Frankfurter Allgemeine Zeitung - 05.08.2019

(Dana P.) #1

SEITE 6·MONTAG, 5. AUGUST 2019·NR. 179 Ereignisse und Gestalten FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


J


oachim von Ribbentrop und Wjat-
scheslaw Molotow hatten den
deutsch-sowjetischen Nichtan-
griffsvertrag gerade unterschrie-
ben, da stellten sich die beiden
Außenminister zusammen mit
Stalin, der sich zu diesem Anlass in ein wei-
ßes Jackett gekleidet hatte, zum Foto auf.
Ihre Gesichter strahlten Zufriedenheit aus,
die Stimmung war gehoben. In den nur 24
Stunden, die sich Ribbentrop mit seinem
Gefolge am 23. und 24. August 1939 in
Moskau aufhielt, hatten Deutschland und
die Sowjetunion einen Vertrag geschlos-
sen, der die Konstellation der europäi-
schen Politik grundlegend änderte. Nie zu-
vor war ein Abkommen von vergleichbarer
Bedeutung in so kurzer Zeit verhandelt
worden. Es war, wie Golo Mann schrieb,
die „stärkste Bombe“ in der langen Ge-
schichte der europäischen Diplomatie.
Die Sensation rührte für die Zeitgenos-
sen vor allem daher, dass sich zwei Regime
zusammengeschlossen hatten, die sich
ideologisch als Todfeinde gegenüberstan-
den. Erst im April 1939 war der Spanische
Bürgerkrieg zu Ende gegangen, der für sei-
nen weltanschaulichen Antagonismus em-
blematisch war: Deutschland und die So-
wjetunion lieferten „ihrer“ Bürgerkriegs-
partei in großem Umfang schwere Waffen.
Stalin mobilisierte mit Hilfe der Komin-
tern die Internationalen Brigaden, Hitler
schickte die Legion Condor. Der Pakt vom
August 1939 schien den ideologischen Ge-
gensatz zwischen Bolschewismus und Na-
tionalsozialismus auf einen Schlag zu been-
den. Vor allem gläubige Kommunisten, un-
ter ihnen viele Spanien-Kämpfer, waren
tief erschüttert.
Das Bündnis der beiden totalitären Staa-
ten irritierte aber auch die westeuropäi-
schen Demokratien. So veröffentlichte die
englische Tageszeitung „Evening Stan-
dard“ am 20. September eine gallige Kari-
katur David Lows, die das „Rendezvous“
der Diktatoren zeigte, die nach Jahren der
ideologischen Anfeindung einander mit
vollendeter Höflichkeit den Gruß entbie-
ten, Hitler an Stalin gewandt: „Der Ab-
schaum der Erde, wie ich vermute?“, und
Stalin an Hitler: „Der blutige Schlächter
der Arbeiter, nehme ich an?“
Doch war der Pakt nicht in erster Linie
eine Episode im Kampf zweier Ideologie-
staaten, die sich schon zwei Jahre später,
nach dem Überfall Deutschlands auf die
Sowjetunion, in einem Vernichtungskrieg
befanden. Die Fixierung auf die Ideologie
verdeckt die längeren historischen Linien,
die das Geschehen in den dreißiger Jahren
bestimmten und für die Gegenwart auf-
schlussreich machen. Die Geschichte des
Hitler-Stalin-Pakts ist ein Lehrstück über
den Zerfall einer Ordnung kollektiver Si-
cherheit. Sie zeigt, wie ein System der inter-
nationalen Politik erodieren kann, das, in
Frage gestellt durch einen entschlossenen
Aggressor, nicht die Mittel findet, seine Si-
cherheit zu schützen. Mächtepolitik spielt
in dieser Geschichte eine größere Rolle als
Ideologie.
Auf den zweiten Blick erkennbar, zeigte
die Karikatur im „Evening Standard“ eine
auf dem Boden liegende Figur, die Polen
verkörpert. Der Hitler-Stalin-Pakt verhieß
Krieg, und um diese Botschaft zu verste-
hen, musste man das geheime Zusatzproto-
koll nicht kennen. Neben einer umfassen-
den Wirtschaftskooperation auf dem Feld
des Rohstoffhandels hatten die Diktatoren
die Aufteilung Ostmitteleuropas zwischen
Deutschland und der Sowjetunion verein-
bart. Das Geheimprotokoll sah vor, das
Staatsgebiet Polens entlang der Linie der
Flüsse Narew, Weichsel und San zu teilen.
Lettland, Estland und Finnland sollten in
der sowjetischen Interessensphäre liegen,
Litauen in der deutschen. An Südosteuro-
pa bekundete Deutschland noch „völliges
politisches Desinteresse“, Bessarabien fiel
gemäß den Bestimmungen des Protokolls
an die Sowjetunion.
Für Hitler bedeutete der Nichtangriffs-
pakt vor allem freie Hand gegenüber Po-
len. Die Gefahr eines Zweifrontenkriegs
schien gebannt. Schon vor dem Abschluss
brüstete er sich vor den Spitzen der Wehr-
macht, nun habe er Polen in der Lage, in
der er es haben wolle. Zu diesem Zeit-
punkt führte Deutschland längst einen ver-
deckten Krieg gegen Polen und zielte da-
bei auf die weitere Eskalation. Hitler setz-
te mit seiner Strategie in Danzig an, das
aufgrund des Versailler Friedensvertrags
als Freie Stadt Autonomie genoss, aber au-
ßen- und zollpolitisch mit Polen verbun-
den war. Schon im April 1939 hatte die
deutsche Politik begonnen, die Stadt zu mi-
litarisieren, indem sie die Danziger Polizei
und nationalsozialistische Organisationen
zum Kern militärischer Einheiten machte.
Die Wehrmacht verstärkte diese personell
und lieferte über Ostpreußen auch schwe-
re Waffen. Hybride Kriege sind keine Er-
findung unserer Tage.
Zugleich trommelte die Presse. Sosehr
die Außenpolitik NS-Deutschlands und
der Sowjetunion auf Hitler beziehungswei-
se Stalin zugeschnitten war, ist es doch ein
Irrtum, zu meinen, dass sich eine scharfe
Wendung in der Staatenpolitik wie der Hit-
ler-Stalin-Pakt losgelöst von der öffentli-
chen Meinung vollzog. Zumindest nach-
träglich war eine öffentliche Legitimation
unabdingbar.
Mit einen Mal stand Bismarcks Russ-
land-Politik in der deutschen wie in der so-
wjetischen Presse hoch im Kurs. Für den
Rückhalt, den die antipolnische Politik in
der öffentlichen Meinung Deutschlands be-
saß, ist ein Hetzblatt wie „Der Stürmer“ we-
niger aussagekräftig als die „Frankfurter
Zeitung“, die sich zwar den großen Linien
der Pressesteuerung zu unterwerfen hatte,
dabei aber eine gewisse Eigenständigkeit
im Stil und manchmal auch in der Sache be-
wahrte. In Bezug auf Polen stimmte sie je-
doch in den Ton der NSDAP ein. Am 26. Au-
gust, unmittelbar nach dem Abschluss des
Pakts, veröffentlichte die „FZ“ einen Kom-


mentar mit dem Titel „Die polnische Provo-
kation“, der das Verhalten Polens gegen-
über Deutschland mit den Vokabeln „blin-
der Machtrausch“, „Verblendung“, „polni-
sche Erregung“, „polnische Zügellosigkeit“
charakterisierte. Von Polen herbeigeführte
Zwischenfälle an der Grenze zeugten von ei-
nem „Geisteszustand, der die eigentliche
Gefahr für Europa ist“. Ganz anders war
die Tonlage, als die „FZ“ einen Tag später
der „Politischen Geographie der Union der
Sozialistischen Sowjetrepubliken“ eine gan-
ze Seite widmete. Ihr Moskauer Korrespon-
dent Hermann Pörzgen stellte anerkennend
die Nationalitätenpolitik der Sowjetunion
dar. Den bolschewistischen Terror und die
politisch herbeigeführten Hungerkatastro-
phen der dreißiger Jahre erwähnte er nicht.

A


ntipolonismus hatte in
Deutschland zwischen den
Weltkriegen durchgehend
Konjunktur. Nach dem
1934 abgeschlossenen
deutsch-polnischen Nicht-
angriffspakt wurde sie nur aus taktischen
Gründen kurzzeitig ausgesetzt. Antibol-
schewismus hingegen erwies sich trotz der
hasserfüllten Pressekampagnen, die Ber-
lin seit 1933 gegen die Sowjetunion be-
trieb, als flüchtig. Nach dem Abschluss
des Hitler-Stalin-Pakts war wieder von rus-
sischen Tugenden, ja der Seelenverwandt-
schaft der beiden Völker die Rede.
Der Revisionismus, der die Haltung
Deutschlands seit dem Versailler Vertrag
gegenüber dem wiedervereinigten Polen
prägte, und die Konvergenz der deutschen
und sowjetischen Politik gegen die Interes-
sen Warschaus gehörten zu den Konstan-
ten der Geschichte des Staatensystems je-
ner Zeit. In die europäische Politik traten
die Weimarer Republik und Sowjetruss-
land 1918 als Kriegsverlierer ein: zwei revi-
sionistische Mächte, in deren mentalen
Landkarten die Grenzen ihrer Vorgänger-
staaten, des Deutschen Kaiserreichs und
des Zarenreichs, tief eingeprägt waren. Die
Grenzen zu Polen waren für Deutschland
wie für Sowjetrussland sehr viel relevanter
als andere, die nach 1917/18 neu gezogen
worden waren. So wie in Deutschland die
Abtrennung Oberschlesiens und Danzigs
sowie des Korridors zwischen Polen und
der Ostsee zur Ausprägung eines spezifisch
revisionistischen Nationalismus führte, so
schuf in Russland der polnisch-sowjetische
Krieg 1919–1921 eine neue Identität, die
mehr umfasste als bolschewistisches Klas-
senbewusstsein. Die anfänglich erfolgrei-
chen Vorstöße der von Marschall Pilsudski
geführten polnischen Truppen, die weite
Landstriche der Ukraine einschließlich
Kiews besetzen konnten, stellten nicht nur
eine Bedrohung der sowjetischen Revoluti-
onsmacht dar, sondern riefen in Russland
nationale Traumata aus dem frühen 17.
Jahrhundert wach, als Polen für kurze Zeit

Moskau besetzt hielt. Angesichts der Bedro-
hung Sowjetrusslands durch Polen rief Ge-
neral Alexei Brussilow zur Verteidigung
der Heimat auf, und Tausende ehemals za-
ristischer Offiziere eilten zu den Waffen.
Im Krieg gegen Polen flossen revolutionä-
re und nationale Motive zusammen.
Die bilateralen Interessen Deutschlands
und Russlands gewannen erstmals 1922
die Oberhand gegenüber Versuchen, die
Probleme der Versailler Staatenordnung
multilateral zu regeln. Ausgerechnet wäh-
rend der Konferenz von Genua, auf der
erstmals nach dem Krieg Sieger und Be-
siegte den wirtschaftlichen Wiederaufbau
in Europa erörtern wollten, schlossen
Deutschland und Sowjetrussland in Rapal-
lo einen separaten Vertrag, der die europäi-
sche Staatenwelt überraschte und misstrau-
isch machte. Zwar handelte das Abkom-
men vor allem von der „Normalisierung“
der Beziehungen, von der Entwicklung
von Wirtschaftsbeziehungen und dem
wechselseitigen Verzicht auf Reparationen
und Entschädigungen. Ein geheimes Zu-
satzprotokoll enthielt es nicht, doch schuf
es die Möglichkeit privatrechtlicher Verein-
barungen, mit denen bereits bestehende
deutsch-sowjetische Militärkooperationen
ausgebaut werden sollten, um so die Rüs-
tungsbeschränkungen des Versailler Ver-
trags zu umgehen. So wurde eine Flugzeug-
fabrik in Fili nahe Moskau durch die Jun-
kers-Werke, eine Flugschule und Luftwaf-
fenerprobungsbasis in Lipezk, ein Test-
und Entwicklungsgelände für Giftgas in
Tomka sowie eine Ausbildungsbasis für
Panzeroffiziere und ein Panzerübungsge-
biet in Kazan errichtet.
Von Polen war im Vertragstext nicht die
Rede. Und doch bildete die Revision der
deutsch-polnischen Grenze den strategi-
schen Fluchtpunkt der deutschen Rapallo-
Politik. Der Chef der Heeresleitung Gene-
ral von Seeckt, einer der wichtigsten Wort-
führer der deutschen Ostpolitik, hatte
schon im Februar 1920 geäußert, nur ein
„fester Anschluss an Groß-Russland“ eröff-
ne Deutschland die Aussicht, seine an Po-
len verlorenen Gebiete und seine „Welt-
machtstellung“ wiederzugewinnen. Reichs-
kanzler Joseph Wirth (Zentrum) forderte
1922 mehrfach, dass Polen zertrümmert
werden müsse und Deutschland und Russ-
land wieder Nachbarn sein sollten.
Der deutsch-sowjetische Vertrag wird in
der Geschichtsschreibung oft als Vertrag
zwischen den Geächteten der Versailler
Nachkriegsordnung beschrieben, als Zu-
sammenschluss zweier „Paria-Staaten“ zur
Überwindung ihrer Isolation im Staaten-
system. Zumindest in Bezug auf Deutsch-
land ist diese Deutung irreführend. Sie ver-
kennt, dass die Weimarer Republik unge-
achtet der drückenden Reparationszahlun-
gen kein dauerhaft Ausgestoßener der Ver-
sailler Staatenordnung sein musste. Gera-
de in Genua hätte sich das Tor zu einer
multilateralen Kooperation öffnen kön-

nen. Nach dem deutsch-russischen Separat-
abkommen blieben die Chancen für eine
multilaterale Neugestaltung der Reparati-
onsfragen ungenutzt. Einer der wenigen
Gegner der Rapallo-Politik im Reichstag,
der USPD-Abgeordnete Rudolf Breit-
scheid, betrachtete den Vertrag als die
„denkbar schwerste Schädigung der deut-
schen Interessen für die nächste Zukunft“.
Erst Mitte der zwanziger Jahre fand
Deutschland Eingang in die internationale
Staatenordnung, als es 1925 in Locarno in
einem internationalen Vertragswerk auf
eine gewaltsame Revision der Grenzen ge-
genüber seinen westlichen Nachbarn ver-
zichtete. Mit Polen und der Tschechoslowa-
kei schloss Deutschland hingegen nur
Schiedsverträge ab. Damit wurde eine Än-
derung der deutsch-polnischen Grenze
nicht ausgeschlossen, sofern sie nicht mit
militärischen Mitteln herbeigeführt wur-
de. Zugleich hielt Deutschland an den spe-
ziellen Beziehungen zur Sowjetunion fest.
Der Berliner Vertrag von 1926 knüpfte an
die Rapallo-Politik an und setzte damit ei-
nen Gegenakzent zur Verständigung mit
dem Westen.
So war das System der internationalen
Politik im östlichen Europa immer noch
von bilateralen Sonderbeziehungen und
Revisionismus belastet. Dennoch schälten
sich die Konturen einer neuen Friedensord-
nung heraus, als 1926 Deutschland und Po-
len gleichzeitig in den Völkerbund aufge-
nommen wurden. Der sozialdemokrati-
sche „Vorwärts“ erkannte einen „weltge-
schichtlichen Sprung“: In Europa breche
eine Epoche an, in der sich „allmählich die
Freiheit aller Völker verwirklichen soll“.
Mit der Machtübertragung auf Hitler zer-
stoben solche universalistischen Hoffnun-
gen. Um nicht weiterhin Rüstungskontrol-
len unterworfen zu sein, trat Deutschland

im Oktober 1933 aus dem Völkerbund aus.
Das Muster der deutschen Sicherheitspoli-
tik bestand seitdem in Aufrüstung und
dem Abschluss einzelner Pakte.
Doch führe keine gerade Linie von
Deutschlands Austritt aus dem Völker-
bund zum Hitler-Stalin-Pakt. Paradoxer-
weise schloss Hitler im scharfen Bruch mit
der Weimarer Außenpolitik im Januar
1934 zunächst einen Nichtangriffspakt mit
Polen (über dessen rein taktischen Charak-
ter sich die polnische Regierung keine Illu-
sionen machte). Zugleich definierte die
Sowjetunion ihre Position gegenüber dem
Prinzip der kollektiven Sicherheit neu. Hat-
te Außenkommissar Maxim Litwinow
noch 1925 den Völkerbund als ein „ver-
schleiertes Bündnis der sogenannten Groß-
mächte, die sich das Recht anmaßten, die
Geschicke der schwächeren Völker zu be-
stimmen“, bezeichnet, so beschloss Mos-
kau 1934 angesichts der aggressiven Poli-
tik Deutschlands und Japans, dem Völker-
bund beizutreten. In seiner ersten Rede in
Genf bekannte sich Litwinow zum „Recht
eines jeden Staates, Garantien für seine Si-
cherheit einzufordern“. Das Eintreten für
die universelle Ordnung des Völkerbunds
näherte die Sowjetunion den Westmäch-
ten und ihren Verbündeten an. Im Mai
1935 schloss Moskau Beistandsverträge
mit Frankreich und der Tschechoslowakei.
Der politische Kopf der neuen Politik im
Kreml war Außenkommissar Maxim Litwi-
now, an seiner Seite stand der Spitzendiplo-
mat Iwan Maiski. Beide entstammten jüdi-
schen Familien und hatten im Zarenreich
eine revolutionäre Laufbahn eingeschla-
gen, die sie ins Londoner Exil geführt hat-
te, wo sie sich kennenlernten. Nach der Re-
volution stiegen beide im Außenkommissa-
riat auf, und im Herbst 1932, kurz vor der
Machtergreifung Hitlers, ernannte Litwi-

now Maiski zum sowjetischen Botschafter
in London. Dort verfasste Maiski ein Tage-
buch, das einen lebhaften Einblick in die
Funktionsweise der sowjetischen Diploma-
tie der dreißiger Jahre gibt und zugleich
die dramatische Entwicklung erkennen
lässt, die zum Abschluss des Hitler Stalin-
Pakts führte.
Als Londoner Botschafter war Maiski al-
les andere als ein bloßer Befehlsempfän-
ger. Er baute ein weitgespanntes Netzwerk
von mehreren hundert Personen auf, mit
denen er regelmäßig korrespondierte. Um
ein Zusammengehen Londons und Mos-
kaus gegen die faschistischen Mächte zu be-
fördern, setzte er auf die weichen Mittel
der Diplomatie. Bezeichnend für den neu-
en Stil der sowjetischen Politik war eine
„Abendgesellschaft für Freunde und Be-
kannte der sowjetischen Botschaft“, zu der
Maiski am 1. März 1939 einlud. Erstmals
setzten bei dieser Gelegenheit Ministerprä-
sident Neville Chamberlain und mit ihm
13 Kabinettsmitglieder den Fuß über die
Schwelle der sowjetischen Botschaft. Mais-
ki jubelte in seinem Tagebucheintrag: „So
sieht eine Verschiebung in der internatio-
nalen Konstellation aus! So sieht eine Zu-
nahme der sowjetischen Macht aus!“

T


atsächlich hatten die Verhält-
nisse längst gegen das Prin-
zip der kollektiven Sicher-
heit und das von Litwinow
und Maiski präferierte Zu-
sammengehen der Sowjetuni-
on mit den Westmächten entwickelt. Ein
halbes Jahr zuvor hatten Chamberlain
und sein französischer Amtskollege Édou-
ard Daladier im Münchener Abkommen
Hitler zugestanden, die Sudetengebiete
von der Tschechoslowakei abzutrennen.
Die Konsequenzen dieses Appeasements
für die internationale Politik sind kaum zu
überschätzen: Die Signatarstaaten setzten
sich nicht nur über die Tschechoslowakei
hinweg, sondern auch über deren Garan-
tiemacht Sowjetunion. Das System kollek-
tiver Sicherheit zerbrach.
Stalin, ohnehin von paranoiden Einkrei-
sungsängsten geplagt, befürchtete nun ein
analoges „Danziger Abkommen“, mit dem
sich die Westmächte womöglich mit
Deutschland und Polen auf Kosten der
Sowjetunion verständigen könnten. Eben-
so misstrauisch betrachtete er die Option
einer Allianz mit den Westmächten gegen
Deutschland. Auf dem 18. Parteitag der
KPdSU warnte Stalin am 10. März 1939
vor denen, „die daran gewöhnt sind, dass
andere für sie die Kastanien aus dem Feuer
holen“. Damit waren unverkennbar die ka-
pitalistischen Westmächte gemeint, von de-
nen sich die Sowjetunion nicht in einen
Krieg ziehen lassen sollte. Als diese Ende
März eine Garantieerklärung für die Unab-
hängigkeit Polens abgaben, drängten die
Verhältnisse zu einer Entscheidung.
Zunächst schien sich das Litwinowsche
Konzept eines Dreierpakts der Sowjetunion
mit Großbritannien und Frankreich durch-
zusetzen. Der Außenkommissar schickte
am 17. April einen entsprechenden Vor-
schlag nach London. Stalin beraumte je-
doch am 21. April in Moskau eine Sitzung
an, zu der die Politbüromitglieder Molotow,
Mikojan, Woroschilow und Kaganowitsch
sowie Litwinow eingeladen waren. Aus Lon-
don war Maiski herbeordert worden. Der
Botschafter bemerkte das angespannte Ver-
hältnis zwischen Stalin und Litwinow, zu-
mal Molotow den Außenkommissar aller
möglichen Todsünden bezichtigte. Nach sei-
ner eigenen Meinung gefragt, äußerte Mais-
ki sich so, dass er Litwinows Position
schwächte: Die Appeaser in London wür-
den ungeachtet der sowjetischen Offerte
weiter bereit sein, mit Hitler zu verhandeln.
Stalin sah sich darin bestärkt, die deut-
sche Option auszuloten. Er entließ Litwi-
now, Molotow rückte an dessen Stelle. Der
Wechsel im Außenkommissariat signali-
sierte das Ende der Westorientierung der
Sowjetunion und forcierte die Stalinisie-
rung der sowjetischen Außenpolitik. An-
ders als Litwinow sah sich Molotow als blo-
ßer Befehlsempfänger. Zugleich begann
eine Säuberung im Außenkommissariat,
die sich auf Weisung Stalins speziell gegen
jüdische Mitarbeiter richtete. In Berlin no-
tierte Goebbels in sein Tagebuch: „Um Lit-
winows Rücktritt großes Rätselraten. Man
glaubt in London und Paris, dass Moskau
sich stärker nach uns orientiere wolle. Wir
dementieren das nicht, um die Nervosität
und Unruhe zu steigern. Nur im Nebel kön-
nen wir erobern.“
Moskau und London verhandelten wei-
ter. Als ein Hindernis erwiesen sich dabei
die Durchmarschrechte, die Stalin von Po-
len forderte, um in einen Krieg gegen
Deutschland eingreifen zu könne. Um die
territoriale Integrität fürchtend, wollte
Warschau dies nicht ohne weiteres zugeste-
hen. Aus der Sicht Stalins enthielt das
Bündnis, das Hitler ihm antrug, ohnehin
die größeren Vorteile: Die Sowjetunion
würde nicht sofort in einen großen Krieg
hineingezogen und erhielte Zeit, aufzurüs-
ten. Dass der deutsch-sowjetische Pakt
nicht nur die Nichtangriffsbestimmung,
sondern auch die Aufteilung Ostmitteleu-
ropas vorsah, war ein Junktim, auf das Sta-
lin in den Verhandlungen Wert legte. Mit
der Aufteilung der Einflusssphären er-
reichte die Sowjetunion wieder beinahe
die Grenzen des Zarenreichs von 1914.
Nachdem Polen von Deutschland und
der Sowjetunion erobert worden war, gra-
tulierte Ribbentrop Stalin im Dezember
1939 zum Geburtstag. Vier Monate nach
dem Abschluss des Pakts und 18 Monate
vor dem deutschen Angriff auf die Sowjet-
union telegraphierte Stalin zurück und
rühmte die „durch Blut gefestigte Freund-
schaft“ beider Länder.
XXX

DerVerfasser lehrt Geschichte Ost- und Südost-
europas an der Ludwig-Maximilians-Universität
München.

Am Boden:Der Nichtangriffsvertrag gab Hitler vor allem freie Hand gegenüber Polen – und der Sowjetunion gleich mit. Abb. David Low’s Kleine Weltgeschichte, Rowohlt Verlag, 1949

Der Nichtangriffsvertrag zwischen NS-Deutschland und der Sowjetunion vom August 1939


schien den ideologischen Gegensatz zwischen den beiden totalitären Staaten mit einem Schlag


zu beenden. Doch die Geschichte des Hitler-Stalin-Pakts ist mehr noch ein Lehrstück über den


Zerfall einer Ordnung kollektiver Sicherheit.Von Professor Dr. Martin Schulze Wessel


Durch Blut gefestigt


Nach dem Abschluss des Hitler-Stalin-Pakts war wieder von russischen Tugenden,
ja der Seelenverwandtschaft der beiden Völker die Rede. Foto SZ Photo/Scherl
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