Frankfurter Allgemeine Zeitung - 05.08.2019

(Dana P.) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Wirtschaft MONTAG, 5. AUGUST 2019·NR. 179·SEITE 17


ppl. LONDON, 4. August. Die neue briti-
sche Regierung will mit einer Verdoppe-
lung der Brexit-Mittel den „Turbo“ für die
Vorbereitungen zum EU-Austritt einschal-
ten, der in weniger als 90 Tagen vollzogen
werden soll. Gleichzeitig hat Premiermi-
nister Boris Johnson am Sonntag eine
Geldspritze für das staatliche Gesund-
heitssystem NHS angekündigt. Er ver-
sprach 1,8 Milliarden Pfund (knapp 2 Milli-
arden Euro) zusätzliche Mittel. Die Hälfte
soll sofort in NHS-Krankenhäuser inves-
tiert werden, der Rest sind künftige Entlas-
tungen für Ärzte, damit diese längere Pra-
xisöffnungszeiten anbieten. Die in der
„Sunday Times“ angekündigte „Geldbom-
be“ bleibt indes weit zurück hinter der von
den Brexit-Befürwortern in der Referen-
dumskampagne vor gut drei Jahren ge-
nannten Summe von 350 Millionen Pfund
pro Woche, die angeblich nach einem EU-
Austritt in den chronisch unterfinanzier-


ten „National Health Service“ gelenkt wer-
den könnte. Kritiker sprachen nach John-
sons Ankündigung von einem „Tropfen
auf den heißen Stein“. Die oppositionelle
Labour-Partei beklagte, die Tories hätten
das Gesundheitssystem kaputtgespart.
Die seit zehn Tagen amtierende Regie-
rung Johnson versucht offensichtlich mit
den neuen Sozialausgaben, ihren härteren
Brexit-Kurs zu flankieren. Johnson und
seine Verbündeten lassen derzeit keine
Gelegenheit aus, um die feste Entschlos-
senheit zum EU-Austritt Ende Oktober zu
bekräftigen, ob mit oder ohne einen Aus-
trittsvertrag mit der EU. Von „do or die“
(machen oder sterben) ist die Rede. Fi-
nanzminister Sajid Javid hat weitere 1,
Milliarden Pfund zur Vorbereitung auf ei-
nen No-Deal-Brexit bereitgestellt, zusätz-
lich zu den schon für dieses Jahr dafür re-
servierten 1,2 Milliarden Pfund. Die Steu-
er- und Zollbehörde sei um 5000 Mitarbei-

ter verstärkt worden, um den Brexit vorzu-
bereiten. Solche Signale sollen sowohl im
Inland wie im Ausland wirken. Johnson
will gegenüber Brüssel den Eindruck erwe-
cken, dass er es wirklich auf einen No-
Deal-Austritt ankommen lassen werde.
Wie angespannt die Nerven sowohl bei
Befürwortern als auch Gegnern des Bre-
xits sind, zeigt die harsche Reaktion auf
neue Prognosen der Notenbank. Nach-
dem Mark Carney, der Chef der Bank of
England, vor einem „sofortigen Schock“
für die Volkswirtschaft im Fall eines No-
Deal-Brexits gewarnt hatte, schlugen
hochrangige Tory-Politiker wie der frühe-
re Arbeitsminister und Parteivorsitzende
Iain Duncan Smith heftig zurück und war-
fen Carney Angstmacherei vor. Als „Pro-
ject Fear“ bezeichnen die Brexit-Hardli-
ner kritische Prognosen der Gegenseite.
Die vergangene Woche vorgelegte neue
Prognose der Bank of England ist indes
noch moderat. Sie geht weiterhin als Ba-
sisszenario von einem weichen EU-Aus-
tritt aus und senkte die Voraussage zum
Wirtschaftswachstum auf ein Plus von 1,
Prozent (statt 1,5 Prozent in der Früh-
jahrsprognose) in diesem Jahr und auch
im nächsten Jahr.
Im Fall eines chaotischen Brexits, der
hohe Zollbarrieren und Handelsverwer-
fungen zur Folge hätte, warnt die britische
Notenbank vor einer sehr scharfen Rezes-
sion, einem Pfund-Absturz und höherer In-
flation. Eingefleischte Brexit-Anhänger
tun diese Warnungen ab mit dem Hinweis,
die Bank of England habe schon mit ihrer
Rezessionswarnung nach dem Brexit-Refe-
rendum vor drei Jahren falschgelegen. In
der britischen Wirtschaft wächst indes die
Unruhe. Der Industrieverband CBI hat
kürzlich eine Liste mit 200 Empfehlungen
zur Vorbereitung auf einen No-Deal-Aus-
tritt veröffentlicht. Das Risiko steige defi-
nitiv. Viele große Konzerne hätten sich
schon recht gut vorbereitet, für Hundert-
tausende kleine und mittlere Unterneh-
men sei es unmöglich.

loe.BERLIN,4. August. Wenn Bundes-
landwirtschaftsministerin Julia Klöckner
(CDU) im September zum nationalen
Waldgipfel lädt, dann wird es vor allem
um zwei Dinge gehen: Wie viel Geld stel-
len Bund und Länder bereit, um die Schä-
den nach den heißen Sommern 2019 und
2018 zu beheben? Und welche Baumar-
ten sollten für die Wiederaufforstung
zum Einsatz kommen, die mit Hitze bes-
ser umgehen können? Aus der Sicht von
Naturschützern greift das jedoch zu kurz:
Sie fordern eine breitere Diskussion auch
über die Art und Weise, wie wir den Wald
wirtschaftlich nutzen.
„10 Prozent des gesamten Waldes soll-
ten nicht bewirtschaftet werden“, sagt
Heinz Kowalski, Präsidiumsmitglied des
Naturschutzbunds Nabu. In unbewirt-
schafteten Flächen sei das Ökosystem
nachweislich stabiler, der Insektenbefall
geringer, die Selbstheilungskräfte größer.
Wie viel Prozent des Waldes derzeit nicht
bewirtschaftet werden, dazu gibt es unter-
schiedliche Zahlen. Das Bundesamt für
Naturschutz, das zum Bundesumweltmi-
nisterium gehört, spricht von 2,8 Prozent,
Klöckners Landwirtschaftsministerium
dagegen von 5,6 Prozent. Deutschland
hatte sich 2007 für das Jahr 2020 zum Ziel
gesetzt, 5 Prozent der Waldfläche der Na-
tur zu überlassen.
Auch unter den Grünen werden die For-
derungen lauter, behutsamer mit dem
Wald umzugehen. Das betrifft unter ande-
rem auch die Liebe der Deutschen zu ih-
rem Kamin. „Holz ist kein Wegwerfmate-
rial“, sagt Harald Ebner, waldpolitischer
Sprecher der Grünen im Bundestag. „Wir


können nicht immer mehr Holz aus dem
Wald holen und es dann lediglich im Ka-
min verfeuern.“ Aus Holz sollten seiner
Ansicht nach möglichst langlebige Pro-
dukte entstehen. „Wenn Buchen zu Brenn-
holz werden, dann sind das Perlen vor die
Säue“, sagt Ebner. Nach den Zahlen des
Umweltbundesamtes gab es in Deutsch-
land zuletzt 11,7 Millionen Kamine und
Kachelöfen, die mit Holz befeuert wer-
den. Rein rechnerisch wird damit in mehr
als jedem vierten Haushalt Holz verfeu-
ert. Auch bei anderen Konsumprodukten
sei ein Umdenken gefragt, sagt Ebner.
„Es kann nicht sein, dass wir für kurzlebi-
ge Produkte wie Papier oder Papierserviet-
ten immer noch frisches Holz verwenden.
Da müssen wir auf 100 Prozent Recycling-
material kommen.“
Deutschland ist eines der waldreichs-
ten Länder in Europa. Mit 11,4 Millionen
Hektar ist knapp ein Drittel der gesamten
Fläche hierzulande mit Wald bedeckt.
Ein Viertel davon (knapp 2,8 Millionen
Hektar) nimmt die Fichte ein, sie ist die
häufigste Baumart in Deutschland. An
zweiter Stelle folgt mit 2,4 Millionen Hekt-
ar die Kiefer, ebenfalls ein Nadelgehölz.
Der hohe Fichtenbestand hat seinen Ur-
sprung in der Zeit nach dem Zweiten
Weltkrieg. Im Krieg war viel Wald ver-
heizt worden, zudem musste Deutschland
einen Teil seiner Reparationszahlungen
in Holz begleichen. Fichten hatten da-
mals und haben bis heute einen entschei-
denden Vorteil: Sie wachsen schnell. Zu-
dem lässt sich ihr Holz anders als das von
Laubbäumen relativ einfach als Baustoff
verwenden. Die meisten Dachstühle in
Deutschland sind aus Fichtenholz. Aller-
dings sind Fichten viel hitzeempfindli-
cher als Laubbäume, was jetzt in Zeiten
des Klimawandels zum Problem wird.
„Die Dominanz der Fichte ist eine auch
im Forstsektor weithin anerkannte Fehl-
entwicklung“, heißt es dazu vom Bundes-
amt für Naturschutz aus Bonn.
Schon seit einiger Zeit laufen deshalb
die Bemühungen, den Wald „umzubau-
en“, wie es heißt, sprich: mehr Laubbaum-
arten aus südlicheren Regionen der Welt
anzupflanzen, die weniger Wasser brau-
chen. Das allerdings geht nicht ohne Ver-
zicht. Geht der Fichtenanteil im Wald zu-
rück, „droht eine wichtige Säule in der
Wertschöpfung der Forst- und Holzwirt-

schaft und den nachgelagerten Bereichen
wegzubrechen“, heißt es im Bericht nach
der vergangenen Bundeswaldinventur.
Massenprodukte im Baubereich seien mit
Laubbaumarten schwer machbar.
„Die Rettung unserer Wälder ist eine
gesamtgesellschaftliche Aufgabe“, mahnt
deshalb auch Wolfgang von Geldern,
Chef der Schutzgemeinschaft Deutscher
Wald. Neben Unterstützung aus der Poli-
tik bedürfe es auch einer „kritischen Aus-
einandersetzung mit unserem eigenen
Konsumverhalten“. Der Holzverbrauch in
Deutschland hat sich in den vergangenen
Jahren bis auf kleinere Rückgänge stetig

erhöht. Seit 2010 wird mehr als die Hälfte
des in Deutschland genutzten Holzes ver-
wendet, um Energie zu gewinnen. Der
Einsatz von Holz als Baustoff macht heu-
te nur noch den kleineren Teil aus.
48 Prozent des Waldes in Deutschland
sind in Privateigentum, die andere Hälfte
gehört den Ländern, den Kirchen und
dem Bund. Landwirtschaftsministerin
Klöckner hat vergangene Woche angekün-
digt, dass 500 Millionen Euro für die Wie-
deraufforstung der geschädigten Wälder
nötig seien. Das Geld soll von Bund, Län-
dern und aus der Privatwirtschaft kom-
men. Noch steht nicht fest, ob jeder der

Beteiligten ein Drittel beisteuern soll
oder wie die Summe aufgeteilt wird. Und
auch, wo das Geld angesichts der sich ein-
trübenden Konjunktur herkommen soll,
ist noch offen. Klöckner hofft darauf,
dass der Anteil des Bundes aus dem Kli-
mafonds bestritten wird. Die Gespräche
mit Bundesfinanzminister Olaf Scholz
(SPD) laufen. Die Forstminister von
CDU/CSU aus den Ländern haben dage-
gen schon angekündigt, dass ihnen die
jetzt diskutierten Zahlen noch zu gering
sind: Sie wollen in den kommenden vier
Jahren 800 Millionen Euro für die Ret-
tung des Waldes.

Deutsche Gaspreise günstiger


Die Gaspreise in Deutschland sind niedri-
ger als in den meisten anderen europäi-
schen Ländern. Das liege auch an relativ
geringen Steuern und Abgaben auf Erd-
gas, ergab eine Auswertung des Vergleichs-
portals Verivox. Danach machen die Kon-
zessionsabgabe, die Gassteuer und die Um-
satzsteuer aktuell rund ein Viertel des Gas-
preises in Deutschland aus. Ein weiteres
Viertel entfällt auf die Netzgebühren, und
rund die Hälfte geht an die Gasversorger
für Beschaffung, Vertrieb und Marge. Zum
Vergleich: Beim Strompreis liegt der staat-
liche Anteil deutlich über 50 Prozent; die
Endverbraucherpreise sind die zweithöchs-


ten in Europa. Unter 25 EU-Ländern lie-
gen die deutschen Gaspreise mit 6,08 Cent
je Kilowattstunde auf Rang zwölf. Der
günstigere Endverbraucherpreis ergibt
sich zunächst daraus, dass schon der Netto-
preis ohne Steuern in Deutschland unter
dem EU-Durchschnitt liegt. Gründe seien
die zentrale Lage Deutschlands auf dem
europäischen Festland und die gute Anbin-
dung an die internationalen Gasströme,
teilte Verivox mit. dpa

Söder für Sonderwirtschaftszonen
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder
(CSU) hat sich mit Blick auf den Struktur-
wandel wegen des Kohleausstiegs für Son-

derwirtschaftszonen im Osten ausgespro-
chen. Söder sagte am Sonntag in der
„ARD“, es werde bei den neuen Bundes-
ländern „extrem“ immer nur die Frage
der Gerechtigkeit diskutiert, viel zu we-
nig die Frage der Chancen. „Ich würde
mir wünschen, dass wir einen Chancen-
plan machen für die neuen Länder.“ Es
gehe um mehr Innovationen, Technolo-
gien, die Ansiedlung von Wirtschafts-
strukturen und die Ansiedlung von neuen
Universitäten. Dazu könnten Sonderwirt-
schaftsregionen mit niedrigeren Steuer-
sätzen etabliert werden, etwa in den
Grenzbereichen zwischen neuen und al-
ten Ländern. dpa

Gefährdete Ressource:Der deutsche Wald Foto Daniel Pilar

tp.ROM, 4. August. Italiens Regierung
fordert in der künftigen EU-Kommissi-
on „einen Posten mit Gewicht, mit ei-
nem Wirtschaftsressort“. Doch selbst
beim Besuch der künftigen Kommis-
sionspräsidentin Ursula von der Leyen
am vergangenen Freitag konnte Ita-
liens Ministerpräsident Giuseppe Con-
te keine Kandidaten von europäischer
Statur präsentieren. Daraus entstehen
nun zahlreiche Spekulationen und Kon-
flikte in der römischen Politik. Sowohl
der liberale Kommentator Oscar Gian-
nino wie auch der stellvertretende Chef-
redakteur von „Il Fatto Quotidiano“,
der Fünf-Sterne-Bewegung naheste-
hend, kritisieren die Forderung Italiens
nach dem Wettbewerbsressort in der
künftigen EU-Kommission. „Das ist,
als wollte eine Mannschaft der ersten
Fußballliga das Recht, den Schiedsrich-
ter zu ernennen, um besonders viele
Elfmeter für die eigene Mannschaft zu
bekommen“, schreibt Stefano Feltri
von „Il Fatto Quotidiano“. Hintergrund
sind diverse Verfahren wegen etwaiger
Staatshilfen und Wettbewerbsverzer-
rungen in Italien. Dazu gehört an aller-
erster Stelle der Fall Alitalia, der italie-
nischen Fluglinie mit drei Beinahe-
Konkursen in neun Jahren.
Das Vorschlagsrecht für den künfti-
gen EU-Kommissar aus Italien bean-
sprucht die rechtspopulistische Lega.
Die erhielt bei der Europawahl im ver-
gangenen Mai 34 Prozent der Stimmen
und betrachtete sich daher als Wahlsie-
ger, auch gegenüber dem Koalitions-
partner der Fünf-Sterne-Bewegung (
Prozent). Im Wahlkampf hatte der
Lega-Chef und Vizepremier Matteo Sal-
vini dazu aufgerufen, mit einer Stimm-
abgabe für die Lega ganz Europa zu än-
dern und andere Leute nach Brüssel zu
schicken. Nun fordert die Fünf-Sterne-
Bewegung, der Koalitionspartner von
Salvini, voller Hohn, die Lega müsse
doch endlich ihren Kandidaten benen-
nen. Doch die Nummer zwei von Salvi-
ni in der Partei, Giancarlo Giorgetti,
hat zwar einen Wirtschaftsabschluss
der Eliteuniversität Bocconi, aber kei-
ne besonderen Englischkenntnisse.
Die anderen Kandidaten, Vertreter der
Lega im Kabinett, erweisen sich in der
Regierung als blass oder so ideolo-
gisch, dass befürchtet wird, sie würden
im Auswahlverfahren des EU-Parla-
ments durchfallen.

London will Brexit-Turbo einschalten


Mittel für EU-Austritt verdoppelt / Johnson: Mehr Geld fürs Gesundheitssystem


Hohn in Italien


um Kandidaten


für Brüssel


Kurze Meldungen


Jetzt geht es


ans Kaminholz


we’re


bringingthe


futureto


frankfurt.


September 11–13, 2019


IAA, Frankfurt


Get inspired by groundbreaking ideas

Get involved in hands-on workshops

Get educated on solutions for the future

Get connected with curious minds

Get your groove on at vibrant parties

wannabeapartofit?


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atthemeConvention

DerPremier und das liebe Vieh:Auch Bauern verspricht Johnson Hilfe. Foto Reuters


Der Wald leidet – nicht


nur unter der Hitze,


auch unter unter unserem


Konsumverhalten.


Dass Holz in Kaminen


verbrennt, halten


Umweltschützer für


Frevel. Sie fordern:


Lasst den Wald in Ruhe.

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