirft, in der die
Aura von Mensch und Monster gleicher-
maßen ihre Spuren hinterlässt. Er sieht
dann beispielsweise, wie Mörder und Op-
fer gestanden haben, und hört, was im
Dunkeln geflüstert wurde. Dann muss er
es nur in einen vernünftigen Zusammen-
hang bringen, indem er die Szenen eines
Schauplatzes in die richtige Reihenfolge
bringt.
Wer das Spiel startet, dem wird gleich
nach der Epilepsiewarnung, noch bevor
es losgeht, weiß auf schwarz erklärt, dass
das Spiel „von den Werken H. P. Love-
crafts inspiriert“ sei und in einer Zeit spie-
le (nämlich in den zwanziger Jahren), „in
der Minderheiten nicht selten von der Ge-
sellschaft diskriminiert wurden“. Nicht,
dass sich das später gelegt hätte, aber es
geht weiter: „Obwohl wir Vorurteile ge-
genüber Minderheiten als falsch erach-
ten, spielen sie in ,The Sinking City‘ eine
Rolle, da wir die Zeit authentisch wieder-
geben wollten, anstatt den Eindruck zu er-
wecken, dass es diese Vorurteile und Dis-
kriminierung nicht gegeben hat.“ Das ist

etwas umständ-
lich für: Lovecraft
war Rassist. Kei-
ner, der durch
eine Ideologie ver-
giftet wurde, son-
dern als Bewoh-
ner des beschauli-
chen Neuengland-
Städtchens Provi-
dence eher ge-
schockt durch un-
glückliche Groß-
stadterfahrungen
war. Später legte
er sich als Intellek-
tueller, als der er sich verstand, seine eige-
ne Ideologie zurecht, und so liest man bei
ihm seitenweise von „Negern“, „Mesti-
zen“ und „Mulatten“, die oft nichts Gutes
im Schilde führen – und unter krummen
„Walmdächern“ leben, die ebenfalls eine
seitenfüllende Rolle in Lovecrafts Werk
einnehmen.
„The Sinking City“ spielt in dem fikti-
ven abgelegenen Städtchen Oakmont in
Massachusetts und orientiert sich stark
an den Geschichten „Die Fakten über Ar-
thur Jermyn und seine Familie“ sowie
„Schatten über Innsmouth“. Nach seiner
Überflutung kommt es in Oakmont zu
Massenhysterien, und auch sonst ge-
schieht allerlei Merkwürdiges: Fremde
kommen, Menschen haben Visionen
oder verschwinden in fremden Visionen.
Fischartig aussehende Bewohner aus
dem nahe gelegenen Küstendorf Inns-
mouth, das von der Polizei geräumt wur-
de, suchen in Oakmont Unterschlupf –
ohne jedoch dort willkommen zu sein.
Vor allem nicht von Robert Throg-
morton, dessen Gesicht wiederum dem

eines Affen äh-
nelt: Ein Merk-
mal seines „alten
Geschlechts“, das
er mit Stolz trägt.
Als Teil einer der
großen Familien
verkörpert er den
Reichtum in Oak-
mont und ver-
schafft Reed, der
stets frank und
frei auf das unge-
wöhnliche Ausse-
hen seiner Ge-
sprächspartner
zu sprechen kommt, die ersten Aufträge.
Als Spieler hat man in den Gesprächen
meist die Wahl zwischen Zustimmung
und Ablehnung, was sich jeweils auf den
Fortgang des Spiels auswirkt. An einer
Stelle weist Reed, wenn sich der Spieler
für diese Dialog-Abzweigung entschieden
hat, seinen konservativen Auftraggeber
zurecht: Er solle die geflüchteten Inns-
mouther nicht pauschal dafür verurteilen,
dass sie sich in ihrer Not an religiöse Ge-
meinschaften klammern. Auf diese Art
mit Lovecraft auf aktuelles Zeitgesche-
hen zu verweisen, das ist schon ein klei-
nes Kunststück.
Man kann die ersten Stunden des
Spiels damit verbringen, die Atmosphäre
aufzusaugen, Spuren nachzugehen, in Ar-
chiven nach Hinweisen zu recherchieren
oder durch die Stadtviertel zu wandern
und dabei zuzuschauen, wie der Schatten
des nahenden Untergangs alle in den
Wahnsinn treibt: Menschen prügeln sich
auf offener Straße (und wehe, man greift
ein), Endzeitprediger fürchten das Ende
aller Tage, und ulkig gekleidete Kultisten

gehen über die Straße, als wären sie die
neuen Dandys dieser düsteren Zeit.
Wer wirklich eintauchen will in diese
sinkende Stadt, der muss lesen: Briefe,
Notizen, Tagebucheinträge, Wandschmie-
rereien und herausgerissene Seiten verbo-
tener Bücher – und am besten natürlich
auch im Originalwerk. Der Grusel entfal-
tet sich vor allem durch ein einzigartiges
Zusammenspiel der Anhaltspunkte, die
das Spiel vorgibt, und der durch die
Schriftfragmente beflügelten Phantasie
des Spielers. Eine Nebenaufgabe etwa
führt uns in ein Haus im Bezirk Reed
Heights. Ein hinterlassener Brief kündet
davon, dass eine Frau hier etwas Schreck-
liches geboren hat. Wer sich umblickt,
sieht blutige Spuren von Babyhandabdrü-
cken, die sich an den Wänden (ausgerech-
net!) entlang bis zu einer Luke in der zwei-
ten Etage verfolgen lassen. Der Rest wird
der Vorstellungskraft überlassen.
Die optische Oberfläche des Spiels
kommt jedoch schludrig daher. Das be-
ginnt mit dem angefressenen Haikadaver
mit der obszönen Bisswunde, den der
Spieler wiederholt an verschiedenen Stel-
len der Stadt auf dem Boden findet. Das
Geschäft „Men’s Finest Clothing“ hat so
viele Ableger in der Stadt, dass man sich
bald fragt, ob es einen gesteigerten Be-
darf an feiner Männermode oder aber kei-
ne Frauen gibt. Es scheint, als hätten die
Entwickler sich mit den optischen Details
der ansonsten atmosphärisch stark gestal-
teten Umgebung nicht aufgehalten –
steckt ein tieferer Sinn dahinter, so hat er
sich uns nicht erschlossen. Oder gilt etwa
Reeds Navy-Erkennungsmarke als Hin-
weis, die das berühmte Gedicht von Ed-
gar Allan Poe zitiert: „All that we see or
seem / Is but a dream within a dream.“

Ja, natürlich gibt es auch Monster. Sie
sind nicht besonders schön, um nicht zu
sagen: von erlesener Scheußlichkeit. Irri-
tierend ist, dass die sogenannten „Wylde-
biester“, die Oakmont seit der Überflu-
tung heimsuchen, immer auch (mindes-
tens) eine menschliche Komponente ha-
ben, aber selten ein Gesicht – und wenn,
dann ist dort zu viel von etwas, was da
nicht hingehört. Glücklicherweise sind
die Biester nicht so zahlreich: Patronen –
in Oakmont die einzig anerkannte Wäh-
rung – sind rar. Das sorgt dafür, dass „The
Sinking City“ nicht zum Ballerspiel ver-
kommt.
Und also gilt es, den Wahnsinn zu
umarmen. Das funktioniert in „The Sin-
king City“ vor allem deshalb, weil sich
hier die Medien Videospiel und Buch auf
einzigartige Weise überschneiden und er-
gänzen. Das eigentliche Grauen wird bei
Lovecraft meist indirekt, oft aus der Fer-
ne und dem Wissen beschrieben, dass der
Erzähler (wenn auch geistig versehrt)
überleben wird. Im Videospiel aber ist der
Spieler mit Situationen konfrontiert, an
die sich der Autor in seinen Büchern
selbst nicht gewagt hat.
So befruchten sich Lovecrafts Werk
und sein Erbe in Form dieses virtuellen
Detektivabenteuers gegenseitig und kön-
nen einem herrlich schlaflose Nächte be-
reiten. In solchen lauscht man frei nach
H. P. Lovecraft dem „gedämpften, irrema-
chenden Schlag von Trommeln und dem
dünnen, monotonen Klagen der gottlosen
Flöten aus unvorstellbaren, unbeleuchte-
ten Kammern jenseits der Zeit; das ab-
scheuliche Trommeln und Pfeifen, zu
dem die gigantischen, schattenhaften,
höchsten Götter langsame, unbeholfene
und absurde Tanzschritte machen – die
blinden, stimmlosen, hirnlosen Scheusa-
le, deren Seele“ auch dieses Videospiel
ist. AXEL WEIDEMANN
The Sinking Cityist für Playstation 4, Xbox One,
Nintendo Switch und den Windows-PC erhältlich
und kostet etwa 25 Euro.

SALZBURG, Anfang August

B


ei der Bach Biennale in Weimar
ist dieser Tage behauptet worden,
Johann Sebastian Bach weise in
seiner Musik schon auf das Bau-
haus voraus. Allen Ernstes! Aber so ist
das heutzutage: Wer etwas darstellen will
oder Fördermittel bekommen möchte,
muss nachweisen, dass jemand oder et-
was schon auf jemanden oder etwas vor-
ausweist. Am besten auf unsere Gegen-
wart, denn die ist das Allergrößte und Al-
lerbeste, worauf man überhaupt voraus-
weisen kann. Also weist Luther auf das
Grundgesetz voraus und die deutsche
Hanse auf die Europäische Union; Mo-
zarts „Idomeneo“ weist auf eine verant-
wortungsvolle Klimapolitik voraus und
Beethoven natürlich auf Schroeder, den
besten Freund von Charlie Brown. Beet-
hoven war nämlich für die Massendemo-
kratie und den barrierefreien Zugang zur
Kunst für alle.

Wer mit diesem Druck des Vorausweis-
Nachweises angefangen hat, ist nicht zu
klären, aber Ludwig van Beethoven war
einer der Ersten mit seiner Devise: „Wei-
tergehn ist in der Kunstwelt wie in der
ganzen großen Schöpfung Zweck.“ Jetzt
hat Grigory Sokolov im Großen Festspiel-
haus in Salzburg einen Klavierabend gege-
ben, mit dem er nachwies, dass Beetho-
ven nicht nur auf Schroeder vorauswies,
sondern auch auf Beethoven: der frühe
nämlich auf den späten. Sokolov begann
mit der Klaviersonate C-Dur op. 2 Nr. 3,
die Beethoven als Fünfundzwanzigjähri-
ger schrieb, und ließ die Bagatellen
op. 119 folgen, Miniaturen des Fünfzigjäh-
rigen.
Man sagt Beethoven, mit einigem
Recht, einen erheblichen Finalismus in
seiner Musik nach: eine Zuspitzung musi-
kalischer Konsequenzlogik auf ein End-
ziel, meistens auch einen triumphalen
Endsieg hin, der eine klingende Analogie
formuliere zur optimistischen Geschichts-
philosophie, wie sie Georg Wilhelm Fried-
rich Hegel zur gleichen Zeit zum System
ausbaut. Aber die späten Bagatellen fei-
ern die Inkonsequenz mit unvorhersag-
baren Formverläufen. Sokolov spielte die
Nummer sechs in G-Dur, so wie Kinder
mit einem Drehprisma voller bunter Glas-

splitter spielen. Mit jeder Drehung ent-
standen neue, sinnvolle, aber unvorher-
sehbare Gestalten. Eine Poesie der Kon-
tingenz, ein Fest des Zufalls, das in den
letzten zwölf Takten leise im gläsernen
Klavierdiskant wie in einer Spieldosen-
welt verschwand: Musik ohne System-
zwang, die sich nicht mehr scherte um
eine Dialektik der Rechthaberei.
Aber, wie gesagt, Sokolov nahm diese
Erkenntnis vorweg in seinem Spiel des
Frühwerks. Man kann diese C-Dur-Sona-
te, ein konzertantes Glanzstück, auch
eine taktile Angeberei des jungen Virtuo-
sen, sehr voranpreschend spielen: rhyth-
misch drängend, mit dichten Anschlüssen
der Formteile. Friedrich Gulda hatte das


  • noch heute bewundernswert, durchaus
    mitreißend – vor fünfzig Jahren getan. So-
    kolov tat es nicht. Technisch war und ist
    ihm zwar nichts zu schwer, und auch sein
    Grundtempo im Eingangsallegro blieb
    feurig. Aber er ließ jede Phrase ausatmen,
    jeden Formteil in sich selbst, manchmal
    durch deutliche Zäsuren, Erfüllung fin-
    den, bevor es weiterging.
    Und das ist gar nicht so verfehlt, wie es
    die Interpretationsgewohnheiten glauben
    machen könnten. Denn hat der Seitenge-
    danke in g-Moll, den Beethoven ab Takt
    27 aus einem frühen Klavierquartett in
    diese Sonate übernimmt, nicht wirklich
    den Charakter einer selbständigen Episo-
    de, die auf nichts vorausweist, die aus kei-
    ner Prozesslogik ableitbar ist? Statt auf
    ein Endziel im motivisch-thematischen
    Verlauf der Sonatendramaturgie hinzu-
    steuern, blieb bei Sokolov jede einzelne
    Station des Prozesses in sich sinnvoll, qua-
    si „unmittelbar zu Gott“, wenn man es ge-
    schichtstheologisch formulieren will.
    Mit einer singenden, gutmütigen Weis-
    heit blickte Sokolov auf den Finalismus
    der Form bei Beethoven, als wollte er sa-
    gen: „Pass auf! Beim Weitergehen kannst
    du ganz leicht das Glück zertreten, das dir
    schon längst zu Füßen liegt.“
    Die späten Klavierstücke op. 118 und
    119 von Johannes Brahms, die Sokolov in
    der zweiten Hälfte auf Beethoven folgen
    ließ, haben diesen Optimismus des End-
    siegs sowieso schon lange hinter sich.
    „Ich weiß nicht, wohin die Musik noch
    kommt. Mir scheint fast, sie hört ganz
    auf“, soll Brahms, als er die Stücke um
    1893 herum schrieb, zu Richard Heuber-
    ger gesagt haben. Sokolov ließ diese Me-
    lancholie, die im es-Moll-Intermezzo op.
    118 Nr. 6 die Grenze zum Nihilismus
    streift, nicht zur Pose geraten, kostete
    auch im unübertrefflich schönen h-Moll-
    Intermezzo op. 119 Nr. 1 die Süße der Dis-
    sonanzen in den langen Terzenketten
    maßvoll aus, ohne den Reiz zu überdeh-
    nen. In Bad Ischl, wo Brahms seine letz-
    ten Sommer verbrachte und diese Minia-
    turen komponierte, weilte damals auch
    Eduard Schütt, der wunderbare Schlager
    ohne Worte für Klavier schreiben konnte
    und mit Brahms befreundet war. Man
    kann in Brahms’C-Dur-Intermezzo op.
    119 Nr. 3 eine Nähe zu Schütts „Souvenirs
    lyriques“ hören oder im walzernden Mit-
    telteil des e-Moll-Intermezzos op. 119 Nr.
    2 eine Seelenverwandtschaft mit Schütts
    „Bluettes en forme de Valse“. Es ist eine
    musikalische Feier des Aufschubs, des
    Glücks des Augenblicks in dem Wissen,
    wie Ludwig Tieck dichtete und schon der
    junge Brahms es vertonte: „Zukunft ist
    von Hoffnung leer.“ JAN BRACHMANN


Nicht alles Glück


liegt im Weitergehen


ImSpätherbst 1968 kam es in den Verei-
nigten Staaten zu einer spannenden Be-
gegnung: Jean-Luc Godard, der Star des
europäischen Autorenkinos, traf auf Ri-
chard Leacock und Don Alan Penne-
baker, zwei Helden des Direct Cinema.
Sie wollten gemeinsam einen Film über
Amerika machen, ganz aus dem Geist der
Zeit, also mit Musik von Jefferson Air-
plane, mit den schwarzen Intellektuellen
LeRoi Jones und Eldridge Cleaver, mit
Tom Hayden, einem herausragenden
Kopf der Linken im Land, und damals
auch der Lebensgefährte von Jane Fonda.
„One American Movie“ sollte die Perspek-
tive des radikal politisierten Godard auf
Amerika zeigen, und Leacock und Penne-
baker sollten, mit ihrer beweglichen Ka-
mera, gewissermaßen seine Augen sein.
Es waren dann aber gerade die Eigen-
heiten dieser Kameraarbeit, die das Pro-
jekt scheitern ließen. Godard stieß sich
an den vielen Zooms, dabei war das gera-
de das Prinzip der dokumentarischen Ar-
beit von Leacock und Pennebaker: immer
auf dem Sprung, immer geistesgegenwär-
tig auf die Situation zu reagieren. Penne-
baker hatte diese Form einer unauffälli-
gen Präsenz in komplexen Zusammenhän-
gen davor mit zwei Musikfilmen etabliert:

„Don’t Look Back“ kam 1967 heraus und
zeigte Bob Dylan auf einer England-Tour-
nee im Jahr 1965. „Monterey Pop“ (1968)
war der offizielle Konzertfilm des Festi-
vals vom Juni 1967 in Kalifornien, das all-
gemein als Höhepunkt des „Summer of
Love“ galt. Pennebaker kondensierte das
dreitägige Ereignis auf weniger als einein-
halb Stunden und hob die spielerisch-de-
struktiven Höhepunkte mit Auftritten
von „The Who“ und Jimi Hendrix in ei-
nem herausragenden Moment musikali-
scher Transzendenz auf: Ravi Shankar
war eigentlich am Sonntag ganz früh dran
gewesen, in der Montage von Pennebaker
kam er aber ganz zum Schluss, als eine
Art Epilog, der die geläufige Dramaturgie
von Konzertveranstaltern unterlief.
Pennebaker hatte schon zu Beginn sei-
ner Laufbahn als Dokumentarfilmer mit
Musik gearbeitet. Der kurze, experimen-
telle „Daybreak Express“ (1953) ließ
sich von einem Duke-Ellington-Titel in-
spirieren. Don Alan Pennebaker, gebo-
ren 1925 in Evanston in Illinois als Sohn
eines Fotografen, hatte sich nach dem
Zweiten Weltkrieg, in dem er bei der Ma-
rine gedient hatte, eine Weile mit frühen
Computersystemen beschäftigt, wandte
sich dann aber einem ganz anderen Me-

tier zu: In den fünfziger Jahren stieß er in
New York auf eine junge Filmbewegung,
die ihm bald die Möglichkeit gab, sich in
verschiedensten Funktionen auszupro-
bieren. 1959 war er als Produzent bei
Shirley Clarkes „Skyscraper“ involviert,
in dem man ein Hochhaus an der Fifth
Avenue wachsen sehen kann.
Zu diesem Zeitpunkt war Pennebaker
auch schon mit Robert Drew und Richard
Leacock bekannt, mit denen er 1960 „Pri-
mary“ herausbrachte: Beobachtungen
von der Kandidatur John F. Kennedys,
der sich in Wisconsin um die Nominie-
rung der Demokratischen Partei für die
Präsidentenwahl bewarb. Ein Wahlkampf
war geradezu ideal für die Möglichkeiten
des gerade entstehenden „direct cinema“,
einer Dokumentarfilmbewegung, bei der
sich die Autoren zurückhielten und ver-
suchten, so gut wie möglich auf das Ge-
schehen einzugehen, in dem sie sich vor-
fanden. Pennebaker fungierte bei „Prima-
ry“ als Schnittmeister.
1963 gründete er mit Leacock eine ei-
gene Firma und wurde bald zu einem der
gefragtesten Dokumentaristen im boo-
menden Musikgeschäft. Mit Bob Dylan
arbeitete er mehrfach (bis heute ist nicht
alles veröffentlicht), und mit David Bo-

wie drehte er 1973 den Konzertfilm „Zig-
gy Stardust and the Spiders from Mars“.
Das Jahr 1976 erwies sich in den kolla-
borativen Zusammenhängen, an die Pen-
nebaker gewöhnt war, als entscheidend,
denn er traf Chris Hegedus, auch sie eine
Filmemacherin. Das Paar heiratete 1982,
und arbeitete in all den Jahren seither ge-
meinsam, zum Beispiel mit Depeche
Mode oder 2006 mit dem Komiker und
späteren Politiker Al Franken. 1993 kehr-
te Pennebaker mit „The War Room“ zur
Politikbeobachtung seiner Anfänge zu-
rück – mit Blick auf seine wichtigsten Be-
rater James Carville und George Stepha-
nopoulos werden die frühen Phasen der
Präsidentschaftskandidatur von Bill Clin-
ton gezeigt.
Im Rückblick wird das „direkte Kino“
von D. A. Pennebaker wohl auch auf die
zunehmenden Formen von „embedded-
ness“ hin neu zu betrachten sein. Mit den
manchmal prekären Übergängen zwi-
schen Auftragsarbeit und revelatori-
schen Momenten führte er das dokumen-
tarische Kino bis nahe an die radikal ab-
gedichteten Mediengegenwarten von
heute. Am Donnerstag ist D. A. Penne-
baker im Alter von 94 Jahren in Long Is-
land gestorben. BERT REBHANDL

Salzburger Festspiele

Wie direkt kann Kino sein, ohne sich anzubiedern?


„Ziggy Stardust and the Spiders from Mars“ zum Beispiel: Zum Tod des Dokumentarfilmers D. A. Pennebaker


Abscheuliches Trommeln in finsterfeuchter Welt


Nach Motiven von H. P. Lovecraft: Das Videospiel „The Sinking City“


Grigory Sokolov gibt in


Salzburg einen großen


Klavierabend, bei dem


er den Finalismus in


Beethovens Musik mit


überlegener Weisheit


ausbremst und bei


Brahms die Lust am


Augenblick feiert.


„Don’t Look Back“: D. A. Pennebaker in typischer Pose mit Kamera auf der Schulter nah bei Bob Dylan während dessen England-Tour 1965 Foto Michael Ochs Archives/Getty Images

Tief unten: Monster oder Mensch? Foto Frogwares
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