Frankfurter Allgemeine Zeitung - 05.08.2019

(Dana P.) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Politik MONTAG, 5. AUGUST 2019·NR. 179·SEITE 3


DORTMUND, 4. August. Der Klima-
streik der Fridays-for-Future-Bewegung
in Dortmund hatte ganz geordnet ange-
fangen. Die Demonstration war relativ
klein – ein paar hundert Teilnehmer –, es
mussten kaum Straßen gesperrt werden.
Zwanzig Aktivisten durften für exakt drei
Grünphasen eine Ampel blockieren, ge-
nau ein Auto hupte, weil Polizisten und
Demonstranten zwischen den Wagen ent-
langliefen und den Fahrern erklärten,
dass hier gerade für Klimaschutz demons-
triert werde. Nach den drei Grünphasen
rief ein Aktivist: „Leute, es wird Zeit“ –
und die anderen erhoben sich brav.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Ju-
gendlichen alle Aktionen abgesprochen
und gemeinsam geplant – am Tag zuvor
während des Friday-for-Future-Sommer-
kongresses am Rande der Stadt. Die Kli-
mabewegung ist strikt basisdemokratisch
organisiert, über jede Entscheidung wird
abgestimmt. Das führt dazu, dass es kei-
nen Versammlungsleiter, kein offizielles
Gesicht von Fridays for Future gibt. Wie
kompliziert es mit der Basisdemokratie
wird, wenn etwas Unvorhergesehenes
passiert, zeigt sich nach der Ampelblo-
ckade. Etwa hundert Demonstranten be-
setzen den Eingang des schwarz verspie-
gelten Hochhauses von RWE. Sie drapie-
ren ein Herz aus Pflanzen auf den
Asphalt vor dem Energieversorger-Ge-
bäude und schreiben „Erde“ darüber.
Das mit den Pflanzen war geplant, das
mit der Besetzung nicht.
Die Organisatoren des Sommerkongres-
ses und bekannten Köpfe der Bewegung,
Jakob Blasel und Carla Reemtsma, schau-
en mit skeptischen Mienen zu. Sie wissen
nicht genau, was sie tun sollen. Eine Blo-
ckade passt eigentlich nicht zu Fridays for
Future, die Bewegung will auch Protestein-
steiger mit offenen Armen empfangen. Zu
viel ziviler Ungehorsam könnte abschre-
cken, Fridays for Future könnte sein

freundliches Gesicht verlieren. Die Polizis-
ten reden immer eindringlicher auf die
Blockierer ein, Blasel ist nun sichtlich ge-
nervt. Der Sommerkongress sollte eigent-
lich schon längst weitergehen, Dutzende
Workshops sind geplant. Auf dem offiziel-
len Twitteraccount des Kongresses distan-
zieren sich die Organisatoren von den Blo-
ckierern: Diese Demonstranten würden
nicht im Namen von Fridays for Future
protestieren, diese Form des Widerstan-
des werde nicht unterstützt. Später wird
der Tweet wieder gelöscht. Als ein Akti-
vist vor die Blockierer tritt, von „Gruppen-
zwang“ spricht und erklärt: „Viele Leute
haben jetzt schon gesagt, dass sie sich mit
dieser Protestform unwohl fühlen“, löst
sich die Blockade langsam auf.
Zurück auf dem Kongress, zu dem rund
1700 Aktivisten angereist sind, gibt der
Sechzehnjährige Linus Dolder passender-
weise einen Workshop zu zivilem Unge-
horsam. Der Schweizer steht barfuß in Ba-
tikshirt und Sporthose in einem völlig
überfüllten Klassenraum und fächert sich
Luft zu. Dolder hat im Dezember, als die
Fridays-for-Future-Proteste begannen,
mit Sitzblockaden und Tagebaubesetzun-
gen angefangen. Diese Art von zivilem
Ungehorsam sei effektiver als die ande-
ren Protestformen, findet er. So denken
mittlerweile viele bei Fridays for Future.
Seit acht Monaten streiken die Jugendli-
chen, und ihrer Meinung nach hat sich
beim Klimaschutz so gut wie nichts getan.
Es sei nur verständlich, dass viele frus-
triert seien und sich in extremeren Pro-
testformen üben würden, meint Dolder.
„Ich glaube, ziviler Ungehorsam wird an
Relevanz für Fridays for Future gewin-
nen, weil uns die Zeit davonrennt.“
Man tut Fridays for Future unrecht,
wenn man ihren Sommerkongress mit ei-
nem Feriencamp vergleicht. Natürlich
läuft ein Viertel der Leute barfuß herum,
es gibt „Chill-out Areas“, gebaut aus Bio-

Limonaden-Kästen, und irgendwo trägt
immer jemand eine Lautsprecherbox her-
um. Aber hier halten auch Vierzehnjähri-
ge dem Vorsitzenden der Wirtschaftswei-
sen Vorträge über Methangas und
CO 2 -Besteuerung, Sechzehnjährige wie
Dolder geben Rhetorik-, Protest- und
Rechtsworkshops, die sich sehen lassen
können, und egal, wo man ist: Überall
wird diskutiert. Über zivilen Ungehor-
sam, Feminismus, Seenotrettung, Söder
und sein plötzlich aufgekeimter Klima-
schutz-Enthusiasmus. Dabei ist die Idee
für den Kongress erst zweieinhalb Mona-
te alt. Jakob Blasel und Ragna Diederichs
haben sie damals in der wöchentlichen Te-

lefonkonferenz von Fridays for Future vor-
gestellt. Danach hat ein Team aus rund 15
Jugendlichen die Vorbereitungen über-
nommen. Ursprünglich sollten 3000 Ju-
gendliche zu dem Kongress kommen,
aber das Organisationsteam merkte ir-
gendwann, dass sie das nicht schaffen
würden. Zu viele Sicherheitsauflagen, zu
wenig Zeit.
In den vergangenen Ferienwochen ist
Fridays for Future leiser geworden, die
Zahl der demonstrierenden Schüler ist zu-
rückgegangen. Ob die Bewegung an Zu-
lauf verliere, wurden Blasel, Reemtsma
und die anderen gefragt. Die 21 Jahre alte
Reemtsma sagt: „Auf die Zahlen der De-

monstranten kommt es schon lange nicht
mehr an.“ Vielmehr gehe es darum, konti-
nuierlichen Druck aufzubauen, überall
präsent zu sein. Fridays for Future
schätzt, dass sich momentan rund 5000
Jugendliche in Deutschland aktiv für die
Bewegung engagieren.
Die nächste große Demonstration ist
am 20. September geplant. Das erste Mal
ruft Fridays for Future auch die arbeiten-
de Bevölkerung zum Streik auf. Für den
weltweiten Aktionstag haben die Aktivis-
ten ein Flugblatt in „Bild“-Zeitungsoptik
designt. „Wie Politik und Wirtschaft unse-
re Kinder beklauen und mit welchen
Tricks wir etwas dagegen tun können!“ ti-
teln sie in Großbuchstaben. Reemtsma er-
klärt, sie wollten mit dem schwarz-roten
Design mal andere Menschen ansprechen.
Dass der überwiegende Teil der Demons-
tranten aus dem gutbürgerlichen Milieu
kommt, ist den Fridays-for-Future-Köpfen
bewusst, auch wenn sie – abgesehen vom
Flugblatt – wenig tun, um ein heterogene-
res Protestpublikum zu gewinnen.
Wie sehr die Demonstranten dadurch
ihre eigene Blase verfestigen, versuchen
ihnen am Samstag ein Verdi-Vertreter
und der Vorsitzende der Wirtschaftswei-
sen, Christoph Schmidt, klarzumachen.
Alle Hoffnungen, dass eine CO 2 -Steuer
nicht auf die Bürger abgewälzt werden
würde, müssten die Aktivisten begraben,
sagt Schmidt, der sich auf der Bühne sicht-
lich bemüht, auf Augenhöhe mit den Ju-
gendlichen zu sprechen. Sein Altersgenos-
se von Verdi fordert eine niedrige Ein-
stiegsteuer, um Menschen, die wenig ha-
ben, nicht sofort zu Gegnern der Klima-
schutzpolitik zu machen. Die Aktivisten
gehen nicht darauf ein. Stattdessen strei-
tet sich Reemtsma so lange mit Schmidt,
bis dieser entnervt sagt: „Meine Argumen-
tation ist nicht wirr, das ist halt die reale
Welt!“ Vom Publikum erntet er nur ableh-
nende Zwischenrufe und empörte Blicke.

BERLIN, 4. August. Wenn an diesem
Montag die Schule in Berlin und Bran-
denburg wieder beginnt, werden nicht
nur viele Schüler, sondern auch viele
Lehrer unter den Anfängern sein.
„Auch in diesem Jahr müssen wir wie-
der auf viele Quereinsteigende zurück-
greifen“, hat Schulsenatorin Sandra
Scheeres (SPD) vor Beginn des neuen
Schuljahrs gesagt. Denn auch in diesem
Jahr sind zwei Drittel der 2734 neu ein-
gestellten Lehrer Quer- oder Seitenein-
steiger. 711 Quereinsteiger wurde unter
3750 Bewerbern ausgewählt, die ande-
ren seien nicht geeignet gewesen. Sie
durchlaufen unterrichtsbegleitend eine
kurze pädagogische Ausbildung und
haben zumindest einen Hochschulab-
schluss in einem der Fächer, in denen
sie unterrichten. Für die Seiteneinstei-
ger, 938 an der Zahl, gilt das nicht. Die
meisten haben in keinem der Fächer,
die sie unterrichten, einen Hochschul-
abschluss. Sie sind darauf angewiesen,
dass die Schulleitung Jahr für Jahr ih-
ren Vertrag verlängert. Scheeres würde
die Seiteneinsteiger sogar dauerhaft an-
stellen, wenn sie voll im Kollegium ein-
gebunden seien. Unklar ist, ob sie auch
eine Option auf den Quereinstieg be-
kommen sollen. Hinzu kommen 250
Pensionäre, die für kurze Zeit wieder in
den Schuldienst zurückkehren.
Die Lage verschärft sich in Berlin da-
durch, dass Seiten- und Quereinsteiger
überdurchschnittlich oft an Brenn-
punktschulen mit besonders schwieri-
gen Schülern unterrichten. Nicht weni-
ge scheitern an Kindern, die regelmä-
ßig ausrasten und nicht mehr zu bändi-
gen sind, die dauerhaft aggressiv sind
und keinerlei Respekt haben. Häufig
fehlt es an Mentoren, die sich im an-
strengenden Unterrichtsalltag intensiv
um Quer- und Seiteneinsteiger küm-
mern können. Die meisten haben alle
Hände voll zu tun, ihre eigenen Klassen
zu bändigen.
Der Versuch, Quer- und Seitenein-
steiger in alle Bezirke zu verteilen, ist
gründlich misslungen. Die Brennpunkt-
schulen, an denen es gut läuft, binden
die an ihrer Schule ausgebildeten Quer-
einsteiger genauso wie die pädagogisch
qualifizierten Lehrer. Schulen hinge-
gen, an denen es drunter und drüber
geht, die gar Brandbriefe schreiben, ha-
ben Schwierigkeiten, fachlich gut ausge-
bildete Lehrer zu finden. Viele der Ber-
liner Lehrer unterrichten lieber in Bran-
denburg oder Hamburg, weil dort verbe-
amtet wird. In der Berliner SPD ist die
Verbeamtung bisher nicht mehrheits-
fähig, während die SPD-Schulsenatorin
sie längst will. Auch die CDU im Abge-
ordnetenhaus möchte die Hauptstadt
damit attraktiver machen und sieht
eine „akute Bildungskrise“.
Die Brennpunktschulen sind in Ber-
lin gut ausgestattet, die Lehrerversor-
gung liegt dort bei 160 bis zu 210 Pro-
zent, um Sprache zu fördern oder ver-
stärkt geteilten Unterricht zu geben.
Die jüngsten Ergebnisse des Ver-
gleichstests Vera für Drittklässler fie-
len wieder so schlecht aus, dass Berlin
gerade in den sechsjährigen Grund-
schulen für mehr Leistung sorgen
muss. Denn 30 Prozent der Drittkläss-
ler schafften in Mathematik und
Deutsch nicht einmal den Mindeststan-
dard, weitere 25 Prozent blieben unter
dem Durchschnitt. „Wir sind nicht zu-
frieden mit solchen Leistungen“, sagte
Schulsenatorin Scheeres.
In den Unterrichtsalltag integriertes
Lesetraining, Schreibflüssigkeitstrai-
nings sowie Rechtschreibgespräche,
eine zusätzliche Deutschstunde sowie
eine Qualitätsoffensive für den Mathe-
matikunterricht sollen jetzt Besserung
bringen. Außerdem schließt die Schul-
aufsicht bis Ende des Jahres mit allen
Schulen einen Schulvertrag, in dem
Zielvereinbarungen festgehalten sind.
Am längst nicht mehr verpflichtenden
jahrgangsübergreifenden lernen (JüL)
halten viele Schulen fest, obwohl darin
einer der Gründe für die schlechten
Leistungen liegt. Alle Berliner Schüler
bekommen von diesem Schuljahr an
ein kostenloses Schulmittagessen, kön-
nen kostenfrei den Schulhort besuchen
und kostenlos Bus und Bahn fahren.
Vor allem das kostenlose Schulmittages-
sen stellt die Schulen aber vor weitere
Probleme. Wer keine große Mensa hat,
muss improvisieren, in Schichten essen
und Räume dafür zweckentfremden.
Auch wenn Brandenburg mehr neue
Lehrer unbefristet eingestellt hat als je-
mals zuvor seit der Wende, ist auch
dort der Anteil der Seiten- und Quer-
einsteiger hoch. Seiteneinsteiger hät-
ten eine Qualifizierung durchlaufen,
versichert die dortige Bildungsministe-
rin Britta Ernst (SPD). „Ich habe die
Wahl, eine Lehrerstelle nicht besetzt
zu lassen oder einen Seiteneinsteiger
darauf zu setzen“, sagte sie. Die an der
Potsdamer Universität im „Refugee
Teacher Program“ ausgebildeten Mig-
rantenlehrer – von denen viele aus Sy-
rien stammen, mit dortiger Lehreraus-
bildung – bekommen jedoch keine Stel-
len. Sie sollen nur befristet als Hilfsleh-
rer arbeiten dürfen, die keinen eigen-
verantwortlichen Unterricht erteilen
dürfen. Nur wer das Sprachniveau C
vorweisen könne, komme als voller
Lehrer in Frage.

BERLIN,4. August

M


itte Juni war es so weit. Da
war die CDU-Vorsitzende An-
negret Kramp-Karrenbauer
offenbar zu der Auffassung
gelangt, sie müsse sich grundsätzlich zur
Klimapolitik äußern. Zwar unterstellt der
Frau – die gleich nach ihrer Wahl zur Par-
teivorsitzenden im vorigen Dezember dar-
auf bestanden hatte, weiterhin Kassenprü-
ferin der Ortsgruppe Köllertal des Natur-
schutzbundes Deutschland zu sein – nie-
mand, dass sie sich nicht ohnehin für Öko-
logie und Klimapolitik interessiert. Aber
es gab einen wichtigeren Grund als grund-
sätzliches Interesse. Die Grünen hatten
kurz zuvor bei der Europawahl spektaku-
lär gut abgeschnitten, das Klima löste die
Asylpolitik endgültig als aktuelles Aufre-
gerthema Nummer eins ab und eine
CDU-Vorsitzende mit Ambitionen auf
den Kanzlerinnensessel musste zeigen,
dass sie hier auf Ballhöhe ist.
Also veröffentlichte Kramp-Karrenbau-
er in der Zeitung „Die Zeit“ einen halbsei-
tigen Artikel mit der Überschrift „Wir kön-
nen so nicht weiterleben“. Eine halbe Sei-
te ist kein Riesentext, aber mehr als ein
Tweet. Natürlich blieb der Kampf gegen
die CO 2 -Emissionen nicht unerwähnt.
Konkret wurde die Autorin allerdings
nicht. Intakte Ökosysteme funktionierten
als Kreislaufsysteme, formulierte sie.
„Und es geht mit Blick auf die CO 2 -Emis-
sionen darum, Kreisläufe wo immer mög-
lich zu schließen, beispielsweise im Um-
stieg von fossilen Rohstoffen auf nachhal-
tig erzeugte biologische Rohstoffe.“
Es wäre unfair, das Bild von Kramp-
Karrenbauer als Kopie von Bundeskanzle-
rin Angela Merkel allzu sehr zu strapazie-
ren, nur weil es sich in beiden Fällen um
CDU-Frauen handelt, die Umweltpolitik
ernst nehmen und den Grünen gegenüber
nicht feindlich eingestellt sind. Kramp-
Karrenbauer hat im Saarland schon mit
den Grünen regiert, auch wenn das Glück
nur kurz währte. Merkel wird diese Erfah-
rung vermutlich nicht mehr machen.
Aber der Klima-Artikel von Kramp-Kar-
renbauer erinnert allein wegen seiner
Überschrift an Merkels Vorbereitung auf
höhere politische Weihen. Die spätere
Bundeskanzlerin begnügte sich zum
Ende des vorigen Jahrhunderts nicht mit
einem Zeitungsbeitrag, sondern veröffent-
lichte als Umweltministerin ein fast 300
Seiten starkes Buch mit dem Titel „Der
Preis des Überlebens“.
Die Lektüre des 1997 erschienenen
Werks hilft auch 22 Jahre später sehr, um
erstens Angela Merkel zu verstehen, und
zweitens zu begreifen, wie sich die CDU
schon vor mehr als zwei Jahrzehnten dar-
auf eingestellt hat, den Grünen den immer

mehr zum gesellschaftlichen Großthema
werdenden Komplex Ökologie, Klima-
und Naturschutz nicht gänzlich zu überlas-
sen. Selbst wenn hinter Merkels Buch
nicht nur strategisches Interesse, sondern
der Ehrgeiz einer aufstrebenden, jungen
Ministerin steckte, öffentlich wahrgenom-
men zu werden: Da meldete sich im Na-
men der CDU jemand zu Wort, der erkenn-
bar nicht nur allgemeine Floskeln zu bie-
ten hatte, sondern mit dem Fachwissen ei-
ner Physikerin an die Thematik heranging.
Es ist nicht bekannt, ob der damalige
Bundeskanzler Helmut Kohl das Buch sei-
ner Umweltministerin gelesen hat, ver-
mutlich hatte er anderes zu tun. Aber Mer-
kel deckte eine nicht besonders gut ge-
schützte Flanke der CDU ab. Die Ministe-
rin war jung, weiblich, umgab sich mit
Vertrauten, die ein Bündnis der Union
mit den Grünen zumindest perspekti-
visch für einen sinnvollen Weg hielten.
Schon daher taugte Merkel nicht als
Feindbild für die Grünen. Denen traute –
anders als heute – damals zwar niemand
zu, einmal selbst den Kanzler zu stellen.
Wohl aber den Vizekanzler an der Seite
der SPD. Ein Jahr nach dem Erscheinen
von Merkels Buch sollte es bekanntlich
dazu kommen.
Ähnlich wie gegenwärtig hatten die
Grünen auch in den Jahren vor der Bun-
destagswahl 1998 bei vielen Wahlen Zu-
wächse zu verzeichnen. 1994 wurden sie
sogar vor der FDP drittstärkste Kraft im
Bundestag. Im Zentrum ihres Wahlpro-
gramms stand eine ökologische Steuer-
reform. Deren plakativste Forderung wur-
de im Jahr des Erscheinens von Merkels
Buch formuliert: Der Preis für den Liter
Benzin sollte im Laufe von zehn Jahren
auf fünf Mark angehoben werden. Diese
Forderung führte allerdings auf einem
Parteitag im März 1998 zu einem wüsten
Streit innerhalb der Öko-Partei.
Es ist bemerkenswert, wie detailliert
die damalige Umweltministerin mit CDU-
Parteibuch auf die Forderungen der Grü-
nen einging. In einem köstlich zu lesen-
den Streitgespräch mit dem BDI-Präsiden-
ten und späteren AfD-Politiker Hans-Olaf
Henkel, das in ihrem Buch abgedruckt ist,
formulierte Merkel, wie sie sich „idealer-
weise“ eine Ökosteuer vorstelle, also das
Großprojekt der Grünen. Diese solle EU-
weit stufenweise eingeführt werden. „Ich
gehöre nicht zu denen, die fordern, dass
das Benzin schlagartig fünf Mark und nur
in Deutschland kosten muss. Das ist Un-
sinn.“ Man denkt das „Aber“ schneller, als
man es lesen kann. „Aber man sollte euro-
päisch über mehrere Jahre den Automobil-
herstellern mit einer schrittweisen Erhö-
hung der Mineralölsteuer deutlich ma-
chen, dass der Benzinverbrauch eine wich-

tige Größe bei der Frage des Automobils
der Zukunft ist.“ Die Automobilindustrie
selbst frage sich ja schon warum der Staat
nicht endlich diesen Schritt mache. Dann
könnten die Hersteller andere Prioritäten
bei der Entwicklung machen.
Bekanntlich führten diese Prioritäten
allerdings geradewegs in die massenhafte
Herstellung tonnenschwerer Gelände-
wagen, die mehr als 200 Kilometer in der
Stunde fahren können, was nicht Merkels
Vorstellung entsprach. Denn sie formu-
lierte das Ziel, dass der Durchschnittsver-
brauch aller Autos in Deutschland bis
zum Jahr 2010 bei fünf Liter liegen solle.
Nach Angaben des Statistik-Portals Statis-
ta schluckten deutsche Autos 2017 in der
Diesel-Version noch sieben Liter im
Durchschnitt und als Benziner fast acht.

D


ie Bundesumweltministerin setz-
te damals nicht nur beim Sprit
auf die Lenkungswirkung hoher
Preise, so wie die Grünen. Näm-
liches Prinzip wollte sie auch beim Strom
angewandt wissen. Sie schilderte, dass
die Strompreise seit 1990 stark gesunken
seien, für private Haushalte um sechs bis
zehn Prozent, für die Industrie um 23 bis
29 Prozent. Das gefiel ihr gar nicht. „Für
eines unserer wesentlichen Umweltziele,
die Reduktion von CO 2 -Emissionen um
25 Prozent bis zum Jahr 2005 bezogen auf
das Niveau von 1990, ist das Sinken der
Strompreise geradezu kontraproduktiv“,
schrieb sie. „Denn der Preis des Stroms
sollte deutlich machen, dass sorgsam mit
ihm umzugehen ist.“ Für eine sparsame
Energieerzeugung und -nutzung könnten
deshalb ähnlich wie im Falle der Kraft-
fahrzeugsteuer die Preissignale genutzt
werden, die sich an CO 2 -Gehalt und -Aus-
stoß des jeweiligen Energieträgers orien-
tieren sollten.
Drei Jahre vor der Wahl Merkels zur
CDU-Vorsitzenden war nicht nur die Aus-
richtung an den Grünen wichtig. Eines
der zentralen Themen war damals schon

die CO 2 -Besteuerung. Genau wie jetzt,
wo Annegret Kramp-Karrenbauer CDU-
Vorsitzende ist, Kanzlerkandidatin wer-
den will und dafür sorgen muss, dass ihre
Partei ein Konzept aufstellt, das dem im
Grün-Rausch befindlichen Wahlvolk die
Kompetenz der CDU in der Klimapolitik
demonstriert. Doch seit sie CDU-Vorsit-
zende ist, macht Kramp-Karrenbauer in
Sachen Klimapolitik eine schlechte Figur.
Mehr noch: Sie macht gar keine Figur.
Zunächst schien sie von dem Thema ge-
radezu überrascht, mindestens von dessen
Bedeutung. Das wurde besonders deutlich
an der verpatzten Reaktion der CDU auf
das Video des Youtubers Rezo. Diese zeig-
te einerseits, dass das Konrad-Adenauer-
Haus nicht weiß, wie man in der jungen
Welt der Youtuber mit einem Herausforde-
rer umgeht, der Millionen Zuschauer mobi-
lisieren kann. Schlimmer noch war aber
das inhaltliche Defizit, das zutage trat, vor
allem in der Klimapolitik. Zwar gibt es in
der CDU unter Kramp-Karrenbauers Füh-
rung immer wieder Vorstöße zur Füllung
des angekündigten Konzepts. Aber eine
genaue Richtung lässt sich nicht erken-
nen. Das gilt vor allem für die Diskussion
über die Besteuerung gerade des CO 2. Wie
hilfreich es für die Parteivorsitzende bei
der Findung eines konsensfähigen Kurses
ist, dass sie sich seit jüngster Zeit als Ver-
teidigungsministerin auch noch mit der
Entsendung deutscher Fregatten an die
Straße von Hormus herumschlagen muss
oder gute Figur bei Besuchen der Nato zu
machen hat, wird sich wohl erst in einigen
Monaten herausstellen.
Hinzu kommt, dass die bayerische
Schwesterpartei beim Thema Klima einen
enormen Druck entwickelt. Zwar ist es in
diesem Sommer anders als vor einem
Jahr, als der damalige CSU-Vorsitzende
Horst Seehofer die CDU auf dem Feld der
Asylpolitik so scharf angriff, dass sogar
die Fraktionsgemeinschaft im Bundestag
in Gefahr geriet. Sein Nachfolger im Par-
teivorsitz und als bayerischer Ministerprä-
sident, Markus Söder, zeigt sich der neuen

CDU-Vorsitzenden gegenüber sehr koope-
rativ. Aber er führt in seiner fast brachial
anmutenden Dynamik auf dem Feld der
Klimapolitik beständig vor, wie man den
Eindruck erweckt, der oberste Klimaschüt-
zer des Landes zu sein. Das hat Söder
etwa am Sonntag beim ARD-Sommer-
interview wieder vorgeführt. Dabei hat er
konkrete Einigungsvorschläge, etwa im
Streit über die CO 2 -Bepreisung, auch
nicht präsentiert. Nun ja: Söder hat gleich
hinzugefügt, dass er die Rolle des Kanzler-
kandidaten der Union nicht anstrebe.
Während die CDU also heute herum-
eiert, was ihre Haltung zu einer CO 2 -Steu-
er angeht, so hatte Merkel vor 22 Jahren
einen ganz klaren Kurs. Die Erhebung ei-
ner Steuer auf den Energiegehalt und auf
seinen CO 2 -Emissionsanteil verspreche
auch deshalb umweltpolitisch eine „hohe
Lenkungswirkung“, weil Einsparungen
insgesamt angestrebt würden, ganz unab-
hängig davon, wie der Mix aus Kohle,
Gas, Kernenergie oder erneuerbaren
Energien gestaltet sei, schrieb sie. Die
Wirtschaft wende sich indessen gegen
ökologische Steuern aus Furcht vor höhe-
ren Kosten. Die Wirtschaft bevorzuge an-
dere Instrumente, etwa Zertifikate. Zuge-
geben: Damals hatte Merkel die Freiheit
einer Ressortministerin und musste noch
nicht so breit Rücksicht nehmen, wie eine
Kanzlerin das zu tun hat. Oder eine Par-
teivorsitzende wie Kramp-Karrenbauer.
Merkel hat einiges erreicht in der Kli-
mapolitik, gibt allerdings heute auch un-
umwunden zu, dass manches Ziel verfehlt
wurde. Ihre Nachfolgerin an der CDU-
Spitze ist da noch wenig eindeutig. Immer-
hin: Ein Signal in Richtung der Grünen
hat Kramp-Karrenbauer schon früh ge-
setzt. Eines der ersten großen Interviews
nach ihrer Wahl zur Parteivorsitzenden
hat sie zusammen mit der Fraktionsvorsit-
zenden der Grünen im Bundestag, Katrin
Göring-Eckardt, der „Bild am Sonntag“
gegeben. Um Ökologie ging es dabei aller-
dings nur sehr am Rande, um Klimapoli-
tik gar nicht.

Jugendliche in der Grünphase


Wie die Aktivisten von Fridays for Future über zivilen Ungehorsam und Argumente aus der realen Welt streiten / Von Sarah Obertreis


Die doppelte


K-Frage


Quer von


der Seite


Warum viele Schüler von


Laien unterrichtet werden


Von Heike Schmoll


Gestellter Klimatod:Fridays-for-Future-Protest in Dortmund Foto Daniel Pilar

Wer das Kanzleramt erobern will, muss in der


Klimapolitik trittfest sein. Annegret


Kramp-Karrenbauer ist zögerlich. Bei


Angela Merkel wirkte das einst ganz anders.


Von Eckart Lohse


Abgetaucht:Kramp-Karrenbauer als saarländische Ministerpräsidentin 2012 im Bergwerk Saar Foto ddp
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