Frankfurter Allgemeine Zeitung - 05.08.2019

(Dana P.) #1

SEITE 4·MONTAG, 5. AUGUST 2019·NR. 179 Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


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BERLIN, 4. August

D


ie deutsche SPD trudelt füh-
rungslos durch die Jahreszeiten.
Nach dem gescheiterten Ver-
such ihrer Europa-Abgeordne-
ten, die Wahl von Ursula von der Leyen
zur Kommissionspräsidentin durch eine
Kampagne zu verhindern, liegt die Sozial-
demokratie in Umfragen noch bei zwölf
Prozent, Tendenz fallend. Diejenigen, die
normalerweise die lange Sommerpause
des Parlaments nutzen, um landauf, land-
ab Politik zu erklären, Mitglieder und Bür-
ger in ihren Heimatgegenden aufzusu-
chen, sind fort oder liegen auf der Lauer.
Von Andrea Nahles, der früheren Vorsit-
zenden, hat man seit Juni kein Wort mehr
vernommen. Am häufigsten in der Öffent-
lichkeit erscheint Sigmar Gabriel.
Der Findungsprozess in der SPD für
neue Vorsitzende ist eigentlich in vollem
Gange. Doch es gibt bisher nur wenige of-
fizielle Bewerber. Beim Parteivorstand zu-
gelassen sind erst zwei Kandidaten, der
nordhessische Bundestagsabgeordnete
und Staatsminister Michael Roth und die
Landtagsabgeordnete Christina Kamp-
mann aus Bielefeld; sie treten als Team
an. Andere haben noch was zu bespre-
chen, suchen Unterstützer oder warten
ab, wer sich sonst im Feld der potentiel-
len Bewerber rührt. So wird genau beob-
achtet, wie sturmfest die Absagen des nie-
dersächsischen Ministerpräsidenten und
Landesvorsitzenden Stephan Weil sind.
Der sagt zwar bisher stets, er „wolle“ es
nicht werden. Das schließt aber nicht end-
gültig aus, dass Weil es eventuell doch ma-
chen muss. Dann brauchte Weil auch
noch eine Partnerin, denn der Parteivor-
stand, dem Weil selbst angehört, wirbt
„ausdrücklich“ für „Kandidaturen von
Teams“. Als Einzelkandidat wäre man da
eigentlich schon vormoderner Außen-
seiter. Allein an Weils Haltung zu dieser
Frage hängen mindestens zwei, drei weite-
re eventuelle Kandidaturen. Besonders
die von Generalsekretär Lars Klingbeil.
Neben den zugelassenen gibt es noch
die erklärten Kandidaten, also jene, die
gesagt haben, sie würden antreten wol-
len: Da sind die beiden Bundestagsabge-
ordneten Karl Lauterbach und Nina
Scheer, er Gesundheitspolitiker, sie in Sa-
chen Umwelt aktiv. Lauterbach hat sei-
nen Wahlkreis Köln/Leverkusen direkt ge-
wonnen. Er ist ein eigenwilliger und auf-
fälliger Politiker, dessen stilistisches Mar-
kenzeichen bis jetzt in einer großen Flie-
ge bestand, die der Professor stets zum
Hemd trug. Scheer, die dem Bundestag
seit 2013 angehört, hat ihren Wahlkreis
im Hamburger Umland in Schleswig-Hol-
stein. Anders als das Duo Kampmann/
Roth möchten die beiden Mitbewerber
möglichst umgehend die große Koalition
verlassen. Ihnen fehlt allerdings auch
mehrere Wochen nach der Bekanntgabe
ihrer Kandidatur noch die nötige institu-
tionelle Unterstützung. Denn die Kandi-
daten brauchen, so haben es Vorstand
und Interimsvorsitzende festgelegt, die
Nominierung von mindestens fünf Kreis-
verbänden oder Unterbezirken, um zur
Wahl zugelassen zu werden. Wenn ein
SPD-Bezirk, etwa Hessen-Nord oder der
Bezirk Westliches Westfalen, die Kandida-
ten unterstützt, können sie auch zugelas-
sen werden, ebenso, wenn sie die Rücken-
deckung eines Landesverbands haben.
Das würde einem weiteren Kandida-
ten, dem früheren Abgeordneten Hans
Wallow, schwerfallen, obgleich er sich als
Mann der Basis versteht. Der Bonner Wal-
low kennt aber auch die Wahlordnung der
SPD, und die sieht nach Paragraph 3 vor,
dass Personalvorschläge von Ortsverei-
nen ebenfalls gültig sind, allerdings nur,
wenn sie von mindestens drei Ortsverei-
nen unterstützt werden. Seiner Auffas-
sung nach sei das Organisationsstatut
vom Dezember 2017 gültig und könne
nur von einem Parteitag geändert wer-
den. Wallow, der zum Jahresende 80
wird, will also antreten und die Erneue-
rung von ganz tief unten repräsentieren.
Und zwar allein. Die Doppelkandidatur,
„von den Grünen abgekupfert“, nennt

Wallow „dysfunktional“. Ebenfalls antre-
ten, aber im Team, möchte die Berliner
Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan,
dreieinhalb Jahre jünger als Wallow.
Schwan, die zweimal für das Amt der
Bundespräsidentin kandidiert hat und
eine leidenschaftlich Schreibende, Reisen-
de und Vortragende in Sachen Politik ist,
befindet sich auf der Suche nach Unter-
stützern und einem Mitbewerber.

D


ass sie dabei an den Juso-Vorsit-
zenden Kevin Kühnert gedacht
habe, wurde zunächst vermutet,
wird von ihr aber bestritten. Sie
fände es auch gar nicht passend, sagt sie,
wenn der junge und talentierte Kühnert
sich um das Amt bewürbe. Auch Schwan
beobachtet aufmerksam, wie belastbar
die angebliche Absage Weils ist, von der
das Redaktionsnetzwerk Deutschland er-
fahren haben wollte. Demnach habe Weil
dem Interimstrio an der Parteispitze mit-
geteilt, er stehe nicht zur Verfügung, wer-
de aber SPD-Generalsekretär Lars Kling-
beil unterstützen, falls der antrete.
Öffentlich hatte Weil kurz vorher et-
was gesagt, das allerdings ganz anders
klang. Ausschließen wollte er eine Kandi-
datur demnach doch nicht. Der Deut-
schen Presse-Agentur sagte er am vorver-
gangenen Sonntag: „Dafür ist Politik viel
zu wechselhaft. Es gibt so viele Kollegen,
die bereuen bitterlich, dass sie einmal
vorschnell etwas ausgeschlossen haben.
Ich habe mir fest vorgenommen, diesen
Fehler nicht zu machen.“ Das kann
man als Gruß an Martin Schulz ver-
stehen. Eine Sprecherin Weils klassifi-

zierte den Beitrag des Redaktionsnetz-
werks als „Spekulationsartikel“.
Als weiterer Niedersachse im Schatten-
rennen um den Parteivorsitz mischt der
frühere Generalsekretär und heutige Ar-
beitsminister Hubertus Heil mit, der nicht
selbst antreten will. Er müsste dann wohl
auch als Minister zurücktreten. Nach dem
Opfergang der Europa-Kandidatin Katari-
na Barley, die ihr Amt als Justizministerin
verlor und nun in Brüssel sitzt, war das
wohl eher abschreckend. Heil macht sich
aber für Weil stark. Und dann ist da noch
der niedersächsische Innenminister Boris
Pistorius, einer, der vielleicht die Courage
hätte, etwas Ungewöhnliches zu tun, aber
auch Rücksicht auf seinen Ministerpräsi-
denten nehmen muss. So zeigen allein
die vielfach verwobenen Vorgänge in Nie-
dersachsen, dass von der „offenen und
transparenten Abstimmung“, die Kling-
beil versprochen hatte, schon im eigenen
Landesverband keine Rede sein kann.
Klingbeil selbst trifft ebenfalls Vorkehrun-
gen. Vielleicht sind die Ansprüche auch
einfach zu hoch: Die neuen SPD-Anfüh-
rer sollen Mann und Frau sein, unver-
braucht und voller Ideen, fern der Partei-
bürokratie, aber doch erfahren genug, um
professionelle Führung in Zeiten des gro-
ßen Umbruchs zu garantieren, attraktiv
und fortschrittlich, aus Ost und West
stammend, links und realistisch sein –
also in etwa wie das Duo Baerbock/Ha-
beck von den Grünen.
Doch was sich der Parteivorstand und
die drei Interimsvorsitzenden als munte-
ren Wettbewerb gedacht hatten, entwi-
ckelt sich zur trägen Sommerdümpelei.
Acht Wochen sind verstrichen, seit Nah-

les Anfang Juni ihre Ämter niedergelegt
hat und Interimsverwalter in der Bundes-
tagsfraktion und in der Partei die Geschäf-
te führen. In der zerklüfteten Fraktion ist
Rolf Mützenich der kommissarische Vor-
mann, ein passionierter Außenpolitiker,
den während der Auseinandersetzungen
um Nahles niemand bedacht hat. Aber
ähnlich wie einst im sowjetischen Mos-
kau der jeweilige Leiter der Beerdigungs-
komitees gute Chancen hatte, Nachfolger
des jeweils verstorbenen Generalsekre-
tärs zu werden, gestaltet Mützenich seine
Nachlassverwaltung so, dass sich man-
chen in der Fraktion der Gedanke auf-
drängt, er könne bleiben. Seine ruppige
Attacke auf Annegret Kramp-Karrenbau-
er während der Sondersitzung zu ihrer
Vereidigung als Verteidigungsministerin
wurde als Bewerbung gedeutet – nicht
nur von der Union, dem etwas verwunder-
ten Koalitionspartner. Beworben hat sich
auch für dieses hohe und interessante
Amt bisher niemand. Männer, die im
Zuge des Machtverlusts von Nahles als In-
teressierte genannt worden sind, Martin
Schulz etwa oder der Chef der Parlamen-
tarischen Linken, Matthias Miersch, hül-
len sich nun in Schweigen, seit Wochen.
Falls sich das nicht ändert, wird Mütze-
nich gar nichts anders übrigbleiben, als
Anfang September selbst anzutreten.
Jetzt ist er erst mal in Urlaub.
Aber auch dort werden er und die vie-
len Kreisvorsitzenden oder Landesvor-
stände die Wiederkehr einer bereits be-
kannten Außenseiterin bemerkt haben,
Flensburgs Oberbürgermeisterin Simone
Lange. Vor zwei Jahren hatte sie noch ge-
gen Nahles kandidiert und dabei einen

Achtungserfolg errungen. Danach veröf-
fentlichte sie ein Buch mit dem Titel „So-
zialdemokratie wagen!“. Jetzt will Lange
gemeinsam mit einem mitteldeutschen
Kollegen, dem Bautzener Oberbürger-
meister Alexander Ahrens, es abermals
riskieren. Die beiden erfolgreichen Kom-
munalpolitiker kündigten ihre Kandida-
tur am Freitag an. Aber auch Lange und
Ahrens haben noch nicht die formal not-
wendige Unterstützung aus dem Parteiap-
parat. Frau Lange stammt, wie Nina
Scheer, aus dem Landesverband Schles-
wig-Holstein, und nun stellt sich dort
nach den Ferien die Frage, ob die Partei-
führung sich hinter Scheer oder Lange
stellt. Falls überhaupt. Ein weiteres Di-
lemma steckt dahinter: Ohne institutio-
nelle Rückendeckung kann man nicht an-
treten, hat ein Bewerber aber zu viel da-
von, wäre es auch wieder nicht gut.

D

enn eigentlich soll ja die Basis
das Wort haben: Das eigentli-
che Auswahlverfahren, das
dann Anfang September be-
ginnt, soll eine ganz große Kirmes wer-
den, bundesweite Debatten-Karussells
mit faszinierenden Kandidaten werden
geplant, zwei Dutzend politische Festplät-
ze sind im ganzen Land ausgewählt, wo
parteiinterne Demokratie gelebt und ge-
liebt werden soll. Insgesamt 23 öffentli-
che Veranstaltungen werden geplant, zu
denen Parteimitglieder von Husum bis
Garmisch kommen sollen, um sich selbst
ein Bild von den Bewerbern zu machen.
Die Kandidaten bekommen an den Ta-
gungsorten Hotelzimmer bezahlt, ebenso
die Anreise. Ansonsten müssen sie sich
mit einem sehr schmalen Wahlkampf-
budget begnügen: Jeder Einzelkandidat
bekommt 2500 Euro, Kandidaten-Paare


  1. Den Bewerbern ist es verboten,
    Spenden einzuwerben, ihre Mitarbeiter
    müssen ehrenamtlich tätig sein.
    Das alles hat Lars Klingbeil mitorgani-
    siert, der Generalsekretär der SPD. Wür-
    de er kandidieren, müsste man sich fra-
    gen, wie lange und intensiv er eigentlich
    bereits die Organisationskraft und Logis-
    tik der Berliner Parteizentrale nicht zu-
    letzt im eigenen Interesse nutzt, etwa ei-
    nen großen Audi-Dienstwagen mit Fah-
    rer. Sobald er kandidierte, müsste er sei-
    nen Arbeitsplatz und sein Partei-Auto zu-
    mindest zeitweise hergeben. Natürlich
    auch das Parteihandy – so wie es Anne-
    gret Kramp-Karrenbauer als Generalse-
    kretärin bei der CDU konsequent gehand-
    habt hat. Der Frage, ob er selbst antrete,
    weicht Klingbeil derzeit kokett aus: „Ich
    habe gelesen, dass ich als Anwärter gelte.
    Alle, die sich entscheiden wollen, ob sie
    kandidieren, tun dies bis zum 1. Septem-
    ber.“ Wenn man etwas über seine Ambi-
    tionen erraten möchte, hilft es, sich Kling-
    beils derzeitigen politischen Radius anzu-
    sehen. Denn eigentlich könnte der Gene-
    ralsekretär einer todkranken Volkspartei
    die sitzungsfreien Sommerwochen nut-
    zen, um darbende Ortsvereine im ganzen
    Land zu besuchen, eine Sommerreise zu
    veranstalten, etwa nach Sachsen oder
    Thüringen, wo in wenigen Wochen ge-
    wählt wird. Bei Klingbeil: nichts. Er
    scheint sich in diesen Tagen innerhalb ei-
    nes imaginären Elektrozaunes zu bewe-
    gen, der seinen Wahlkreis, den Landkreis
    Rotenburg und den Heidekreis, um-
    schließt. So kann ihm später niemand vor-
    werfen, er habe den August schon für ei-
    nen Vorwahlkampf aus seinem Parteiamt
    und dem Dienst-Audi heraus genutzt.
    Dass dies passieren würde, weiß man
    nicht erst, seit der Kandidat Roth beklag-
    te: „Wir gehen einfach nicht anständig
    miteinander um“ und einen „Pakt für Fair-
    ness und Respekt“ anregte. Roth und
    Kampmann, die in Düsseldorf schon ein-
    mal Landesministerin war, warben ver-
    gangene Woche in Berlin abermals für
    sich. Sie nutzten einen Auftritt in einem
    Berliner Café dazu, die zögerliche Kon-
    kurrenz aufzufordern, sich endlich zu stel-
    len. Es gebe, so Roth, in der Partei einen
    „gewissen Unmut“, dass es noch keine
    weiteren Bewerber gebe. Kampmann und
    er hätten sich früh beworben, da sie – klei-
    ne Spitze an die im Unterholz versteckte
    Konkurrenz – „nicht taktieren“ wollten.
    Wann wird das enden, wann wird es
    endlich einen neuen Vorsitzenden oder
    ein Parteiteam geben? Endgültig erst in
    weiteren vier Monaten. In der dritten Ok-
    toberwoche wird erstmals abgestimmt,
    online oder per Briefwahl. Erreicht nie-
    mand die absolute Mehrheit, folgt eine
    Stichwahl zwischen den beiden Erst-
    plazierten. Sollte aber Team 2 oder Platz
    2 nicht wieder antreten, wäre Team 1 au-
    tomatisch der Wahlvorschlag der Mitglie-
    der – tatsächlich Vorschlag, denn wählen
    darf den Vorstand nur ein Parteitag. Und
    der findet im Dezember in Berlin statt. So
    dauert das Interim noch eine ganze Weile
    in bewegten Zeiten.


Foto AFP

Die nächste Fahrt geht rückwärts!


Mark Siemons 60
Man kann erstaunlich viel lernen von
ihm – und wer das Glück hat, sein Kol-
lege zu sein, lernt von Mark Siemons
fast jeden Tag, dass eine Redaktion
eine geistige Lebensform ist. Er ist als
Gegenüber eine Inspiration, als Gegen-
leser ein Gewinn für jeden Text, als Zu-
hörer eine Herausforderung für jeden,
der spricht. Und wenn genug gespro-
chen und gelesen ist, geht er hinaus in
jene Welt, die einer der wichtigsten Ge-
genstände des Feuilletons ist. Die Freu-
de, nicht nur aus der Wirklichkeit be-
richten zu müssen, weiß Siemons, der
Rezensent und Kritiker, sehr zu schät-
zen. Aber die Kunst, jene Wirklichkeit
mit den Werkzeugen des Feuilletons zu
vermessen und zu beschreiben, be-
herrscht er wie kaum ein anderer. Da-
mals, als alle vom neuen Berlin besof-
fen waren, beschrieb er das tatsächlich
Neue mit aufreizender Nüchternheit.
Und als Berlin beschrieben war, ging
er als Korrespondent nach China, wo
er sich von seinem Interesse an und sei-
ner riesigen Sympathie für die Men-
schen, deren Geschichte und Kultur be-
wegen, aber nicht korrumpieren ließ.
Wer die globalen Strategien Chinas an-
gemessen analysieren will, sollte die
Chinesen so gut verstehen, wie Sie-
mons das tut. Seit er zurück ist in Ber-
lin, behält er China im Auge und ver-
weigert sich doch dem Spezialisten-
tum: Geistesgegenwart und Zeitgenos-
senschaft bedeuten eben auch, dass er
sich mit Recherche und dem Talent zur
Nachdenklichkeit dem Unbekannten,
noch nicht Begriffenen nähert. Und
beim Schreiben hilft es ihm, wenn er
die Leser nicht aus den Augen verliert,
weshalb die ersten Fassungen seiner
Texte oft im Café, unter Leuten, entste-
hen. An diesem Montag wird Mark Sie-
mons sechzig Jahre alt. (cls.)

Nuon Chea gestorben
Er galt als Nummer zwei in der Hierar-
chie der Roten Khmer, die in Kambo-
dscha nach 1975 eine Schreckensherr-
schaft errichteten. Dieser fielen etwa
zwei Millionen Menschen zum Opfer.
Nuon Chea war der Chefideologe der
„Steinzeitkommu-
nisten“ um Pol Pot.
Deren Herrschaft
über das Land ende-
te im Januar 1979,
als vietnamesische
Truppen in Kambo-
dscha einmarschier-
ten. Allerdings hiel-
ten sich die Roten
Khmer in einigen
Regionen noch vie-
le Jahre. Unterstützt wurden sie trotz
ihrer blutigen Vergangenheit auch vom
Westen, der in den vietnamesischen In-
vasoren die Hand der Sowjetunion wir-
ken sah. Auch aus diesem Grund
schaffte es Nuon Chea, ebenso wie vie-
le seiner Genossen, sich der Justiz lan-
ge Zeit zu entziehen. Festgenommen
wurde er erst im Jahre 2007. Das Son-
dertribunal für Kambodscha verurteil-
te ihn im vergangenen Jahr wegen Völ-
kermords zu lebenslanger Haft. Jetzt
ist Nuon Chea im Alter von 93 Jahren
gestorben. (pes.)

BERLIN,4. August (AFP). Hessens
Innenminister Peter Beuth (CDU) hat
nach den Erfahrungen der Ermittlun-
gen zum Mord am Kasseler Regie-
rungspräsidenten Walter Lübcke eine
neue Überprüfungswelle bei Rechtsex-
tremisten angekündigt. „Unser Verfas-
sungsschutz wird sich übrigens noch
einmal alle Rechtsextremisten genau
anschauen, die als ,abgekühlt‘ gelten“,
sagte Beuth der Zeitung „Welt am
Sonntag“. „Jeder mit einer extremisti-
schen Vergangenheit, der inzwischen
wieder als integriert gilt, wird noch
einmal überprüft“, sagte Beuth. Die
hessische Polizei intensiviere darüber
hinaus ihren Kampf gegen Rechtsex-
tremismus mit einer besonderen Auf-
bauorganisation. Lübcke war Anfang
Juni aus nächster Nähe erschossen
worden. Die Ermittlungen in dem Fall
führt die Bundesanwaltschaft, die von
einem rechtsextremen Hintergrund
der Tat ausgeht. Der Tatverdächtige
Stephan E. legte nach seiner Festnah-
me zunächst ein Geständnis ab, zog
dieses später aber wieder zurück.

Hessen will alle


Rechtsextremisten


überprüfen


Personalien


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Die SPD will eine


ganze große


Kandidaten-Kirmes


veranstalten, um neue


Parteivorsitzende zu


finden. Nur kommt die


Sache noch nicht


richtig in Schwung.


Von Peter Carstens


Organisator – und bald Kandidat?SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil Foto dpa
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