Frankfurter Allgemeine Zeitung - 05.08.2019

(Dana P.) #1

SEITE 12·MONTAG, 5. AUGUST 2019·NR. 179 Feuilleton FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


U

m eine schlagkräftige Vertre-
tung ihrer Belange zu gewähr-
leisten, haben sich die wesentli-
chen Verbände des Kunsthan-
dels Ende 2018 in der „Interessengemein-
schaft Deutscher Kunsthandel“ zusam-
mengeschlossen. Die Interessengemein-
schaft beerbt das „Aktionsbündnis Kul-
turgutschutz“, das in den Jahren 2015
und 2016 zahlreiche Einwände gegen das
neue Kulturgutschutzgesetz unter der
Ägide von Kulturstaatsministerin Moni-
ka Grütters vorgebracht hat. Es geht
nicht nur um den guten Ruf einer Bran-
che, sondern um die Verteidigung eines
mittelständischen Geschäftsmodells, das
von vielen Seiten unter Druck gerät.
Neben dem Kulturgutschutzgesetz sor-
gen die Abschaffung der ermäßigten
Mehrwertsteuer im Jahr 2014, die fünfte
EU-Geldwäscherichtlinie, die den Kunst-
markt explizit erwähnt, und die EU-Ein-
fuhrverordnung für Unmut unter den
Händlern. Die pointierten Pressemittei-
lungen der Interessengemeinschaft signa-
lisieren hohe Dringlichkeit. So lief im Ja-
nuar die Meldung unter dem Titel: „Au-
ßer Spesen nichts gewesen?“ Gemeint
war die Evaluierung des Kulturgutschutz-
gesetzes, die den Mehraufwand des Han-
dels – insbesondere durch die stark erhöh-
ten Sorgfaltspflichten – erst im zweiten
Durchgang 2021 unter die Lupe nehmen
soll. Im März hieß es dann: „Politischer
Wille statt Fakten“. Das zielt auf die seit
dem Syrien-Konflikt vieldiskutierte The-
se, der Schwarzmarkt mit Raubkunst, ins-
besondere aus Krisengebieten, sei ähn-
lich lukrativ wie der Drogen- und Waffen-
schmuggel – also ein globales Milliarden-
geschäft – und spiele dem sogenannten
„Islamischen Staat“ in die Hände.
Zweifel an Überlegungen, dass eine
strenge Regulierung des Handels mit Kul-
turgütern zu rechtfertigen sei, wurden
schon vor einigen Jahren laut. In der Jah-
resstatistik 2017 der deutschen General-
zolldirektion kommt der illegale Kultur-
guthandel nicht vor. Der aktuelle Jahres-
bericht der „Financial Intelligence Unit“
erwähnt das Uhren- und Schmuckge-
schäft, kann aber nur auf marginale Fall-
zahlen verweisen. Der „Illicit Trade Re-
port“ der Weltzollorganisation für 2017
setzt „cultural heritage“ zwar im Inhalts-
verzeichnis an erste Stelle. Die Analyse
des Berichts durch den Verband der Anti-
kenhändler (IADAA) zeigt aber, dass der
Drogenhandel mengenmäßig der größte
Posten ist, während nur 0,2 Prozent des
statistisch erfassten Volumens auf Kultur-
gut entfallen. Auch zählte der Antiken-
schmuggel gemäß einer 2017 auf der
Münchner Sicherheitskonferenz präsen-
tierten Studie des King’s College nicht zu
den herausgehobenen Geldquellen des
Kalifats in Syrien.
Allerdings hat das aktuelle Kulturgut-
schutzgesetz eine lange Vorgeschichte
und ist nicht allein unter dem Eindruck
der politischen Lage im Nahen Osten ent-
standen. Erst 2007 ratifizierte die Bun-
desrepublik die einschlägige Unesco-
Übereinkunft von 1970. Die in diesem
Zug erlassenen Gesetze wurden 2013 eva-
luiert und mit der Neuregelung von 2016
ersetzt. Während die frühere Praxis als in-
effizient und lax kritisiert wurde, steht
nun der Vorwurf übertriebener Strenge
im Raum. Das Ausmaß der durch die Re-
gulierung einzudämmenden Kriminali-
tät ist eine entscheidende Größe, um
über die Angemessenheit der getroffe-
nen Maßnahmen urteilen zu können.
Wie alle Statistiken sind die Erhebun-
gen der Zollbehörden interpretationsbe-
dürftig. Die geringe Zahl der beschlag-
nahmten Kunstgegenstände mindert
nicht die Dringlichkeit des Problems aus
der Sicht der Herkunftsländer. Zudem
ist der internationale Kunstschutz weni-
ger gut aufgestellt als zum Beispiel die
Drogenfahndung und erzeugt einen ge-
ringeren Verfolgungsdruck. Das heißt,
die Dunkelziffer dürfte im Verhältnis zu
den aktenkundigen Fällen überpropor-
tional hoch sein.
Die Vermessung dieses Dunkelfelds,
über dessen Beschaffenheit bisher nur
spekuliert werden konnte, war Gegen-
stand der Pilotstudie „Illegaler Handel
mit Kulturgut in Deutschland“ mit dem
Kunstnamen „Illicid“. Dieser soll in „be-
wusster Ambiguität“ auf die englische
Bezeichnung für Raubgrabungen (illicit
excavations) verweisen. In ihrer jüngsten
Pressemitteilung rekurriert die Interes-
sengemeinschaft Deutscher Kunsthan-
del auf die Ergebnisse von Illicid, um
einen umfassenden „Freispruch für den
Kunsthandel“ zu konstatieren: Die Stu-
die sei den Beweis ihrer Vorannahmen
zu Umfang und Wesen des grauen
Markts am Ende schuldig geblieben.
Doch worum ging es bei Illicid über-
haupt? Zwischen 2015 und 2018 ent-
wickelten drei Projektpartner Methoden
zur Erschließung des fraglichen Dunkel-

felds, dessen Verbindungen zum organi-
sierten Verbrechen als gegeben voraus-
gesetzt wurden. Verbundkoordinator
war Markus Hilgert, damals Direktor
des Vorderasiatischen Museums in Ber-
lin, seit Ende 2017 Generalsekretär der
Kulturstiftung der Länder. Mittels einer
exemplarischen Marktbeobachtung, die
sich aus naheliegenden Gründen auf an-
tike Kulturgüter aus dem östlichen Mit-
telmeerraum beschränkte, und einer In-
formantenbefragung sollte das Projekt
ein Strategiepapier für Politik und Be-
hörden ausarbeiten.
Die Abschlussberichte der drei Teilvor-
haben sind seit einiger Zeit auf der Inter-
netseite der Technischen Informationsbi-
bliothek Hannover abrufbar: Das Fraun-
hofer-Institut für Sichere Informations-
technologie (SIT) entwickelte eine Infra-
struktur zur automatisierten Auswertung
einschlägiger Angebote sowie eine App
mit Bildähnlichkeitssuche, die – falls sie
zur Marktreife gelangt – fehlende Kenner-
schaft beim Zoll ersetzen könnte. Das
Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften
modellierte Fragebögen nach dem eta-
blierten Muster der kriminologischen
Dunkelfeldforschung, die an alle deut-
schen Antikenhändler verschickt wur-
den. Die Analyse der Daten, insbesonde-
re aber die wissenschaftliche Beschrei-
bung der auf dem Markt zirkulierenden
Objekte mit problematischer Provenienz,
erfolgte am Vorderasiatischen Museum.
Die Akteure legen Wert darauf, dass
die in Hannover publizierten Dokumen-
te vorrangig die Funktion erfüllen, die
Verwendung der Mittel gegenüber dem
Bundesministerium für Bildung und For-
schung nachzuweisen, den eigentlichen
Gesamtabschlussbericht aber nicht erset-
zen können. Erst dieser wird die Erträge
der Teilprojekte zusammenführen, die
gewonnenen Erkenntnisse im Kontext
bewerten und das Ganze zu einer Hand-
reichung bündeln, die zielgruppenspezi-
fische Empfehlungen ausspricht. Für
eine fundierte Auseinandersetzung wird
man diese für den Herbst 2019 angekün-
digte Publikation abwarten müssen.
Als politiknahes Projekt muss sich
Illicid politisch motivierte Kritik gefallen
lassen, zumal der weitreichende Geldwä-
scheverdacht, den man als Angriff auf
die Ehre eines ganzen Berufsstands ver-
stehen kann, mit den gewählten Metho-
den weder zu erhärten noch zu widerle-
gen war. Ferner bleibt fraglich, ob die
Auswertung des frei zugänglichen Han-
dels und die Angaben der Befragten aus-
reichen, um der Raubgräberei und ihren
mehr oder weniger sichtbaren Vertriebs-
wegen auf die Spur zu kommen – oder ob
man dazu nicht investigative Ansätze nut-
zen muss. Kein seriöser Händler – und
erst recht kein raffinierter Verbrecher –
wird offen anbieten, was er selbst für ille-
gal hält. Der wirklich graue Markt liegt
jenseits der Auktionskataloge.
Die veröffentlichten Zahlen sind auf
jeden Fall kommentarbedürftig. Illicid
ermittelte über einen Zeitraum von zwei
Jahren 6133 Objekte aus dem östlichen
Mittelmeerraum, die für knapp 1,7 Mil-
lionen Euro veräußert wurden. Ein Milli-
ardengeschäft sieht anders aus. Weniger
als die Hälfte dieser Gegenstände
stammt aus Syrien oder dem Irak; ein
Viertel der vorderasiatischen Artefakte
sind außerdem Fälschungen. Notwendig
wär ein Rückabgleich mit Auktionsda-
ten aus der Zeit vor Ausbruch des
Syrien-Konflikts im Jahr 2011 und mit
aktuellen Zahlen. Konnte außerdem das
Kulturgutschutzgesetz, das während der
Laufzeit von Illicid in Kraft getreten ist,
bereits messbaren Einfluss auf das Han-
delsvolumen entwickeln?
Der zentrale Streitpunkt betrifft die
Provenienzen. Nur 2 Prozent der unter-
suchten Angebote erfüllen die strengen
Vorgaben des neuen Rechts, das nur die
Objekte als legal eingeführt anerkennt,
für die Ausfuhrpapiere des Herkunfts-
lands vorliegen. Hier stehen zwei diver-
gierende Deutungen im Raum: Entwe-
der das gehandelte Kulturgut aus dem
östlichen Mittelmeerraum stammt zu
98 Prozent aus dubiosen Quellen – oder
die gegenwärtigen Regeln sind praxis-
fremd. Jeder konstruktive Vorschlag zur
Regulierung des Antikenhandels hängt
von der Antwort auf diese Frage ab.
Wie die Restitutionsdebatte gezeigt
hat, sind selbst staatliche Institutionen
regelmäßig damit überfordert, lückenlo-
se Provenienzen für ihre Sammlungen
vorzulegen, nicht zuletzt in der Folge
kriegsbedingter Aktenverluste. Bei Ob-
jekten, die seit Generationen unter Pri-
vatleuten zirkulieren, ist erst recht davon
auszugehen, dass die Dokumentation
nicht den gesteigerten Ansprüchen von
heute genügt. Ein Missbrauch der Anga-
be „alte Privatsammlung“ lässt sich frei-
lich nie ausschließen. Dennoch fehlt ein
gangbares, faires Verfahren für Objekte,
die von ihren Besitzern aufgrund fehlen-
der Unterlagen nicht mehr in Verkehr ge-
bracht werden dürfen, was selbst bei for-
mal korrekten Erwerbungen der jünge-
ren Vergangenheit vorkommen kann.
Sollen in Zukunft die Museen nach-
richtenloses Kulturgut treuhänderisch
übernehmen, so wie sich die Kirche in
Goethes „Faust“ das für Gretchen be-
stimmte Schmuckkästchen einverleibt?
Selbst Rückgaben setzen ja ein gesicher-
tes Wissen um die Herkunft voraus.
Endlich ist auch die Frage offen, wie
Antiken ohne Provenienz in Zukunft
bei der Erbschaftsteuer zu behandeln
sind: Was nicht mehr gehandelt wer-
den darf, müsste eigentlich wertlos
sein. CHRISTOPH SCHMÄLZLE

Die Sache mit den


Ausfuhrpapieren


Was genau Christian Thielemanns Titel
„Musikdirektor“ der Bayreuther Festspie-
le bedeutet, darüber darf nach wie vor ge-
rätselt werden. Den persönlichen Park-
platz am Festspielhaus, der die Wichtig-
keit des Amtes untermauern soll, hat sich
Thielemann aber schon allein durch sein
Dirigieren verdient. Er ist der unangefoch-
tene Primus unter den Orchesterleitern in
dieser Premierenwoche. Er ist allerdings
auch der Erfahrenste: Seit nunmehr neun-
zehn Jahren dirigiert Thielemann in Bay-
reuth, die speziellen akustischen Verhält-
nisse des verdeckten Orchestergrabens
machen solche Erfahrung offenbar zum
wichtigen Faktor. Keiner, der das Fest-
spielorchester so zart und zugleich prä-
sent spielen lässt, keiner, der dem Klang
des Orchesters eine ähnliche Griffigkeit
verleiht. Der dämpfenden und mischen-
den Wirkung des Bayreuther Grabens auf
den Orchesterklang muss das erst einmal
abgetrotzt werden.


Womit Thielemann auch einem Irrtum
entgegentritt: dass bei Wagner sich nicht
nur die Hörer zurücklehnen dürfen, son-
dern auch die Musiker. Weil ja sowieso al-
les irgendwie gut klingen wird, dem Meis-
ter sei Dank, der den Instrumenten stets
aus der Seele schrieb. Thielemann bringt
in Erinnerung, dass es bei Wagner dersel-
ben Mühe bedarf, wie sie für die Erarbei-
tung von Musik früherer Epochen selbst-
verständlich ist: die Pflege einer klaren
Artikulation, einer durchdachten Phrasie-
rung und eines transparenten Klangbil-
des. Wagner verzichtete ja nicht auf Struk-
turen, um die berauschende Wirkung sei-
ner Musik hervorzurufen. Wie sich etwa
beim „Tristan“ – Thielemann dirigierte
ihn nun in der Inszenierung von Kathari-
na Wagner – die Vorspiele zu den drei
Aufzügen jeweils aus einem Dreischritt
entwickeln – zwei Anläufe, denen eine
dritte, weiter ausgreifende Phrase folgt –,
ist hier in schönster Klarheit zu hören. Es
bleibt nicht bei der bloßen Überwälti-
gung, wie sie die Wagner’sche Musik auf
den Hörer ausübt. Thielemann öffnet den
Blick in die Werkstatt des Komponisten
und räumt damit zugleich eine Chance
auf Distanz ein.
So veredelte er den märchenartigen
„Lohengrin“ in der Ausstattung von Neo
Rauch und Rosa Loy. Bei Katharina Wag-
ners düsterem „Tristan“ – nächstes Jahr
wird er dem neuen „Ring“ weichen – ist
Thielemanns Dirigieren gar die Lebens-
versicherung. Die Sänger jedenfalls bie-
ten kein allzu ausgeprägtes Profil. Ste-
phen Gould ist ein Tristan, der seiner Rol-
le, was das Durchhaltevermögen angeht,
gewachsen ist. Wenn er aber nicht zum
Forte gezwungen ist, wo er dann zu kerni-
gem Klang findet, hängt seine Stimme
seltsam durch. In der Erschlaffung ver-
schwimmt nicht nur die Charakterzeich-
nung der Rolle (vor allem Goulds Tapsig-
keit bleibt in Erinnerung), auch die Into-


nation zieht es nach unten, bis zu einem
Viertelton.
Petra Lang singt intonationssicher,
doch ihre Isolde bleibt vage. Der offene
Klang ihrer Stimme legt sich mühelos
auch über ein vollzählig spielendes Or-
chester, bei intimeren Passagen wirkt die
Offenheit ihrer Stimme aber zu wenig ein-
gefasst. Es entsteht ein beliebiger Ein-
druck, auch die Textverständlichkeit lei-
det. Zu Lautstärke und darstellerischer
Blässe tendieren auch die Sänger der Ne-
benrollen: Christa Mayer als Brangäne,
die es an reiner Stimmkraft mit ihrer Her-
rin aufnehmen kann und ihr auch in der
Undefiniertheit der Rolle ähnlich ist;
Greer Grimsley als Kurwenal, der zum
Bellen neigt. Deutlich hebt sich Georg
Zeppenfeld ab als König Marke: Markig
und doch elegant singt er, dabei so spre-
chend, dass sich auch der Text gut verste-
hen lässt. Ebenso Tansel Akzeybek, des-
sen Steuermann zu Beginn der feine Hohn
seines Gesangs deutlich anzuhören ist.

Dass so unklar ist, was mit den Rollen
anzufangen sei, deutet auf grundlegende
Probleme in Katharina Wagners Inszenie-
rung hin. Den „Tristan“ versetzt sie in ein
mechanisch-geometrisches Umfeld, das
der Liebe zwischen den beiden Hauptfigu-
ren keinen Raum lassen möchte. Im Trep-
pengewirr des ersten Aktes (Bühne:
Frank Philipp Schlößmann und Matthias
Lippert) steigen Tristan und Isolde anein-
ander vorbei, im zweiten Akt sehen sie
sich in einem Zwinger eingeschlossen,
von dessen Begrenzung herunter die
Suchscheinwerfer das Tête-à-tête ganz un-
romantisch ausleuchten, der dritte Akt ist
ganz in Dunkelheit getaucht, wobei ein
paar rote Grablichter Trost spenden und
später hell leuchtende Dreiecke, in denen
Isolde als Traumbild erscheint.
Wie sich die Figuren des Stückes zu die-
ser Umgebung verhalten, bleibt unklar.
Fühlen sich Isolde und Tristan eingeengt?
An der gemächlichen, nahezu gemütli-
chen Art, mit der sich Stephen Gould und

Petra Lang über die Bühne bewegen, lässt
sich das schwer ablesen. Und auch die
symbolischen Handgriffe, die beide vor-
nehmen, helfen beim Verständnis nicht
viel weiter: etwa wenn sie leicht gelang-
weilt mit den Rippen eines Eisenthorax
spielen, der Isolde im zweiten Akt um-
schließt wie das Drehkreuz eines Freibad-
ausgangs. Es bleibt vor allem der Ein-
druck deprimierender Düsternis. So fins-
ter ist sie, dass auch das Vorhandensein ei-
ner Traumwelt geleugnet scheint, in der
Tristan und Isolde sich begegnen könn-
ten. Ihr Lebensraum, den Wagners Musik
noch vielfarbig ausmalt, ist ihnen auf der
Bühne entzogen. Punkte für die Musik
zum Andocken hält die Bühne in ihrer
geometrischen Härte nicht bereit.
Auch Christian Thielemanns farbrei-
ches Dirigieren kann da nicht richtig hel-
fen. In der Kraft und Durchdachtheit ih-
rer Gestaltung gerät die Musik eher zum
Vorwurf für eine Bühne, die nicht mithal-
ten kann. CLEMENS HAUSTEIN

DieGeschichte der Philologie lässt sich
auch als die Geschichte ihrer großen wis-
senschaftlichen Schulen erzählen. Geis-
tesgeschichtlich produktiv werden die
Schulen oft gerade im Bruch, wenn einer
ausschert aus dem Konsens der Schüler
und Schülersschüler, wie es Nietzsche
1872 tat, als ihn „Die Geburt der Tragö-
die“ aus dem Kreis der „Bonner Schule“
katapultierte. Was den Abtrünnigen
dann aber fester mit der alten Schule ver-
band, als es bloße Nachfolge vermocht
hätte, war der Ernst, mit dem er auf seine
Weise die Überlieferung von den Schla-
cken einer „falschen“ Tradition zu befrei-
en suchte.
Der Bonner Klassische Philologe Otto
Zwierlein ist der letzte, der die einst von
Friedrich Ritschl, Hermann Usener und


Franz Bücheler begründete Schule noch
am angestammten Ort mit Glanz vertritt.
Keiner versteht es wie er, zugleich Ikono-
klast und Retter der Tradition zu sein.
Was hat er nur alles aus dem Wege ge-
räumt! Er ist an die Fundamente der
Überlieferung so unterschiedlicher Auto-
ren wie des jüngeren Seneca, des Plautus,
Vergil, Ovid und Dracontius gegangen.
Und was er sah, war längst nicht immer
gut: Zu- und Nachdichter hatten sich an
den Texten vergriffen und sie nach Belie-
ben umgestaltet. Zwierleins „Geschich-
ten“ sind im Kern Detektivgeschichten,
die das Zeug haben, Weltgeschichten wie
die von Umberto Eco (Aristoteles) und
Stephen Greenblatt (Lukrez) zu werden.
So entdeckte Zwierlein in den Anfängen
der Überlieferung des Vergil- und Ovid-

textes die fälschende Hand eines jünge-
ren Zeitgenossen. Metrische und sprach-
lich-stilistische Eigenheiten wiesen, so
Zwierlein, auf Julius Montanus, den
Freund des Kaisers Tiberius, einen mä-
ßig begabten Dichter.
Zwierleins philologische Exploratio-
nen zählen zu den komplexesten Texten,
welche die Philologie unserer Tage her-
vorgebracht hat. Von ihm kann man ler-
nen, was es bedeutet, „seinem Verstand
mehr als hundert Handschriften zu ver-
trauen“. Richard Bentleys stolzes Dictum
ist für Zwierlein immer eine unumstößli-
che Maxime geblieben. Wer ihn bei der
Ausübung seines kritischen Geschäfts be-
obachtet hat, weiß, dass er nicht nur über
eine überragende Intuition, sondern auch
über die genaueste Kenntnis der Autoren-

stile verfügt. An die Grenzen philologi-
scher Rekonstruktionskunst gelangte
Zwierlein, als er daranging, die Komö-
dien des Plautus echtheitskritisch zu un-
tersuchen. Von manchen Stücken blieb
nurmehr ein dramatisches Gerüst, das als
unzweifelhaft plautinisch gelten konnte.
Doch Zwierlein verrannte sich nicht. So
blieb es bei vier voluminösen Abhandlun-
gen. Sie bilden ein Werk im Werk, einen
Torso, der schon um seiner konzeptionel-
len Kühnheit willen seinen Platz in der
Geschichte der Philologie behaupten
wird.
Nach seiner Emeritierung im Jahre
2004 beschritt Zwierlein noch einmal
Neuland. Jetzt galt es, unsere Kenntnis
der frühesten Kirchengeschichte auf eine
bessere philologische Grundlage zu stel-
len. Die literarische Überlieferung vom
Aufenthalt des „Petrus in Rom“ (2009)
wurde kritisch aufgearbeitet, die Historizi-
tät des römischen Andenkens an das Mar-
tyrium des Apostels bezweifelt. Einmal
mehr erschüttert die philologische Metho-
de vermeintlich bewährtes Wissen. Die
Stellung des Papsttums in der alten Kir-
che, der Primat des Papstes und seine Be-
gründung durch die apostolische Sukzessi-
on: das sind Fragen von großer Tragwei-
te, zu deren Klärung oft gewaltige Stre-
cken Weges zurückzulegen sind. Doch
Zwierlein scheut die weiten Wege nicht.
Mit dem Teufel im Detail hat er irgend-
wann zu tanzen gelernt.
Zwierleins kaum mehr überschaubares
philologisches Werk bezeugt in sich
selbst eine Einsicht, die er im Vorwort zu
einem seiner Bücher ausgesprochen hat:
„Die Geschichte der Philologie vollzieht
sich in manchen Disziplinen als Krebs-
gang.“ Manchmal ist eine ganze Kathedra-
le der Überlieferung abzutragen, um die
Kapelle freizulegen, von der alles seinen
Ausgang nahm. Otto Zwierlein, der bis
heute einzige Deutsche, der in den legen-
dären Oxford Classical Texts einen lateini-
schen Autor ediert hat, Senecas Tragö-
dien, wird am heutigen Montag achtzig
Jahre alt. JÜRGEN PAUL SCHWINDT

Eingesperrt und überwacht: Stephen Gould (links) als Tristan und Petra Lang als Isolde Foto Enrico Nawrath

Bayreuther Festspiele

Aus der Bonner Schule oder: Philologie im Krebsgang


Was hat er nur alles aus dem Wege geräumt! Zum achtzigsten Geburtstag von Otto Zwierlein


Finsternis, traumlos, und ohne Ausgang


In Bayreuth wird noch einmal Katharina Wagners Inszenierung von „Tristan und Isolde“ gezeigt


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Forschungsinstitute


haben im politischen


Auftrag den illegalen


Kunsthandel unter-


sucht. Schon vor dem


Abschlussbericht


gibt es Streit über


die Ergebnisse.

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