Frankfurter Allgemeine Zeitung - 05.08.2019

(Dana P.) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Sport MONTAG, 5. AUGUST 2019·NR. 179·SEITE 25


E

s ist ein bisschen wie ein langes
Pokerturnier, dessen Finale für
das deutsche Männerturnen in
ziemlich genau zwei Monaten stattfin-
den wird: Dann, im vierten Qualifi-
ka–tionsdurchgang der Weltmeister-
schaft in Stuttgart, braucht Cheftrainer
Andreas Hirsch die beste Hand, in sei-
nem Fall eben fünf Turner. Deren Aus-
wahl begann am Samstag bei den deut-
schen Meisterschaften in Berlin, die An-
dreas Toba vor Marcel Nguyen gewann.
Andreas Hirsch hatte die Veranstaltung
offiziell zur ersten WM-Qualifikation
erklärt. Aber in die Karten seiner Krite-
rien gewährte der Cheftrainer wie ge-
wohnt keinen konkreten Einblick – im
Anschluss an den Wettkampf klang das
so: „Am Anfang muss man ja erst mal
gucken, wen hat man überhaupt im
Boot? Wer kann der Mannschaft hel-
fen, wer unserem Ziel helfen?“
Andreas Hirsch ist ziemlich erfahren
in diesem Spiel: In seiner Laufbahn als
Cheftrainer ist es das fünfte Mal, dass
er entscheiden muss, mit welchen Ath-
leten er zur Olympiaqualifikation an-
tritt. Viermal hat er gewonnen: Seit
2004, den ersten Olympischen Spielen
unter seiner Verantwortung, gehörten
die deutschen Turner immer zu den
zwölf Nationen, die in Teamstärke an-
treten durften. Das beste Ergebnis war
der vierte Rang im Teamfinale 2008,
2012 und 2016 wurden die Turner je-
weils Siebter. Marcel Nguyen war bei
all diesen Wettkämpfen dabei und wur-
de auf dem Höhepunkt seiner Karriere
2012 zweimal Olympiazweiter. „Ver-
mutlich gibt es nicht so viele Turner,
die mit über 30 Jahren noch alle Geräte
machen“, sagte der knapp 32-Jährige
am Samstag. Viele Elemente zeige er
nur noch im Wettkampf, da eine lädier-
te Schulter das Training nicht mehr er-
laube. Andreas Toba, auch schon seit
2012 in London dabei, wurde 2016 in
Rio – wegen eines Kreuzbandrisses –
berühmt, in Tokio würde er allzu gern
noch mal einen kompletten Wettkampf
bestreiten. Für den Cheftrainer, so viel
Prognose darf man wagen, werden bei-
de, so sie gesund bleiben, Karten sein,
auf die er nicht verzichten kann. Das
Ziel der Meisterschaft, bei der 35 Tur-
ner antraten, sei „erst mal nur, zwölf
Leute für die nächste Qualifikation her-
auszukristallisieren“, sagte Hirsch. Das
zweite offizielle Qualifikationsturnier
steht bereits in zwei Wochen an. Dass
es danach eine definitive Nominierung
des WM-Teams gibt, ist nicht anzuneh-
men, aber „den Kern der Mannschaft“
werde er dann benennen, versprach
Hirsch am Wochenende.
In diesem Olympiazyklus haben sich
die Spielregeln etwas verändert. Hirsch
beschreibt seine Aufgabe so: „Im Prin-
zip brauchen wir 18 Übungen – und das
müssen die besten sein, jeweils drei am
Gerät und dafür haben wir fünf Turner
zur Verfügung.“ Die Verringerung der
Mannschaftsstärke von sechs auf fünf
Aktive verkompliziert die Sache: Auf
der einen Seite braucht es vor allem Tur-
ner, die an allen Geräten einsetzbar
sind, auf der anderen Seite bräuchte es
auch einzelne Übungen, die ein Quent-
chen besser sind als der Schnitt, und die
stammen meist von Turnern, die eben
nicht an allen Geräten gleich gut sind.
So ist Nick Klessing aus Halle zum Bei-
spiel besonders gut an den Ringen, Nils
Dunkel am Pauschenpferd. Beide wur-
den am Sonntag Meister an ihren Gerä-
ten, konnten sich im Mehrkampf aber
nicht unter den besten fünf plazieren.
Chancenlos sind sie vermutlich deswe-
gen nicht. Blufft Andreas Hirsch, wenn
er sagt: „Der Mehrkampf hier ist nicht
die Nominierung dort“ oder „zwischen
Nominierung und Formierung der
Mannschaft“ wolle er unterscheiden?
Leicht ist seine Aufgabe nie gewe-
sen. Aber in diesem Jahr ist es wohl
noch etwas schwieriger: Der Druck, die
Qualifikation bei einer WM im eigenen
Land zu schaffen, ist hoch. Man stelle
sich nur vor, wie diese zehntägige Ver-
anstaltung verläuft, wenn sich die deut-
schen Athleten in den ersten Tagen
nicht qualifizieren. Die Erwartungshal-
tung der Turnbrüder ist hoch, denn die
tollen Erinnerung sind noch wach: Bei
der letzten Heim-WM 2007 gab es Bron-
ze für das Team, Silber und Gold für Fa-
bian Hambüchen und weitere Finalplät-
ze. Daran ist nicht zu denken. Aber wer
weiß: Vielleicht wird Lukas Dauser, mo-
mentan nach Handbruch noch in der
Reha, zum Joker am Barren? Oder, das
wäre die größte Überraschung, der erst
19-jährige Karim Rida, in Berlin Drit-
ter, schafft es ins Team. Intern hat An-
dreas Hirsch genau die Situation ge-
schaffen, die er mag: Konkurrenz als
Ansporn. So trainieren gleich vier po-
tentielle Starter gemeinsam in Berlin.
Philipp Herder, von einer Bandverlet-
zung im Halswirbelbereich genesen
und Vierter der Meisterschaft, be-
schreibt die Stimmung als gut, man ver-
stehe sich als Weggefährten: „Das ist
wie eine Kameradschaft, aber letztlich,
klar, ist der Konkurrenzdruck da.“
SANDRA SCHMIDT

W

er Florian Wellbrock krau-
len sieht, muss das Wort
Eleganz neu definieren.
Er hebt seine Arme aus
dem Wasser und taucht
sie fast unmerklich wieder ein. Er gleitet.
Und wenn Wellbrock gleitet, bleibt die
Zeit für einen kurzen Moment stehen.
Alle in der Schwimm- und Sprunghalle
an der Landsberger Allee schauen auf
ihn, schauen darauf, wie sein Körper sich
im Wasser bewegt. Es sieht so ruhig aus,
obwohl so viel Kraft in jeder Bewegung
liegt.
Als Wellbrock nach den 1500 Metern
Freistil anschlägt, muss er warten. Well-
brock hängt entspannt am Beckenrand.
Mitte Juli ist er in Gwangju in Südkorea
Weltmeister geworden, im Freiwasser
und im Becken, jetzt auch noch deut-
scher Meister über 1500 Meter Freistil.
Er wartet auf Christian Keber. Danach
berühren sich die Hände der beiden, sie
klatschen gegeneinander. „Willkommen
bei den Finals“, das dringt aus den Laut-
sprechern beim Schwimmen, aber auch
beim Kanu oder Turnen. Die Finals, das
sind zehn deutsche Meisterschaften in ei-
ner Stadt, in Berlin. Am Wannsee, in Mit-
te, in Prenzlauer Berg, Charlottenburg
oder Friedrichshain, überall in der Stadt
finden Wettkämpfe statt. 155 Diszipli-
nen, doch die Besonderheit findet sich
im einzelnen Augenblick.

„Alle starren auf die Mauer“
Für Monika Krawczyk aus Berlin war es
dieser Augenblick, Wellbrock schwim-
men zu sehen: „Er ist so lässig, das ist un-
glaublich“, sagt sie nach dem Rennen.
Für Katrin Priegnitz waren es die Kajak-
Rennen. An der Oberbaumbrücke ist die
Sprintstrecke aufgebaut, 160 Meter. Rote
Kugeln grenzen die Kanustrecke ab. Sie
sind wie eine Kette aneinandergereiht.
Die Sportler paddeln auf der Spree, mit
Blick auf den Alex. Die Augen von Ka-
trin Priegnitz tränen, sie streicht sich
eine Strähne aus dem Gesicht. „Dass ich
einmal so nah an der Strecke sein werde,
hätte ich nicht gedacht“, sagt sie. Eigent-
lich ist sie am Wochenende da, wo Ro-
nald Rauhe und Max Rendschmidt gegen-
einander im Einer-Kajak im Finale ange-
treten sind: auf dem Wasser. Seit sie
sechs Jahre alt ist, sitzt sie im Kajak. Ne-
ben ihr steht ihr Vater, der ihr alles beige-
bracht hat. Die Familie liebt das Wasser
und ist an den Wochenenden im Kanu-
Klub in Köpenick.
Doch heute ist sie hier. Und schaut auf
Rauhe, den mehrmaligen Weltmeister
und Olympiagewinner, der mit seinen 37
Jahren im Einer-Kajak über die Strecke
rast. Er scheint in keinem Moment zu zö-
gern, nicht zu zweifeln, jedes Mal, wenn

er das Paddel einsetzt, ist es eine Aussa-
ge. Unweit der Spree steht die Berliner
Mauer. An der East Side Gallery, dem
buntbemalten Stück Mauer, drängen sich
die Touristen wie jeden Samstag. Fotos
vor den Kunstwerken, von dem Trabi, der
durch die Mauer zu fahren scheint. Da-
hinter werden Titel gewonnen, hier be-
kommt davon niemand etwas mit. „Alle
starren auf die Mauer und wissen nicht,
was hier los ist“, sagt Katrin Priegnitz.
Die Finals, sie sind längst nicht bei je-
dem in der Stadt angekommen.
Zwei Kanutinnen balancieren ein Ka-
jak über die Köpfe der Menschen, die mit
Selfiesticks hantieren. Die Finals sind
auch das: kleine Inseln im trubeligen Ber-
lin. Die Kenner des Sports genießen das.
Viele bleiben unter sich. Zum Beispiel in
der Max-Schmeling-Halle beim Turnen.
Bei der Siegerehrung des Männer-Mehr-
kampfs liegt noch ein bisschen Glanz in
der Luft. Die Halle liegt im Dunkeln, nur
die Geräte in der Mitte sind beleuchtet.
Die Szenerie sieht durch das schummrige
Licht wie ein Gemälde aus. Die Turn-
Fans sehen, wie Andreas Toba seine mus-
kulösen Arme in die Höhe reckt. Er hat
den Mehrkampf der Männer gewonnen.
Das bekommt hier jeder mit, vom Rest
der Finals jedoch wenig. Wer einen Bild-
schirm sucht, auf dem die anderen Sport-
arten zu sehen sind, sucht vergebens. Nur
wenige Meter von der Max-Schmeling-
Halle ist die Trial-Strecke aufgebaut.
Dort balancieren Sportler auf kleinen
Fahrrädern auf Steinen, überwinden Hin-
dernisse. Doch die Besucher wechseln
wenig von einer Sportart zur anderen.
Sie schauen lieber auf Wellbrock oder
Toba. Der findet die Finals toll. Toba

stellt sich zum Gruppenfoto mit seiner
Familie auf und grinst. Danach muss er
schnell zur Doping-Kontrolle, aber hat
noch kurz Zeit. „Die Stimmung ist auf je-
den Fall viel besser“, sagt er. Auch wenn
jeder konzentriert auf seinen eigenen
Wettkampf sei, habe er doch etwas von
den anderen Athletinnen und Athleten
mitbekommen, zum Beispiel über Social
Media. „Da habe ich gesehen, dass alle
auf dem Weg nach Berlin sind. Da ent-
steht schon ein Gemeinschaftsgefühl“,
sagt er.
Auf dem Bildschirm, im Fernsehen
oder über Social Media wirken die Finals
wie ein geschlossenes Event. Manche be-
schreiben es sogar als „Mini-Olympia“.
Doch die Finals sind, was der Name eben
nicht unbedingt verrät, deutsche Meister-
schaften. In der Berliner S-Bahn ist das
Konzept noch nicht angekommen. „Ich
wusste erst mal nicht, was damit gemeint
ist“, sagt ein Fahrgast. Auch in den Sport-
stätten finden einige Besucher den Na-
men „doof“. Er verbirgt, was dahinter-
steckt. Auf einem Plakat, das in der
S-Bahn-Station hängt, ist Turnerin Elisa-
beth Seitz zu sehen, eingerahmt von ro-
ten Streifen auf schwarzem Grund. Ganz
oben rechts in der Ecke steht klein „10
Deutsche Meisterschaften“. In größeren
Buchstaben: „Die Finals Berlin 2019“.
Das Plakat setzt einen Fokus: Berlin.
Berlin kann, was andere Städte nicht
können. Es produziert direkt ein Bild,
ein Bild vom Alex oder dem Brandenbur-
ger Tor, der East Side Gallery oder dem
Olympiastadion. „Sonst ist die Turnmeis-
terschaft immer an mir vorbeigegangen,
doch diesmal nicht“, sagt Anett Müller,
die sich die Turnwettkämpfe anschaut.

Sie sei das beste Beispiel dafür, dass die
Werbung funktioniert habe. Das habe si-
cherlich auch mit der Stadt zu tun.
Und mit den Sportstätten, die die
Stadt zu bieten hat: das Olympiastadion,
das Velodrom zum Bahnradfahren oder
die Schwimm- und Sprunghalle, es ist
fast alles da. Bei den Finals gibt es zu den
besonderen Augenblicken auch ein paar
besondere Orte, die eine einzigartige
Stimmung erzeugen. Zum Beispiel das
Strandbad Wannsee.
Das Strandbad liegt am Ostufer des
Wannsees. Der Eingang ins Strandbad
liegt oberhalb des Sees. Ist das Tor durch-
quert, liegt der Wannsee ruhig vor ei-
nem. Auf dem gelben Sand reiht sich ein
weißer Strandkorb an den anderen. Die
Badegäste kommen mit großen Taschen,
aus einer lugt ein Badehandtuch hervor.
Zwei Frauen reden über ihren Sommerur-
laub. In der Mitte des Strands führt ein
Steg ins Wasser. Links neben dem Steg
laufen kleine Gestalten durchs Wasser.
Sie heben die Knie im Wasser. Immer
wieder laufen sie an. Die Athletinnen ma-
chen sich für den Triathlon-Start warm.

Das Stimmungsepizentrum
Die Badegäste machen es sich in ihren
Strandkörben bequem, ein Mädchen
steckt eine Fußspitze ins Wasser. Die Ath-
letinnen stellen sich zum Start auf. Sie
rennen los, einige setzen schon zu Del-
phinsprüngen an, während andere noch
weiter durchs Wasser laufen. Unter ih-
nen ist auch Laura Lindemann, am Sams-
tag wird sie zum dritten Mal deutsche
Meisterin über die Sprint-Distanz im Tri-
athlon. Es dauert nicht lang, dann ren-
nen die Athletinnen die Treppen hoch,

84 Stufen sind es bis zu ihren Fahrrädern.
Schon sind sie weg.
Der Wannsee wirkt fast, als wäre
nichts passiert. Eine Frau sagt: „Hätte
ich nicht die Kinder dabei, hätte ich’s mir
vielleicht angeschaut.“ Der Badebetrieb
geht ganz normal weiter. Zwei Besucher
betreten das Strandbad: „Zum FKK-Be-
reich links“, sagt eine Mitarbeiterin der
Berliner Bäder. Am Wannsee liegen an
diesem Tag Erfolg, Niederlage und Alltag
dicht beieinander. Die einen radeln,
schwimmen, laufen zu Erfolg und Nieder-
lage, die anderen verbringen einen ent-
spannten Tag am See.
In weniger als einer Stunde ist Laura
Lindemann im Ziel vor dem Olympiasta-
dion, in 59 Minuten und 19 Sekunden.
Das Olympiastadion ist das Stimmungs-
zentrum. Das wird besonders deutlich,
als Konstanze Klosterhalfen (siehe Be-
richt auf Seite 24) die 5000 Meter läuft.
Als sie die letzten Meter mit riesigen
Schritten läuft, stehen die Zuschauer im
Stadion auf und klatschten im Rhythmus
ihrer Schritte. Konstanze Klosterhalfen
schafft es, ihre Schrittlänge beizubehal-
ten, wenn andere müde werden und ver-
kürzen. Sie läuft zum neuen deutschen
Rekord: 14:26,76 Minuten.
Am Abend leert sich das Olympiasta-
dion langsam. Die Menschen verlassen
die Sportstätten. Monika Krawczyk, die
Schwimmbegeisterte, wird mit der Stra-
ßenbahn an den Stadtrand von Berlin fah-
ren. Anett Müller, die Turnbegeisterte,
wird die dunkle Max-Schmeling-Halle
verlassen. Am Ende sagt sie: „Wer weiß,
vielleicht wäre es sogar spannend, mal
zum Schwimmen zu gehen.“ Für sie sei
die Idee der Finals doch ein bisschen auf-
gegangen.

Alles noch


ein bisschen


schwieriger


Neue Regeln und mehr


Druck für deutsche Turner


Willkommen


im


Wunderland


Einhart kämpfender Ronald Rauhe;ein Olympiastadion, das spezielle Leichtathletik-Momente erlebt; eine Elisabeth Seitz, die doch noch Halt findet. Fotos nordphoto (2), dpa

DieStärke der Meisterschaften liegt nicht


in deren Gesamtheit, die Besonderheit findet sich


im Augenblick. Eine Spurensuche in Berlin.


Von Stefanie Sippel


Spektakel auf zwei Rädern:Nina Reichenbach im Trial-Wettkampf Foto dpa

Mit ruhiger Hand:Bogenschützin Lisa Unruh Foto dpa

... und die „Finals“ sind wie kleine Inseln in der Stadt – sie kommen nicht bei jedem an, aber die Kenner genießen sie

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