Frankfurter Allgemeine Zeitung - 05.08.2019

(Dana P.) #1

SEITE 2·MONTAG, 5. AUGUST 2019·NR. 179 F P M Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Die Medien müssen sagen, was ist
Die „Welt am Sonntag“ befasst sich mit dem Verbre-
chen in der vergangenen Woche im Frankfurter Haupt-
bahnhof:
„Von der Freiheit einer Demokratie muss eine Grup-
pe ausgeschlossen bleiben: nämlich diejenige, die sie
nutzt, um Freiheit und Demokratie selbst abzuschaffen.
Aufgabe der Politik ist es aber, auch für die Millionen
Menschen mitzuregieren, denen Bilder wie jene aus
Frankfurt, Videos wie das aus Stuttgart, Nachrichten
über eine zerstückelte Frau im Koffer, denen die unzähli-
gen Messerangriffe und insbesondere der grassierende
stark wachsende Judenhass so viel Angst machen, dass
sie sich in die Arme von Populisten flüchten. Wer ihren
Zorn in den Kommentarspalten des Netzes verfolgt, fin-
det knallharte Nazis, Rechtsextreme, Ausländerhasser.
Aber auch Menschen voller Empathie, die schlicht die
Welt nicht mehr verstehen, wenn in Stuttgart ein
Mensch mit einem Schwert zerhackt wird. Sie sehnen
sich nach einfachen Wahrheiten: Der Staat muss des-
halb wissen, wer sich innerhalb seiner Grenzen aufhält.


Besser als am Freibad-Einlass kontrolliert man Pässe an
der Grenze. Medien und Journalisten müssen ‚sagen,
was ist‘, um Rudolf Augsteins Grundsatz zu bemühen.
Ihren Wünschen nachzukommen, wäre der Stimmung
im Land zumindest nicht abträglich.“

Was ist los in den Herzen und Hirnen?
Die „Frankfurter Rundschau“ schreibt zu dem The-
ma:
„Natürlich muss die Gesellschaft reden über den
Mann, der in dieser Woche in Frankfurt ein Kind und
eine Mutter vor die Bahn gestoßen hat. Ein so verstören-
des Verbrechen hat man selten gesehen. Allerdings muss
die Gesellschaft auch im Auge behalten, in welchem Ton
sie über ein Thema wie dieses redet. Schlimmer noch als
die widerwärtigen Versuche der AfD, mit dem Verbre-
chen Punkte zu sammeln, war der addierte Hass von Hun-
derttausenden Privatleuten in den sozialen Netzwerken.
Fakten wurden erklärt, ohne dass jemand die Fakten
kannte, Schuldige wurden genannt, die mit dem Bösen,
das geschehen ist, nichts zu tun haben. Aktuelle Kostpro-

be auf Twitter: ‚Kind von Eritreer vor Zug gestoßen –
Danke, Merkel!‘ Was ist los in den Herzen und Hirnen all
jener, die solche Linien ziehen? Im Ernst: Wie hätte die
Bundeskanzlerin vorbeugend vorgehen sollen gegen ei-
nen aus Afrika stammenden Familienvater, der seit 2006
legal in der Schweiz lebt, arbeitet und Steuern zahlt und
als Muster guter Integration gilt?“

China will die Protestbewegung zerschlagen
Die Zeitung „The New York Times“ blickt auf die an-
haltenden Proteste in Hongkong gegen die chinesische
Regierung:
„Die chinesischen Behörden in Hongkong gaben die-
se Woche seltene und aufschlussreiche Erklärungen ab.
Sie haben die Proteste als gewalttätige, radikale Zwi-
schenfälle bezeichnet. Ein Kommandeur der chinesi-
schen Volksbefreiungsarmee verurteilte die Proteste
nachdrücklich und lobte die Polizei und die Stadtregie-
rung von Hongkong. Die Botschaft war klar und deut-
lich: Die Behörden in Peking wollen diese Bewegung
zerschlagen – wenn nötig mit allen Mitteln.“

Ein neuer Vertrag muss China umfassen
Die spanische Zeitung „El Periódico de Catalunya“
schreibt zum Auslaufen des INF-Abrüstungsvertrags:
„Die Liste der internationalen Verträge, die unter der
Präsidentschaft von Trump aufgekündigt wurden, wird
immer länger. Nun steht auf ihr auch das Abrüstungsab-
kommen INF, das vor über 30 Jahren vereinbart wurde
und ein wichtiger Schritt zur Überwindung des Kalten
Krieges war. Das Auslaufen des Vertrags erhöht die Sor-
ge vor einem weiteren atomaren Wettrüsten. Weit schei-
nen die Zeiten zurückzuliegen, in denen Obama im Wei-
ßen Haus einen Prozess zur weltweiten atomaren Abrüs-
tung einleiten wollte. Auf seine Initiative folgte aber kein
konkreter Plan, und heute muss von einem nuklearen
Wettrüsten an gleich mehreren Orten gesprochen wer-
den. Außenminister Pompeo betonte die Notwendigkeit,
den INF-Vertrag durch ein Abkommen zu ersetzen, das
auch China umfasst. In der Tat: China hat gar kein Abrüs-
tungsabkommen unterzeichnet, andere Atommächte wie
Israel, Indien und Pakistan haben ihre Programme außer-
halb des Nichtverbreitungsabkommens vorangetrieben.“

STIMMEN DER ANDEREN


MOSKAU, 4. August


A


m Tag nach den jüngsten friedli-
chen Protesten für freie Wahlen in
Moskau machen wieder Bilder
von Polizeigewalt die Runde durch Russ-
lands soziale Netze und unabhängige Me-
dien. Man sieht, wie ein Fahrradfahrer
mit Helm und Signalweste langsam an ei-
ner Gruppe Sicherheitsleute vorbeifährt;
die bringen ihn zu Fall, Polizisten in
Schwarz schlagen auf Mann und Rad mit
Schlagstöcken ein.Man sieht, wie ein Va-
ter verzweifelt versucht, seinen Sohn, der
zufällig am Ort gewesen sei, aus den Hän-
den der Häscher zu befreien; beide wer-
den festgenommen und in unterschiedli-
che Arrestbusse gesteckt. Man sieht Ein-
satzkräfte, die auf Menschen einschlagen,
die wehrlos am Boden liegen, gezielt auf
die Beine, und Polizisten in Schwarz mit
heruntergelassenem Helmvisier, die in ei-
ner Gruppe Herumstehender ausschwär-
men und einen jungen Mann mit Ruck-
sack wegzerren.
Wer am Samstag ins Zentrum Moskaus
kam, musste mit Gewalt rechnen: In den
Tagen zuvor hat der Machtapparat aus Po-
litik und Medien mobilgemacht gegen an-
gebliche westliche Umsturzversuche. Das
Staatsfernsehen zeigt Bilder mehrerer
Männer, die schon wegen des Vorwurfs
von „Massenunruhen“ am 27. Juli, als
mehr als 1300 Menschen festgenommen
wurden, in Untersuchungshaft sitzen: jun-
ge Gesichter hinter den Stangen der Ge-
richtskäfige. Ihnen drohen mehrere Jahre
Lagerhaft. Keine für Samstag beantragte
Protestaktion war erlaubt, vor jeder Akti-
on ist gewarnt worden. Man musste nicht
nur damit rechnen, im Fall der Festnahme
bis zu 48 Stunden unter schikanösen Be-
dingungen festgehalten zu werden, mit
Geldstrafen und womöglich Arrest bis zu
30 Tagen, sondern mit Schlimmerem: Wer
angeblich einen Pappbecher geworfen
oder eine Mülltonne umgestoßen hat oder
wer schlicht den Ermittlern ins Profil des
auf Abschreckung zielenden Strafverfah-
rens wegen „Massenunruhen“ passt, muss
mehrere Jahre Lagerhaft fürchten. Den-


noch sollte es einen „Spaziergang“ auf
dem Boulevardring geben, einer zehn Kilo-
meter langen Abfolge von Straßen und
Plätzen im Zentrum Moskaus, die mit Bäu-
men und Bänken an guten Tagen tatsäch-
lich zum Flanieren einlädt. Beobachter
schätzten die Zahl der Teilnehmer mindes-
tens auf einige tausend.
Offiziell sollen es nur 1500 gewesen
sein, aber sogar in polizeilichen Festnah-
meprotokollen war von 5000 Teilneh-
mern die Rede. In der Menge der Spazier-
gänger sah man kaum politische Erken-
nungszeichen, auch Sprechchöre fehlten
zu Beginn. Später erklangen nur die übli-
chen „Schande“-Rufe, wenn die Sicher-
heitskräfte jemanden wegschleppten.
Wer die Menschen fragte, warum sie es
wagten, an diesem Tag hier spazieren zu
gehen, hörte von der Bürgerpflicht, sich
gegen Willkür zu stemmen, von Rechten
und der Verfassung, die über schikanösen
Gesetze stehe. Das Internet funktionierte

im ganzen Zentrum extrem schlecht,
auch wenn die Anbieter Maßnahmen be-
stritten. Die Sicherheitskräfte sperrten
Straßen und zeitweise U-Bahn-Stationen.
Laut Polizei wurden rund 600, laut den
Bürgerrechtlern von OWD-Info 1001
Menschen festgenommen, unter ihnen 14
Journalisten und 81 Minderjährige. Die
meisten davon seien jedoch nach kurzer
Zeit wieder freigelassen worden. Etwa
zwei Dutzend hätten die Nacht auf der
Wache verbracht. Festgenommen wurden
auch Kommunalabgeordnete und zur
Wahl der Moskauer Stadtverordnetenver-
sammlung am 8. September zugelassene
Kandidaten, die sich mit dem Anliegen
der Oppositionskandidaten solidarisiert
haben, die wegen angeblich fehlerhafter
Wählerunterschriften ausgeschlossen
wurden. Als eine der Ersten wurde Lju-
bow Sobol abgeführt, eine der wenigen
ausgeschlossenen Kandidaten, die der-
zeit keine Arreststrafe absitzen. Die Mit-

streiterin des Antikorruptionskämpfers
Aleksej Nawalnyj wurde dann wegen ei-
ner Protestaktion von Mitte Juli zu der
höchstmöglichen Geldbuße verurteilt,
umgerechnet gut 4100 Euro. Dann wurde
Sobol, die nach drei Wochen Hunger-
streik geschwächt wirkte, vom Ermitt-
lungskomitee bis in die Nacht im Verfah-
ren wegen angeblicher „Massenunruhen“
am 27. Juli verhört.
Bisher gilt Sobol dabei als Zeugin, aber
das kann sich schnell ändern. Auch viele
andere jetzt Festgenommene wurden
nach den angeblichen „Massenunruhen“
befragt, ohne Beistand von Anwälten.
Auch wurde berichtet, dass den Leuten
Essen und Trinken vorenthalten wurde.
Laut der Nachrichtenagentur Interfax er-
litt ein Nationalgardist während der Pro-
testaktion eine Schulterzerrung und wur-
de in ein Krankenhaus gebracht. Gegen ei-
nen 23 Jahre alten Demonstranten wurde
deswegen ein Strafverfahren eröffnet. An

einer anderen Stelle des Moskauer Zen-
trums forderte am Samstag eine große
Gruppe den Rücktritt von Bürgermeister
Sergej Sobjanin, dem der Ausschluss der
Kandidaten angelastet wird, und warf Prä-
sident Wladimir Putin in Sprechchören
vor, ein „Dieb“ zu sein. Fälle von Korrup-
tion und Günstlingswirtschaft im Macht-
apparat zu enthüllen dürfte nun noch ge-
fährlicher werden: Am Samstag gab das
Ermittlungskomitee bekannt, gegen Na-
walnyjs Stiftung zum Kampf gegen Kor-
ruption wegen des Verdachts der Geldwä-
sche zu ermitteln. Stiftungsmitarbeiter
vermuteten, es gehe um die Spenden, mit
denen sie ihre Arbeit finanzieren.
In Sankt Petersburg versammelten
sich am Samstag nach offiziellen Anga-
ben tausend, laut Beobachtern doppelt
so viele Menschen zu einer Solidaritäts-
demonstration mit den von der Stadtver-
ordnetenwahl in Moskau ausgeschlos-
senen Kandidaten.

elo.BERLIN, 4. August. Die geplan-
ten Reisen zweier Bundestagsausschüs-
se nach China scheitern offenbar am
Widerstand Pekings. Der Sprecher der
Unionsfraktion im Bundestag für Men-
schenrechte, Michael Brand (CDU),
sagte der Deutschen Presse-Agentur,
China weigere sich, den Menschen-
rechtsausschuss des Parlaments einrei-
sen zu lassen. „Es geht darum, ein
Exempel zu statuieren gegen Men-
schen, die sich trauen, das Thema Men-
schenrechte klar anzusprechen und die
Finger in die Wunde zu legen“, äußerte
Brand. Die Delegationsreise des Aus-
schusses war seit Monaten geplant und
sollte im September nach Peking, Lha-
sa in der Autonomen Region Tibet und
Urumtschi in der westlichen Provinz
Xinjiang führen. Der Ausschuss hat in
diesem Jahr die „Lage der religiösen
Minderheiten in China“ als Schwer-
punktthema.
Zudem lehnt China die Reise des
Bundestagsausschusses Digitale Agen-
da ab. Offenbar ist Peking nicht bereit,
die Mitreise der Grünen-Abgeordne-
ten Margarete Bause zu akzeptieren.
„Die Ansage der chinesischen Seite, so-
lange ich auf der Delegationsliste ste-
he, könne der Ausschuss nicht nach
China reisen, ist ein absolut inakzep-
tabler Vorgang“, sagte Bause. „Ich ver-
stehe das als Versuch, Abgeordnete,
die sich laut und deutlich für Men-
schenrechte einsetzen, zum Schweigen
zu bringen“, fügte sie hinzu. Der Bun-
destag dürfe dieses Vorgehen Chinas
nicht hinnehmen. Die Reise des Aus-
schusses Digitale Agenda sollte nach
bisherigen Planungen vom 23. August
bis zum 1. September stattfinden. Ge-
plant sind Gespräche in Peking und
Schanghai. Die Ausschussmitglieder
wollten unter anderem Start-up-Fir-
men und einen Themenpark für Künst-
liche Intelligenz besuchen. Bause soll-
te mit dem Status eines „temporären“
Mitglieds des Ausschusses für ihren
Fraktionskollegen und Ausschuss-Ob-
mann Dieter Janecek an der Reise teil-
nehmen.
Die Deutsche Presse-Agentur zitiert
aus einem Brief der Grünen-Abgeord-
neten an den Ausschussvorsitz. Sie
und die Grünen-Fraktion sähen keine
Veranlassung, auf Bauses Mitreise zu
verzichten. Sie wolle weiterhin als Teil
der Delegation dabei sein. Bause äu-
ßerte, Fraktionsgeschäftsführerin Brit-
ta Haßelmann sehe das ebenso. Haßel-
mann schrieb auf Twitter, wer mit und
über China spreche, müsse auch „klar
und vernehmbar“ über Menschenrech-
te reden. Das täten Bause und viele
Mitglieder anderer Fraktionen. „Und
das ist gut so.“

WASHINGTON, 4. August


D


ie Ermittler in El Paso geben sich
zunächst zurückhaltend. Es gebe
„Anzeichen für einen Zusammen-
hang“, so Polizeichef Greg Allen am
Samstagabend vorsichtig, zwischen dem
Massaker in einem Walmart-Kaufhaus
vom Vormittag „und einem potentiellen
Hassverbrechen“. Wieder einmal geht es
dabei um ein „Manifest“, das auf dem On-
line-Portal 8chan gefunden wurde. Darin
scheint der junge Mann, der mit seinem
Sturmgewehr zwanzig Personen erschos-
sen und 26 weitere verwundet hat, seine
Tat angekündigt und begründet zu haben.
Das vierseitige Dokument mit dem Ti-
tel „Die unbequeme Wahrheit“ wurde
am Samstag nach Medienberichten um
10.20 Uhr texanischer Zeit hochgeladen.
Also 19 Minuten bevor der 21 Jahre alte
Patrick Crusius aus einem Vorort von
Dallas das Geschäft betreten, seinen Mas-
senmord begangen hatte und sich dann
widerstandslos festnehmen ließ. Dass er
anders als so viele Amokläufer und Atten-
täter nicht selbst den Tod suchte, spricht
ebenfalls dafür, dass er eine „politische“
Botschaft hat und dafür nun auch noch
vor Gericht eine Bühne bekommen möch-
te. In einem Verfahren, so viel haben die
Vertreter des Staates Texas am Wochen-
ende klargemacht, in dem Crusius die To-
desstrafe droht. Schon der australische
Attentäter, der im März in der neuseelän-
dischen Stadt Christchurch 51 Menschen
in zwei Moscheen tötete, soll seine Tat


bei 8chan angekündigt haben. Das mut-
maßliche „Manifest“ von Crusius beginnt
denn auch mit Lob für den Geistesbruder
vom anderen Ende der Welt: „Grundsätz-
lich unterstütze ich den Schützen von
Christchurch und sein Manifest. Dieser
Angriff ist eine Antwort auf die hispani-
sche Invasion von Texas.“ Einwanderer
aus Lateinamerika, so die Überzeugung
des Verfassers und mutmaßlichen Mör-
ders, übernähmen zusehends die Macht
in den Vereinigten Staaten. Die rechtsra-
dikale These vom angeblich konzertier-
ten Bevölkerungstausch durfte nicht feh-
len: Weiße würden in den Vereinigten
Staaten „ersetzt“, lamentiert der Autor
des Manifests. Doch „wenn wir genug
Leute loswerden, kann unsere Lebensart
besser bestehen“. Die Staatsanwaltschaft
stufte die Tat als inländischen Terroris-
mus ein.
Augenzeugenberichte und Handyvi-
deos von Überlebenden aus der Walmart-
Filiale deuten zwar nicht darauf hin, dass
sich der Attentäter die Mühe machte, ge-
zielt spanischsprachige oder dunkelhäuti-
ge Opfer auszuwählen. Dafür gab er zu
viele Schüsse in zu kurzer Zeit ab, bis die
ersten Polizisten rund sechs Minuten
nach dem ersten Notruf am Tatort eintra-
fen. Doch allein der Umstand, dass Crusi-
us seine Tat in El Paso verübte, lässt es
plausibel erscheinen, dass sie sich gegen
Latinos richtete. Die Stadt an der Grenze
zu Mexiko liegt etwa zehn Autostunden
von dem Haus im nordtexanischen Allen

entfernt, in dem der Täter offenbar bei sei-
nen Großeltern lebte. Nur ein Zaun und
ein im Sommer oft zum Rinnsal verküm-
merter Grenzfluss trennen El Paso von
seiner mexikanischen Schwesterstadt Ciu-
dad Juárez. Die Gewalt, die dort herrscht,
schwappte aber nie nach Texas über – die
um ihre Schmuggelrouten besorgten
Rauschgiftbanden in Mexiko haben selbst
ein Interesse daran, die Sicherheitsbehör-
den nördlich der Grenze nicht übermäßig
zu reizen. Billig-Supermärkte wie Wal-
mart profitieren in El Paso wie in ande-
ren Grenzstädten auch von mexikani-
scher Kundschaft, die zum Einkauf über
die Grenze fährt. Der mexikanische Präsi-
dent Andrés Manuel López Obrador be-
klagte am Wochenende den Tod von drei
mexikanischen Staatsangehörigen. Auf
welcher Seite der Grenze sie zuletzt wohn-

ten und ob sie sich legal in den Vereinig-
ten Staaten aufhielten, blieb zunächst un-
klar. Wann immer sich die Migrationskri-
se an der amerikanischen Südwestgrenze
zuspitzt, steht El Paso besonders im Fo-
kus. Vermutlich hat keine andere Stadt in
den vergangenen Monaten mehr zentral-
amerikanische Asylbewerber aufgenom-
men. Doch das verlief in der zweisprachig
geprägten Stadt, politisch fest in Demo-
kratenhand, ohne große Konflikte. Präsi-
dent Donald Trump freilich verbreitete
ein anderes Bild. Nicht zufällig hielt er sei-
ne erste große Kundgebung dieses Jahres
in El Paso ab, kurz bevor er einen nationa-
len Notstand an der Grenze erklärte, um
die angebliche „Invasion“ mit einer vom
Pentagon bezahlten Grenzmauer stoppen
zu können. Am Samstagabend bezeichne-
te Trump das Massaker als „tragisch“ und

als Werk eines „Feiglings“. Einer der be-
kannteren Präsidentschaftsanwärter der
Demokratischen Partei, Beto O’Rourke,
stammt aus El Paso. Bei der texanischen
Senatswahl im vorigen November hatte
der frühere Kongressabgeordnete nur
rund 200 000 Stimmen weniger als der re-
publikanische Amtsinhaber Ted Cruz be-
kommen. Dieser ließ sich denn auch in ei-
nem ausgerechnet am Samstag auf Seite
eins der „Washington Post“ veröffentlich-
ten Artikel mit alarmierten Ermahnun-
gen an seine Partei zitieren, sie dürfe Sie-
ge im einst tief republikanischen Texas
nicht mehr für selbstverständlich halten.
Nach der Wahlniederlage von Mitt
Romney gegen Barack Obama im Jahr
2012 hatte sich die Republikanische Par-
tei deshalb vorgenommen, ihren Ton ge-
genüber Latinos zu verändern. Die Basis
aber hatte andere Pläne und hob in den
Vorwahlen Trump auf den Schild. Er
spitzt die Warnungen vor dem Verlust
konservativer Bastionen seit langem zu,
indem er behauptet, dass die Demokraten
zur Förderung ihrer Wahlchancen be-
wusst eine Politik „offener Grenzen“ ver-
folgten und dafür sorgten, dass Millionen
von illegalen Einwanderern unberechtig-
terweise an Wahlen teilnähmen. Der At-
tentäter von El Paso scheint seine Schlüs-
se daraus gezogen zu haben – auch wenn
der Verfasser des „Manifests“ hervorhebt,
seine politischen Auffassungen schon
„vor Trump und seiner Präsidentschafts-
kampagne“ gefestigt zu haben. O’Rourke

sagte am Samstag Wahlkampftermine ab
und flog nach El Paso zurück, wo Hunder-
te Menschen dem Appell der Behörden
gefolgt waren und Blut spendeten.
O’Rourke warf Trump vor, „Rassismus zu
schüren“. Auch seine Mitbewerber melde-
ten sich zu Wort. Pete Buttigieg ging be-
sonders weit. Er warf Trump vor, „Men-
schen zum Morden zu inspirieren“ oder
zu „ermuntern“, indem er „weißen Natio-
nalismus“ hoffähig mache. Die Vereinig-
ten Staaten, so der Bürgermeister von
South Bend weiter, würden von „einhei-
mischen Terroristen“ angegriffen, die Rü-
ckendeckung von höchster Stelle hätten.
Praktisch alle führenden Demokraten
bekräftigten nach dem Massenmord von
El Paso ihre Kritik am liberalen Waffen-
recht. Sie verwiesen dabei auf die Morde,
die zuletzt Schlagzeilen gemacht hatten:
Sechs Tage vor dem Massaker hatte ein
mutmaßlich ebenfalls rechtsradikaler Tä-
ter drei Personen und sich selbst auf ei-
nem „Knoblauch-Festival“ in der kaliforni-
schen Stadt Gilroy getötet. Zwei Tage spä-
ter erschoss ein Walmart-Mitarbeiter zwei
Kollegen in einer Filiale in Mississippi.
Doch schon am nächsten Morgen gab
es einen noch viel krasseren Fall neuer
Waffengewalt zu beklagen. In Dayton im
Staat Ohio erschoss ein Mann in den frü-
hen Morgenstunden neun Passanten in ei-
nem Vergnügungsviertel in der Innen-
stadt. 16 weitere wurden verletzt. Der Tä-
ter hatte sich eine Kampfmontur angezo-
gen, benutzte nach ersten Angaben eben-
falls ein Sturmgewehr und trug etliche Ma-
gazine zum Wechseln bei sich. Keine Mi-
nute nach den ersten Schüssen töteten
Streifenpolizisten den Mörder. Dadurch
hätten sie wohl „Hunderte Menschenle-
ben gerettet“, sagte Bürgermeisterin Nan
Whaley am Sonntag. Der Täter soll ein 24
Jahre alter Weißer aus einem Vorort von
Dayton gewesen sein. Was ihn zu seinem
Massenmord bewog, ob ihn gar die Blut-
tat von El Paso inspiriert hatte, blieb zu-
nächst unklar.
Ob sie es sich nach den Meldungen aus
Texas am Samstag hätte vorstellen kön-
nen, wurde Bürgermeisterin Whaley ge-
fragt, dass nur 13 Stunden später ihre eige-
ne Stadt heimgesucht werde? Die Demo-
kratin verwies zur Antwort matt auf die
Statistik, wonach sich in Dayton am Mor-
gen das 250. amerikanische „mass shoo-
ting“ des Jahres 2019 ereignet hatte. Dazu
zählt jeder Vorfall, bei dem mindestens
vier Personen angeschossen wurden.
Bleibt es bei den vorläufigen Totenzahlen,
belegt Dayton auf dieser Liste bis auf wei-
teres den dritten Platz, El Paso den ersten.

Jenseits des Rechtsstaates:Polizisten gehen am Samstag gewaltsam gegen einen Demonstranten in Moskau vor. Foto Imago

„Wenn wir genug Leute loswerden“


Vieles spricht dafür, dass der Täter von El Paso kurz vor dem Massenmord eine Rechtfertigung seiner Tat im Internet veröffentlichte / Von Andreas Ross


Parlamentarier


dürfen nicht nach


China reisen


Mit Schlagstöcken gegen einen Fahrradfahrer


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Washington
Montana

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South Dakota Wisconsin

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sota

Austin

Oklahoma City Little Rock Atlanta

Raleigh
Columbia

Nashville

Dallas

Los Angeles
San Diego

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Topeka

St. Paul

Bismarck

Pierre

Helena

Cheyenne

Augusta

Des MoinesSpringMeld

Charleston
Jefferson City Richmont

Madison

Columbus
Indianapolis
Frankfort
Kentucky

Chicago Toledo
Ogallala
Virginia

West
Virginia

California

Wyoming
Nebraska
Iowa
Illinois
Indi-
ana Ohio

Atlantik

Lake Superior

Lake

PaziBk

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ssis
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sso
uri
VEREINIGTE STAATEN

MEXIKO Ciudad
Juárez

Dallas

Allen

MONTANA

TEXAS

KALIFORNIEN

OHIO

VEREINIGTE STAATEN

MEXIKO
500 km
F.A.Z.-Karte heu.


  1. Juli
    Gilroy, Kalifornien:
    3 Tote, 13 Verletzte
    3. August
    El Paso, Texas:
    20 Tote, 26 Verletzte
    4. August
    Dayton, Ohio:
    9 Tote, 16 Verletzte


Massaker mit Schusswaffen
Die vergangene Woche in den Vereinigten Staaten

InMoskau gehen


Sicherheitskräfte mit


großer Brutalität gegen


Demonstranten vor.


Nach Angaben von


Bürgerrechtlern sind


1001 Personen


festgenommen worden.


Von Friedrich Schmidt

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