Frankfurter Allgemeine Zeitung - 05.08.2019

(Dana P.) #1

SEITE 16·MONTAG, 5. AUGUST 2019·NR. 179 Wirtschaft FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Ein halbes Jahrhundert ist es her, dass
der amerikanische Biologe Paul R. Ehr-
lich mit seinem Buch „The Population
Bomb“ die seither akzeptierte Grundan-
nahme einer katastrophalen Überbevöl-
kerung etablierte. Anders als Malthus,
der lange vorher von einer zyklischen ge-
genseitigen Korrektur des Bevölkerungs-
wachstums und der Lebensmittelpreise
ausging, sagte 1968 Paul R. Ehrlich ein
unaufhaltsames Wachstum der Bevölke-
rung voraus, dessentwegen in den bei-
den folgenden Jahrzehnten Hunderte
von Millionen Menschen verhungern
sollten. Bücher mit ähnlichen Hiobsbot-
schaften folgten, doch bekanntlich kam
es völlig anders, weil Innovationen nicht
vorherzusehen waren. Die Weltbevölke-
rung hat sich verdoppelt, die Nahrungs-
mittelproduktion aber verdreifacht und
dass dabei die genutzte Fläche nur um
etwa 30 Prozent zunahm, erscheint den
einen als ein grünes Wunder und löst
bei anderen die Kritik an Gentechnik
und Pflanzenschutz aus.
Der These von der Überbevölkerung,
die den Planeten letztlich aus dem
Gleichgewicht bringen werde, schien all
dies nichts anzuhaben, zumal die Bevöl-
kerung bis auf etwa 7 Milliarden wuchs
und das Demographie-Institut der Ver-
einten Nationen mit einem weiteren Zu-
wachs auf über 11 Milliarden bis zum
Ende dieses Jahrhunderts rechnet. Frei-
lich provozieren derart dominante Über-
zeugungen schließlich Widerspruch, und
der publizistische Erfolg zugespitzter
Buchtitel reizt dazu, es mit der entgegen-
gesetzten Übertreibung zu versuchen. So
haben zwei Kanadier, ein erfolgreicher
Sachbuchautor der eine und ein bekann-
ter Sozialforscher der andere, sich unter
dem Titel „The Empty Planet“ zusam-
mengefunden. Sie haben bemerkenswer-
ten Aufwand betrieben, indem sie in Bel-
gien, Österreich, Korea, China, Indien,
Brasilien, Kenia, den Vereinigten Staa-
ten und in Kanada nicht nur Statistiker
und Demographen besuchten, sondern
Gruppen von Frauen interviewten.
Ihr wesentlicher Einwand gegen die
Projektionen der UN besteht in dem Vor-
wurf, diese litten an der Annahme, die
Dinge entwickelten sich weiterhin so
wie zuletzt. Die Forscher der UN unter-
stellen für die absehbare Zukunft eine
fortbestehende Zweiteilung der Welt.
Während in entwickelten Ländern die
Lebenserwartung weiterhin steige und
die Geburtenrate allmählich unter die
bestandssichernde Quote von 2,1 sinke,
bleibe der Rest der Welt im Stadium ho-
her Geburten- und Sterblichkeitsraten.
Ein Gipfelpunkt, von dem ab das Wachs-
tum enden könne, liege jenseits dieses
Jahrhunderts.
Darrell Bricker und John Ibbitson, die
beiden kanadischen Autoren, halten da-
gegen, die Welt werde „viel schneller
kleiner, als die meisten denken“, weil
der Unterschied zwischen den beiden
Teilen der Welt schon weiter ge-
schrumpft sei, als wir wahrnehmen, und
diese Veränderung sich beschleunige.
Wir seien bereits in dem Stadium, in
dem eine unter die Bestandserhaltung
sinkende Geburtenrate bei langsam wei-
ter steigender Lebenserwartung in der
ganzen Welt zu beobachten sei. Ganz La-
teinamerika habe in nur zwei Generatio-
nen den Weg von einer archaischen Ge-
burtenrate um 8 Prozent zu einem An-

teil um oder unter der Bestandsrate zu-
rückgelegt. Das Gleiche gelte für China
und Indien, und selbst in Teilen Afrikas
zeige sich dieser Trend, wobei die Unter-
schiede innerhalb Afrikas besonders auf-
schlussreich sind. Während in kleinen
Staaten wie Niger oder Benin die Rate
noch bei 8 Prozent liege, habe sie sich in
Kenia mit den Großstädten Nairobi und
Mombasa bereits auf weniger als 4 hal-
biert, und sie bewege sich überall in die
gleiche Richtung. Einprägsam ist die
Auskunft, die unsere Autoren von einer
jungen Sekretärin in Nairobi erhielten.
Während zu Hause im Dorf die Tanten
unentwegt wissen wollten, wann sie end-
lich heirate, interessiere das hier in der
Stadt keinen ihrer Kollegen und Bekann-
ten.
Alle Demographen sind sich wohl dar-
in einig, dass eine Trendumkehr zwei
sich gegenseitig verstärkende Entwick-
lungen voraussetzt: Verstädterung und
eine veränderte Rolle der Frau. Bricker
und Ibbitson ziehen allerdings den
Schluss, dass wir diesem Punkt schon
recht nahe sind und deshalb sowohl un-
sere geopolitischen Erwartungen wie
auch unsere wirtschafts- und gesell-
schaftspolitischen Prioritäten überden-
ken sollten. Während 1950 ein Drittel
der Menschen in Städten lebte, werden
es in der nicht mehr so fernen Mitte die-
ses Jahrhunderts zwei Drittel sein – und
Japan, wo dies bereits heute für mehr als
90 Prozent der Bevölkerung zutrifft, lei-
det auch unter der damit einhergehen-
den Überalterung, die umso mehr ins
Gewicht fällt,wenn man Zuwanderung
abwehrt. Ebenso wie Japan ist China in
dieser Hinsicht dem Rest der Welt weit
voraus, was zunächst an der inzwischen
aufgegebenen Ein- Kind-Politik lag, sich
aber als Folge der nicht revidierbaren
massenhaften Sterilisierungen und des
Wohlstandsideals der Kleinfamilie in ei-
ner Schrumpfung von unerhörter Grö-
ßenordnung fortsetzt. Wenn Chinas ei-
gene Statistiker die Geburtenrate mitt-
lerweile mit 1,05 angeben, dann bedeu-
tet das, dass seine Bevölkerung bis zum
Ende dieses Jahrhunderts von 1,2 bis 1,
Milliarden auf 560 bis 600 Millionen ab-
nimmt und auf eine Größenordnung in
Richtung der Vereinigten Staaten
schrumpft, die trotz allem mit Wachs-
tum rechnen können. Ob die Schrump-
fung Chinas und Russlands zu der „geria-
trischen Friedfertigkeit“ führt, die man-
che erhoffen, bleibt abzuwarten.
Ein heute geborenes Kind wird sich je-
denfalls in der Mitte seines Lebens nicht
auf einem unter der Last der Überbevöl-
kerung ächzenden Planeten befinden,
sondern in noch urbaneren Gesellschaf-
ten, was zu nachfrageorientierten For-
men des Massenverkehrs und anderer
Dienste führen sollte und der Umwelt
guttun dürfte, erst recht, wenn man in
manchen Regionen den Wald zurückkeh-
ren ließe. Zugleich wird es keinen Man-
gel an Arbeit, wohl aber an Arbeitskräf-
ten geben, deren Entlohnung aber bei
zunehmender Überalterung umso stär-
ker durch Umlagen belastet sein wird, je
weniger das sonst gepriesene Prinzip
der Nachhaltigkeit sich in der Finanzie-
rung von Alterssicherung und Gesund-
heit durchsetzt. MICHAEL ZÖLLER
Darrell Bricker /John Ibbitson: Empty Planet. The
Shock of Global Population Decline,Little,
Brown, London 2019, 288 Seiten, 23 Euro

D


ie deutsche Klimapolitik zeichnet
sich durch einen Flickenteppich
kleinteiliger Maßnahmen aus. So wer-
den alle Bauherren zum einheitlichen
Dämmen ihrer Fassaden verpflichtet,
obwohl das häufig sehr teuer und wenig
ansehnlich ist. Elektroautos werden mas-
siv gefördert, obwohl andere Antriebsar-
ten effizienter sein könnten. Windener-
gie von den Küsten wird subventioniert,
obwohl der Bau der dazu not-
wendigen Stromtrassen sehr auf-
wendig ist. Die Kohleförderung
in Deutschland soll für mindes-
tens 40 Milliarden Euro stillge-
legt werden, obwohl die da-
durch im EU-Emissionsrechte-
handel freigesetzten Verschmut-
zungsrechte von Kraftwerken in
Polen oder Tschechien übernom-
men werden dürften, die damit ihre Pro-
duktion hochfahren.
Diesem Wirrwarr ist vor allem eines
gemeinsam: Politiker und Beamte mei-
nen zu wissen, wo sich der Ausstoß von
Kohlendioxid am besten reduzieren
lässt. Aber sie können nicht wissen, ob
sich eine Einheit Kohlendioxid kosten-
günstiger vermeiden lässt durch einen
verbrauchsarmen neuen Stadtbus, eine
um einen Zentimeter dickere Hausdäm-
mung oder durch einen effizienteren
Kessel in einem Heizkraftwerk. Das ist
eine Anmaßung von Wissen, wie der
große liberale Ökonom Friedrich Au-
gust von Hayek einmal formuliert hat.
Dieses Informationsproblem lässt
sich am besten durch Marktmechanis-
men lösen. Die einzelnen Unternehmer
und Verbraucher wissen besser als Politi-
ker oder Beamte, wie sie Kohlendioxid
möglichst kostengünstig einsparen kön-
nen. Wenn der Staat sie mit einem ein-

heitlichen Preis für den Verbrauch kon-
frontiert, können sie entweder weiter
Klimagase ausstoßen und dafür den
CO 2 -Preis entrichten oder die Emissio-
nen durch Konsumverzicht oder Investi-
tionen in Abgas senkende Technologien
reduzieren und die entsprechenden Ver-
meidungskosten tragen. Liegen die Ver-
meidungskosten unter dem Preis, redu-
zieren sie ihre Emissionen, liegen sie
darüber, ist die Reduktion zu teu-
er und unterbleibt. Wenn sich
Millionen Unternehmen und
Verbraucher in Kenntnis ihrer
Vermeidungskosten an einem
einheitlichen CO 2 -Preis orientie-
ren, ist sichergestellt, dass die
Treibhausgase dort gesenkt wer-
den, wo es am wirtschaftlichs-
ten ist. Das begrenzt die Lasten
für die Bevölkerung, was wichtig ist für
die Akzeptanz der Klimaschutzpolitik.
Allen Treibhaus-Emissionen den
gleichen Preis zu geben funktioniert
über eine Steuer auf den CO 2 -Verbrauch
oder über die Verpflichtung, dass nicht
nur Großverbraucher, sondern alle
CO 2 -Emittenten Verschmutzungsrechte
kaufen müssen. Solche Rechte haben
den Vorteil, dass die gesamte Menge an
Verschmutzungsrechten wie vorher an-
gekündigt sinkt und die klimapoliti-
schen Ziele zuverlässig erreicht werden.
Eine CO 2 -Steuer müsste dagegen regel-
mäßig erhöht werden, was Politiker ins-
besondere vor Wahlen unterlassen könn-
ten. Aber beide Lösungen bieten die
Chance auf eine Klimapolitik aus einem
Guss, die das unwirtschaftliche Wirr-
warr der gegenwärtigen klimapoliti-
schen Instrumente bereinigt.
Der Autor ist Chefvolkswirt der Commerzbank.

FlickenteppichKlimapolitik


Von Jörg Krämer

B


efürworter staatlicher Umvertei-
lung begrüßen philanthropische
Initiativen, weil diese Wohlfahrts-
aufgaben erfüllen, die dem Staat erspart
bleiben. Aber sie glauben nicht, dass die
Philanthropie den Sozialstaat ersetzen
könnte oder gar sollte. Ihre Haltung ruht
vor allem auf zwei Einwänden: dem Un-
terversorgungseinwand und dem Diskri-
minierungseinwand. Der erste wiegt
wohl am schwersten. Er behauptet, dass
die freiwillige Umverteilung zu wohltäti-
gen Zwecken weit hinter der verordneten
Umverteilung zurückbliebe. Eine gewisse
Anfangsplausibilität kann man dieser
These nicht absprechen. Sie beruht auf
dem sogenannten Gefangenendilemma,
das die Entscheidungsnot zweier tatver-
dächtiger Komplizen schildert. Auf den
ersten Blick sieht es so aus, als ob dieses
Dilemma auch für die Philanthropie gel-
ten würde. Das heißt, die beste Lösung
(hier: ausreichend großes Spendenvolu-
men) bleibt aus, weil jeder befürchtet, der
„Dumme“ zu sein; also jener, der spendet,
während die anderen nicht spenden.
Doch der erste Blick täuscht. Als Präsi-
dent Roosevelt 1933 den amerikanischen
Universitäten die Mittel kürzte, fürchte-
ten viele Umverteilungsbefürworter, dass
auch Alumni und Sponsoren ihre Spen-
den reduzieren und die Mittel nicht ausrei-
chen würden. Doch das Gegenteil trat
ein! Zahl und Großzügigkeit der Spender
nahmen zu, die Unterversorgung blieb
aus. All dies lässt vermuten, dass der Un-
terversorgungseinwand das Gefangenen-
dilemma zu Unrecht bemüht.
Hinzu kommt, dass Steuergesellschaf-
ten die Möglichkeit bieten, Gefangenendi-


lemmata zu entschärfen. Sind philanthro-
pische Spenden steuerlich absetzbar,
dann sinkt der Spendenpreis und
schrumpft der Nachteil des Spenders ge-
genüber dem Nichtspender. Je höher die
Abzugsmöglichkeiten, desto geringer der
Nachteil. (Bei 100 Prozent wäre der Nach-
teil vollends aufgehoben.) Daher ist in Ge-
sellschaften mit traditionell guten Abzugs-
möglichkeiten die Philanthropie stärker
ausgeprägt als andernorts. Wie Karl-
Heinz Paqué schon in den 80ern für die
Vereinigten Staaten zeigte, gilt dies auch,
wenn neben steuerlichen Vorteilen kultu-
relle Besonderheiten ursächlich sind.
Auch das reale Spenderverhalten ent-
schärft den Unterversorgungseinwand,
wie ein Blick auf Sozialleistungsquote
und Spenderquote zeigt. Die Sozialleis-
tungsquote deutscher Steuerzahler – der
Anteil der individuellen Steuer, der in
den Sozialhaushalt fließt – liegt derzeit
bei circa 30 Prozent. Die Spenderquote –
der Anteil der Spender unter allen Bür-
gern – beträgt momentan 40 Prozent. Das
heißt, dass 40 Prozent der Bürger trotz ei-
ner 30-prozentigen Sozialleistungsquote
sich nicht davon abhalten lassen, zusätz-
lich für wohltätige Ziele zu spenden. Sie
spenden quasi „on top“.
Wer hat, der gibt, und wer mehr hat,
der gibt mehr! Diese einfache Regel gilt
auch unter Philanthropen, wie Befragun-
gen ergeben. Folgt man dem Deutschen
Spendenmonitor, dann lag 2017 die Spen-
derquote (von 4000 Befragten) im Wes-
ten der Republik mit 44 Prozent höher als
im Osten (28 Prozent), spendeten Rent-
ner über 65 Jahre häufiger als Jüngere zwi-
schen 30 und 50 Jahren (54 Prozent ver-
sus 36 Prozent). Die durchschnittliche

Spendenhöhe stieg von 1995 bis 2007 von
78 Euro auf 143 Euro und das Spendenvo-
lumen von 2,08 Prozent auf 3,71 Prozent
des Einkommens. Befragungen lassen
Erbschaften, Unternehmens-, Groß- und
Parteispenden sowie Stiftungsgründun-
gen und dergleichen meist außen vor. Be-
rechnet man sie ein, dann kommt man
auf ein jährliches Spendenvolumen von
8 bis 8,5 Milliarden Euro.
Verglichen mit der Ermittlung des mo-
netären Spendenvolumens ist die monetä-
re Erfassung von Zeitspenden – der Zeit
für ehrenamtliches Engagement – weit-
aus schwieriger. Aber sie zeigt, dass phil-
anthropisches Handeln ein viel größeres
Ausmaß annimmt als philanthropisches
Spenden. Folgt man dem Freiwilligensur-
vey, dann kamen 9 Prozent aller Zeitspen-
den für gemeinwohlorientierte Zwecke
dem Bereich Kultur zugute. Die Enquete-
kommission „Kultur in Deutschland“
kam in ihrem Abschlussbericht zur Ein-
schätzung, dass der monetarisierte Wert
der Zeitspenden für kulturelle Zwecke im
Jahr 2006 zwischen 9,3 und 16,7 Milliar-
den Euro lag. Folgt man dieser Umrech-
nungsart, dann dürfte der monetarisierte
Wert aller Zeitspenden für philanthropi-
sche Zwecke in Deutschland jährlich zwi-
schen 100 und 185 Milliarden Euro betra-
gen. Großzügigere Möglichkeiten, Zeit-
spenden steuerlich geltend zu machen,
würden wohl eine Zunahme auslösen.
Derzeit sind derlei Möglichkeiten kaum
vorhanden und beschränken sich vor-
nehmlich auf die Ehrenamtspauschale
(720 Euro pro Jahr) und die Übungsleiter-
pauschale (2400 Euro pro Jahr).
Was derzeit jedoch für den Unterversor-
gungseinwand spricht, ist ein organisati-

onsrechtlicher Umstand. Ein Großteil der
Philanthropie findet im sogenannten Drit-
ten Sektor statt, und zwar in Form von
NPO (Non-Profit-Organisationen). NPOs
ist aber der Zugang zum Kapitalmarkt ver-
wehrt und (wegen fehlender Sicherheiten)
der Zugang zum Kreditmarkt erschwert.
Damit sind ihnen und dem Dritten Sektor


  • der hierzulande mit 4,1 Prozent zur Brut-
    towertschöpfung beiträgt – wichtige
    Wachstumsoptionen genommen.
    Auch der Diskriminierungseinwand
    hat eine gewisse Anfangsplausibilität.
    Der Grund ist offenkundig: Reduzierte
    man die staatliche Umverteilung zu wohl-
    tätigen Zwecken im Vertrauen auf poten-
    te Philanthropen, dann überließe man die-
    sen die Entscheidung, Ziele, Mittel und
    Empfänger ihrer Wohltätigkeit selbst aus-
    zusuchen. Infolgedessen können die Ent-
    scheider diskriminieren, nach Kriterien,
    die sie selbst wählen. Der Diskriminie-
    rungseinwand übersieht jedoch mindes-
    tens zweierlei: Erstens, sowohl private als
    auch staatliche Umverteilungen nehmen
    Diskriminierungen vor. Es ist nicht offen-
    sichtlich, warum staatliche Diskriminie-
    rungen im Wohltätigkeitssektor privaten
    Diskriminierungen überlegen sein soll-
    ten. Zweitens, private Diskriminierungen
    finden bereits jetzt schon im Philanthro-
    piesektor statt und bilden schlicht das ab,
    was der Madrider Ökonom Philipp Bagus
    den „Markt des Gebens“ nennt. Für die-
    sen Markt ist – wie für andere Märkte
    auch – die Annahme naheliegend, dass er
    aus Effizienzgründen der staatlichen Um-
    verteilung überlegen ist.
    Hardy Bouillonist Philosoph und Unternehmens-
    berater und lehrt als apl. Professor für Philosophie
    an der Universität Trier.


Leerer Planet


Die Bevölkerung wird nicht so schnell wachsen


I


m Februar stellte Bundeswirtschafts-
minister Peter Altmaier seine „Natio-
nale Industriestrategie 2030“ vor. Es
folgten kurz darauf gemeinsam mit dem
französischen Amtskollegen Bruno Le
Maire das „Deutsch-Französische Mani-
fest für eine europäische Industriepolitik“
und im Juli, mit Beteiligung der polni-
schen Wirtschaftsministerin Jadwiga Emi-
lewicz, Vorschläge zur Reform der euro-
päischen Wettbewerbspolitik. Der Ele-
fant im Raum ist China.
Neben Sicherheitsfragen sind es insbe-
sondere ökonomische Herausforderun-
gen, vor die China mit seinem erfolgrei-
chen Staatskapitalismus die westlichen
Marktwirtschaften stellt. China hat in
den vergangenen 20 Jahren einen rasan-
ten wirtschaftlichen Aufstieg vorzuwei-
sen. War der Anteil der chinesischen Wirt-
schaft am Weltsozialprodukt im Jahr
2000 noch bei 7 Prozent, sind es mittler-
weile gut 19 Prozent. Die Gefahr, wirt-
schaftlich gegenüber China ins Hintertref-
fen zu kommen, ist real.
Einen wesentlichen Beitrag zu diesem
Wirtschaftserfolg haben die privaten Un-
ternehmen geleistet. Insbesondere haben
chinesische Digitalunternehmen in beein-
druckend kurzer Zeit eine Vorreiterrolle
eingenommen und gehören zur interna-
tionalen Spitze beim Einsatz von Künstli-
cher Intelligenz. Digitalkonzerne wie Ten-
cent oder die Alibaba Group gehören mitt-
lerweile zu den wertvollsten Unterneh-
men weltweit und drängen jetzt auch
nach Europa.
Die Politik in Deutschland muss hier-
auf schneller reagieren als bislang. Breit-
bandausbau, Investitionen in Ausbildung
etwa durch neue Lehrstühle für Künstli-
che Intelligenz oder verbesserte Weiterbil-
dungsmöglichkeiten und der Ausbau des
europäischen Binnenmarktes sind dabei
die Schlagwörter. Auch das Wettbewerbs-
recht muss sich weiter anpassen, um do-
minanten Unternehmen in der digitalen
Ökonomie besser begegnen zu können.
Der anstehende Referentenentwurf zur



  1. Novelle des Gesetzes gegen Wettbe-
    werbsbeschränkungen (GWB) sowie das
    im Herbst erscheinende Gutachten der
    Kommission „Wettbewerbsrecht 4.0“ wer-
    den dazu Beiträge leisten.
    Private Unternehmen haben wesentlich
    zum Aufstieg Chinas beigetragen, stehen
    aber nur für einen Teil der dortigen Wirt-
    schaft. China hat für sich die Wirtschafts-
    form des Staatskapitalismus gewählt, bei
    der Staatsunternehmen und durch den
    Staat kontrollierte Unternehmen eine we-
    sentliche Rolle einnehmen. Staatsunter-
    nehmen stehen für etwa 35 Prozent des
    Bruttoinlandsprodukts. Sie zählen auch zu
    den größten Unternehmen. Auf die For-
    tune Global 500 List von 2014 schafften
    es 92 chinesische Unternehmen, wovon


81 in Staatsbesitz waren. Diese Staatsun-
ternehmen sind in den letzten Jahren
durch Fusionen noch mächtiger gewor-
den. Gab es 2003 noch 189 der Zentralre-
gierung unterstellte Unternehmen, sind es
nach einigen Megafusionen heute nur
noch 97. Bekanntestes Beispiel ist die Fusi-
on zweier Schienenfahrzeughersteller zur
China Railway Rolling Stock Corporation
(CRRC), dem mit Abstand weltgrößten
Unternehmen der Branche.
Die Erwartungen an die großen Staats-
konzerne, durch das Schaffen von Größe
Skalenvorteile zu erzeugen und damit die
Profitabilität zu steigern, haben sich aber
nicht erfüllt. Stattdessen sind die Schul-
denstände dieser Unternehmen auf be-
drohliche Höhen gestiegen. Das ist im
Einklang mit empirischer Evidenz für Eu-
ropa und die Vereinigten Staaten, die
zeigt, dass Fusionen eher zu weniger Inno-
vationen führen, etwa weil Forschungsab-
teilungen zusammengelegt und verklei-
nert werden. Die Lehrbücher, die sich für
den Wettbewerb als führendes Marktprin-
zip aussprechen, da durch ihn am ehesten
Innovationen hervorgebracht werden und
damit der Wohlstand erhöht wird, müs-
sen also nicht umgeschrieben werden.
Somit kann die Antwort auf China
auch nicht das Schaffen europäischer
„Champions“ auf Kosten des Wettbe-
werbs in Europa sein – das würde die Inno-
vationsdynamik hier beschränken. Noch

zeichnet sich nicht ab, wie sich die Balan-
ce zwischen privater Unternehmensdyna-
mik und staatlicher Unternehmensfüh-
rung in China entwickeln wird. Wenn
aber chinesische Unternehmen vermehrt
fusioniert werden, um „unnötigen Wettbe-
werb“ auszuschalten, so deutet dies auf ei-
nen gelenkten Wettbewerb hin. Mehr Er-
kenntnisse über die Wettbewerbsintensi-
tät in den einzelnen Sektoren in China wä-
ren hilfreich, um passgenauer auf die Ent-
wicklungen reagieren zu können.
Erhärtet sich die Entwicklung zu einer
umfassenden staatlichen Wirtschaftskon-
trolle in China, sollten deutsche Unter-
nehmen bei ihrem Agieren in China dar-
auf reagieren können. Ein Instrument da-
für gab es schon einmal. Bis Ende der
neunziger Jahre waren Exportkartelle er-
laubt. Diese wurden abgeschafft mit der
Begründung, „dass angesichts der Bestre-
bungen, weltweit staatliche und private
Wettbewerbsbeschränkungen abzubauen,
Ausfuhrkartelle keine Existenzberechti-
gung mehr haben“. Falls China sich für
eine nicht wettbewerbliche Marktform
entscheidet, gibt es gute Gründe, dieses
Instrument zu reaktivieren.
Auch beim Wettbewerb mit chinesi-
schen Unternehmen in Europa sollten die
Instrumente der Wettbewerbs- und Außen-
handelspolitik die Besonderheiten einer
staatskapitalistischen Wirtschaft berück-
sichtigen. Europäische Anti-Dumping-
und Anti-Subventions-Instrumente kön-

nen geschärft werden, um eine zu aggressi-
ve Preissetzung durch chinesische Unter-
nehmen, die mit staatlichem Kapital aus-
gerüstet sind, zu sanktionieren. In der Fusi-
onskontrolle wäre der Kauf europäischer
Unternehmen durch chinesische Unter-
nehmen, zumindest solange es sich um
Staatsunternehmen handelt, so zu betrach-
ten, dass dies nicht unabhängige Erwerbs-
vorgänge einzelner Unternehmen sind.
Wenn unter dieser Prämisse Wettbewerbs-
probleme vorliegen, sollten die Wettbe-
werbsbehörden intervenieren können.
Gibt es Bedenken hinsichtlich der nationa-
len Sicherheit, sollte eine Risikoabschät-
zung erfolgen. Ansonsten sollte man die
Käufe ruhig zulassen. Deutschland ist mit
seinen offenen Märkten sehr gut gefah-
ren. Ausländisches Kapital und Expertise
tun den Unternehmen und auch der deut-
schen Wirtschaft in der Regel gut.
Idealerweise werden die Spielregeln
des gemeinsamen Wirtschaftens, soweit
sie über WTO-Vereinbarungen hinausge-
hen, in einem eigenen Abkommen festge-
legt. Ein Abschluss des Investitionsab-
kommens, das die EU seit nunmehr sechs
Jahren mit China verhandelt, wäre zu be-
grüßen. Zusammenarbeit und fairer Wett-
bewerb zwischen den Unternehmen sind
der bessere Weg als unilaterale protektio-
nistische Maßnahmen.
Prof. Achim Wambach, Ph.D., ist Präsident des
Europäischen Zentrums für Wirtschaftsforschung
und Vorsitzender der Monopolkommission.

WIRTSCHAFTSBÜCHER


Illustration Peter von Tresckow

DER VOLKSWIRT


Eine Lanze für die Philanthropie


Wenn der Staat weniger eingriffe, wäre mehr bürgerschaftliches Engagement zu erwarten / Von Hardy Bouillon


Im Systemwettbewerb mit China


Europlatz Frankfurt

DieStaatskonzerne


sind in China auf dem


Vormarsch. Darauf


muss die hiesige Politik


eine Antwort finden.


Falsch wäre es, euro-


päische „Champions“


auf Kosten des Wettbe-


werbs zu schaffen.


Von Achim Wambach

Free download pdf