Frankfurter Allgemeine Zeitung - 05.08.2019

(Dana P.) #1

SEITE 8·MONTAG, 5. AUGUST 2019·NR. 179 Zeitgeschehen FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Deutschland und die Vereinigten Staa-
ten sind in diesen Tagen häufig unter-
schiedlicher Ansicht. Ob es um Einfuhr-
zölle oder den deutschen Nato-Beitrag
geht: Die Spannungen zwischen Berlin
und Washington sind deutlich zu spüren.
Und wenn der amerikanische Botschaf-
ter Richard Grenell nun angesichts der
iranischen Beschlagnahmung eines briti-
schen Tankers daran erinnert, dass
Deutschland seine globale Verantwor-
tung wahrnehmen muss, kann man ihm
nur zustimmen. Wir können uns nicht
auf dem militärischen Engagement der
Amerikaner ausruhen, sondern müssen
die internationale Ordnung selbst erhal-
ten und mitgestalten.
Diese Erkenntnis muss und darf im
Fall des Konflikts mit Iran aber nicht
zwangsläufig dazu führen, dass Deutsch-
land den Vereinigten Staaten bedin-
gungslos folgt. Unser Land hat gemein-
sam mit allen europäischen Partnern die
Aufkündigung des Atomabkommens
mit den Vereinigten Staaten von Anfang
an kritisiert. Vor allem weil sich Iran an
alle Verpflichtungen aus dem Atomab-

kommen gehalten hatte, haben wir Euro-
päer die amerikanische Politik des „ma-
ximalen Drucks“ gegen Iran für keinen
erfolgversprechenden Weg gehalten.
Die Europäer haben davor gewarnt, dass
die einseitige Kündigung des Abkom-
mens durch die Vereinigten Staaten zur
Eskalation neuer Konflikte in der Regi-
on führen kann. Leider haben sich diese
Sorgen als berechtigt erwiesen.
Obwohl auch wir – ebenso wie die
Vereinigten Staaten – die Politik Irans
in der Region, seine Raketentests und
seine Unterstützung militanter Organi-
sationen kritisieren, haben Deutschland
und seine europäischen Partner eine an-
dere und eigenständige Iran-Politik be-
trieben. Für uns ist und bleibt die Ver-
hinderung einer nuklearen Bewaffnung
dieses Staates ein vorrangiges Ziel, das
der Sicherheit aller dient.
Bei dieser eigenständigen Politik
Deutschlands muss es bleiben, wenn Eu-
ropa weiter Vermittler in dem immer be-
drohlicher werdenden Konflikt bleiben
will. Aus diesem Grund wäre es ange-
messen, wenn es auch bei der Sicherung

der Freiheit der Seeschifffahrt an der
Straße von Hormuz zu einem abge-
stimmten und eigenständigen europäi-
schen Handeln käme. Dazu gehört vor
allem, sich ein unabhängiges Bild von
der Lage vor Ort zu verschaffen.
Deutschland sollte diese Aufgabe weder
an die Vereinigten Staaten delegieren
noch sich einer Beobachtungsmission
verweigern, sondern sie gemeinsam mit
europäischen Partnern annehmen.
Die Sicherung der internationalen
Seeschifffahrt geht uns als drittgrößte
Exportnation unmittelbar an. Über 90
Prozent des globalen Ferngüterhandels
werden über den Seeweg abgewickelt;
die Straße von Hormuz ist ein Nadelöhr
auf dem Weg in die und aus der Golfregi-
on. Auch die Beeinträchtigungen im Öl-
und Gastransport, für den die Meerenge
eine der weltweit wichtigsten Routen
ist, würde die deutsche und die europäi-
sche Wirtschaft zu spüren bekommen.
Doch nicht nur aufgrund der Wirt-
schaftsinteressen Deutschlands muss
uns das aggressive und militärische Vor-
gehen Irans beunruhigen, sondern weil
hier internationales Recht verletzt wird.

Nicht zuletzt sollten wir unseren Part-
nern in Großbritannien zeigen, dass wir
ihnen zur Seite stehen.
Wichtig ist, dass wir in diesem Kon-
flikt unsere Verantwortung als Europä-
er wahrnehmen. Darüber sind wir uns
im Geschäftsführenden Vorstand der At-
lantik-Brücke einig. Nicht in Konkur-
renz zu den Vereinigten Staaten, aber
eben doch eigenständig. Damit setzen
wir ein starkes Signal hinsichtlich Euro-
pas Handlungsfähigkeit und bleiben Eu-
ropas Interessen in der Region treu. Eu-
ropa sollte es sich zur Aufgabe machen,
besonnen gegen Rechtsverstöße Irans
vorzugehen, aber auch mäßigend auf
den Konflikt zwischen den Vereinigten
Staaten und Iran einzuwirken.
Ob es zu spät ist, eine gemeinsame
Mission mit Großbritannien anzustre-
ben, muss sich erst noch zeigen. Die
Bundesregierung sollte deshalb auf ein
europäisches Treffen mit der Hohen Ver-
treterin der EU für Außen- und Sicher-
heitspolitik hinwirken, um ein europäi-
sches Vorgehen abzustimmen.
Der Autorist Vorsitzender der Atlantik-Brücke
und war von 2009 bis 2017 SPD-Vorsitzender.

S


itzblockaden, ziviler Ungehorsam,
Streiks – gut fünfzig Jahre nach
„1968“ und gut dreißig Jahre nach den
Aktionen der Friedensbewegung ge-
gen die Nato-Nachrüstung erlebt ein
ganzes Arsenal an Verhaltensmustern
eine überraschende Renaissance –
weil die Denkmuster sich gleichen. Im
Namen einer höheren Moral wollen
Schüler die Legitimation durch Verfah-
ren als den klassischen Modus freiheit-
lich-demokratischer Politik durch poli-
tische Imperative hic et nunc ersetzen.
Bezeichnenderweise taucht auch das
Wort Notstand wieder auf, wobei sich
die Proteste des Jahres 1968 gegen Ge-
setze richteten, die für einen Krisenfall
geschaffen wurden. Heute heißt es, es
gebe nicht genügend Gesetze, um die
Eskalation einer Krise zu einer Kata-
strophe noch zu verhindern. Doch wer
was auch immer an den mitunter recht
naseweisen Schülern von Fridays for
Future auszusetzen hat: Hieß es nicht
vor noch nicht allzu langer Zeit, „die Ju-
gend“ kreise nur um sich selbst, kein
Satz sei so verinnerlicht worden wie
„Sei deines eigenen Glückes
Schmied“? Das war vielen auch nicht
recht. Was denn nun? D.D.


E


s ist schwer, vor lauter Amokläu-
fen und Attentaten in Amerika
nicht in Zynismus zu versinken. Bin-
nen dreizehn Stunden wurden in El
Paso und Dayton 29 Personen von gro-
tesk hochgerüsteten Männern erschos-
sen. Doch niemand glaubt, dass eine
neue Runde „Genug-ist-genug“-Parolen
mehr Wirkung entfaltet als all die frühe-
ren Appelle nach Massakern in Schu-
len, Kirchen oder Synagogen, auf Kon-
zerten oder Volksfesten. Sollte der Mör-
der von Dayton nicht wie der von El
Paso zur Riege der Rassisten gehören,
so müsste Präsident Trump, auch das
ein zynischer Gedanke, für das zweite
Blutbad regelrecht dankbar sein. Dann
wird es leichter, die Debatte in die aus-
getretenen Bahnen des Waffenrechts-
zanks zu lenken. Das ist politisch risiko-
los, weil die Fronten geklärt sind und
die Leute abgestumpft. Werden sich we-
nigstens ein paar Republikaner trauen,
den Präsidenten an seine Verantwor-
tung zu erinnern? Sein Gerede über
eine bedrohliche „Invasion“ an der Süd-
grenze und seine Unterstellung, die de-
mokratische Wählerschaft bestehe
großteils aus illegalen Einwanderern,
sind infam und brandgefährlich. anr.


D


ie Festsetzung eines weiteren Tan-
kers im Persischen Golf durch die
iranischen Revolutionswächter leitet
weiteres Öl ins Feuer der lodernden De-
batte über einen Militäreinsatz zum
Schutz der Seewege. Gewiss, der jetzt
bekannt gewordene Vorfall hat sich
schon am vergangenen Mittwoch ereig-
net, und niemand hat das Schiff als ver-
misst gemeldet. Die Revolutionswäch-
ter begründen ihr Einschreiten wäh-
rend einer „Routinepatrouille“ damit,
dass das Schiff iranisches Erdöl in ein
arabisches Anrainerland am Persischen
Golf habe schmuggeln wollen. Eine lan-
ge Tradition des Schmuggels von Erdöl
im Persischen Golf ist nicht von der
Hand zu weisen. Überzeugend ist die
iranische Position dennoch nicht. Sie
wäre glaubhafter, hätten die Revolu-
tionswächter Ross und Reiter genannt,
also wer der Empfänger hätte sein sol-
len. Zudem sind es ja sie, die die irani-
schen Häfen kontrollieren – und damit
nicht schlecht verdienen. Sie hätten
also früher wissen können, dass das
festgesetzte Schiff, wenn es denn
stimmt, Schmuggelware an Bord hat.
So trägt ihr Tun nur zur weiteren Eska-
lation bei. Her.


Bei der Suche nach geeigneten Kandi-
daten für internationale Spitzenämter
ist ihr Name regelmäßig gefallen. Im
Herbst 2016 hatte Kristalina Georgie-
wa im Rennen um die Nachfolge von
Ban Ki-moon, dem damaligen UN-Ge-
neralsekretär, das Nachsehen gegen-
über dem Portugiesen António Guter-
res. Ehe die EU-Staats- und Regierungs-
chefs Anfang Juli Ursula von der Leyen
zur EU-Kommissionspräsidentin be-
stimmten, hatte Georgiewa als Anwär-
terin für den Spitzenjob gegolten. Am
vergangenen Freitag schließlich setzte
sich die Bulgarin, die am Dienstag kom-
mender Woche 66 Jahre alt wird, gegen
den früheren niederländischen Finanz-
minister Jeroen Dijsselbloem als Kandi-
datin der EU-Partner für das Amt der
geschäftsführenden Direktorin des In-
ternationalen Währungsfonds durch.
Georgiewa hatte in ihrer Geburts-
stadt Sofia Wirtschaftswissenschaften
studiert, sie lehrte an den Universitä-
ten Yale, Harvard und der London
School of Economics. Im Geflecht der
Washingtoner internationalen Finanz-
institutionen kennt sie sich bestens aus.
Sie war von 1993 bis 2008 für die Welt-
bank tätig. Anfang 2017 kehrte sie
nach sieben Jahren als bulgarische EU-
Kommissarin dorthin auf die neuge-
schaffene Position der Geschäftsführe-
rin zurück. Auch beim IWF will sie als
Nachfolgerin von Christine Lagarde,
die an die Spitze der Europäischen Zen-
tralbank wechselt, ihrer beruflichen
Leidenschaft nachgehen: der Bekämp-
fung internationaler wirtschaftlicher
Ungleichgewichte durch finanzielle För-
derinstrumente. Zuvor muss sie zwei
Hürden nehmen. So steht die Zustim-
mung von Partnern aus aller Welt zur
abermaligen Besetzung des Spitzenpos-
tens durch eine Europäerin aus. Zudem
muss der Gouverneursrat von der gel-
tenden Altersobergrenze von 65 Jahren
für den IWF-Chefposten abgehen.
Die Christliche Demokratin Georgie-
wa hatte in ihrem Heimatland nie ein
Ministeramt inne. Als sie 2010 EU-
Kommissarin wurde, übernahm sie mit
dem Ressort Entwicklungspolitik eine
Zuständigkeit, bei der sie ihre Erfahrun-
gen in der Weltbank bestens nutzen
konnte. Schnell erwarb sich die bestens
Englisch sprechende Bulgarin einen
Ruf als kompetente, fleißige und durch-
setzungsfähige Kommissarin. Als sie
2014 für eine zweite Amtszeit bestätigt
wurde, war sie zunächst als EU-Außen-
beauftragte im Gespräch, musste aber
der italienischen Sozialdemokratin Fe-
derica Mogherini den Vortritt lassen.
Unter dem neuen Kommissionschef
Jean-Claude Juncker wurde Georgie-
wa eine der Stellvertreterinnen und für
das Schlüsselressort Haushaltspolitik
zuständig. Es kam zu Reibereien zwi-
schen der resoluten Bulgarin und Mar-
tin Selmayr, dem damaligen Büroleiter
Junckers. Ob sie tatsächlich, wie kol-
portiert, 2016 auch aus Widerwillen ge-
gen den oft eigenmächtig handelnden
Selmayr in Brüssel das Handtuch ge-
worfen hat – darüber lässt sich nur mut-
maßen. Sicher ist, dass Georgiewa
auch als IWF-Direktorin jene Zielstre-
bigkeit an den Tag legen wird, mit der
sie zuletzt an der Weltbankspitze über-
zeugt hat. So setzte sie dort zum Bei-
spiel zügig das Prinzip durch, Männer
und Frauen bei der Besetzung von Spit-
zenpositionen der Weltbank gleichzu-
stellen. MICHAEL STABENOW

Wasdenn nun?


Kristalina GEORGIEWA Foto AFP

TEL AVIV, 4. August
Für den israelischen Ministerpräsiden-
ten Benjamin Netanjahu wird es nach den
vorgezogenen Neuwahlen am 17. Septem-
ber äußerst schwierig, abermals eine Re-
gierung zu bilden. Denn für die Abgabe
der Wahllisten ist die Frist abgelaufen,
und sollten die Vorsitzenden der anderen
Parteien zu ihren Ankündigungen stehen,
ist kein Weg erkennbar, dass er auch künf-
tig an der Spitze der Regierung bleibt.
Zunächst hatte sich Avigdor Lieber-
man, der Vorsitzende der nationalisti-
schen Partei Yisrael Beitenu, geweigert, ei-
ner Koalition mit den ultraorthodoxen Par-
teien beizutreten, da er keinen von jüdi-
schen Religionsgesetzen geleiteten Staat
wolle. Nach der Wahl im April hatte das
bereits zum Scheitern der Koalitionsver-
handlungen geführt. Allerdings hatte Lie-
berman zuvor über Jahre mit den Gottes-
fürchtigen koaliert. Es spricht daher eini-
ges dafür, dass es ihm vor allem um die Ab-
wahl Netanjahus als Ministerpräsident
geht. Ohne Liebermans Partei hat ein
Block aus rechten Parteien unter Führung
von Netanjahus Likud keine Mehrheit.
Ohne Netanjahu hingegen hätte der Likud
gute Chancen, weiterzuregieren, nur mit
einer anderen Person an der Spitze.

Ein Block der linken Parteien unter
Führung der größten Oppositionspartei
Blau-Weiß würde ebenfalls nicht mindes-
tens 61 der 120 Knesset-Sitze auf sich ver-
einen, selbst wenn die arabischen Partei-
en eingeschlossen würden. Daher spre-
chen sich sowohl Blau-Weiß als auch Lie-
berman für eine große Koalition gemein-
sam mit dem Likud aus. Die Bedingung
dazu ist: Der dürfe nicht länger von Netan-
jahu geführt werden. Offen forderten das
am Wochenende Lieberman wie auch der
zweitplatzierte Kandidat von Blau-Weiß,
Jair Lapid. In einem Punkt findet das eine
Mehrheit in der Bevölkerung. Eine jüngst
veröffentlichte Umfrage hat ergeben,
dass sich mehr als die Hälfte der Israelis
eine Einheitsregierung ohne die Ultraor-
thodoxen wünscht. Lapid sagte, Israel be-
nötige eine Einheitsregierung, ein guter
Anfang dazu sei ein Likud ohne Netanja-
hu und Lieberman. Bislang lehnt der Li-
kud derartige Forderungen entrüstet ab.
Die aussichtsreichsten Kandidaten für die
Nachfolger Netanjahus halten sich aber öf-
fentlich mit Aussagen zurück.
Netanjahu hatte noch bis Stunden vor
der Abgabe der Wahllisten vergeblich ver-
sucht, einen größtmöglichen Zusammen-
schluss der rechten und rechtsextremen

Splitterparteien zu erreichen, damit für
den rechten Block keine Stimmen verlo-
rengehen. Denn die „Vereinigte Rechte“
weigerte sich, die rassistisch-extremisti-
sche Partei „Jüdische Kraft“ aufzuneh-
men. Tritt sie alleine an, erreicht sie nicht
die Sperrklausel von 3,25 Prozent, so dass
dem rechten Block ein bis zwei Knessetsit-
ze verloren gehen. „Die Spaltungen auf
der Rechten werden zum Verlust vieler
Stimmen führen“, gab der Likud anschlie-
ßend bekannt. Ayelet Schaked, die ehema-
lige Justizministerin und neue Vorsitzen-
de der „Vereinigten Rechten“, widerstand
aber dem Druck Netanjahus. Sie kündigte
nicht einmal an, nach der Wahl für eine
Koalition mit Netanjahu bereitzustehen.
Selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass
Netanjahus Likud gemeinsam mit der Ul-
traorthodoxie und der „Vereinigten Rech-
ten“ eine hauchdünne Mehrheit von 61 Sit-
zen erzielen würde, ist kaum zu erwarten,
dass sich alle ihre Abgeordneten für die ge-
setzlichen Maßnahmen aussprechen, die
Netanjahu vor einer Korruptionsanklage
schützen würden. Die Anklageanhörun-
gen gegen Netanjahu in drei Fällen sind
für den Herbst angesetzt. Selbst eine knap-
pe Mehrheit dürfte Netanjahu nicht ausrei-
chen, das Rechtssystem und die Macht des

Obersten Gerichts zu beschneiden.
„Netanjahu ist ohnehin erledigt“, sagte
ein Likud-Abgeordneter.
Um das hinauszuschieben, könnte
Netanjahu für eine Einheitsregierung mit
Blau-Weiß werben. Am Donnerstag hatte
deren Vorsitzender Benny Gantz die Mög-
lichkeit zumindest nicht ausgeschlossen,
mit Netanjahu zu regieren. Israelische
Journalisten hatten den ehemaligen Gene-
ralstabschef gefragt, ob er sich vorstellen
könne, in eine Einheitsregierung einzutre-
ten, sollte die amerikanische Regierung
noch vor der Wahl einen sogenannten
Friedensplan mit den Palästinensern vorle-
gen. Gantz antwortete, er und seine Partei
würden alles zum Wohle des Landes unter-
nehmen. Erst Minuten später schritt ein er-
schrockener Gantz zurück zu den Mikrofo-
nen, um klarzustellen, dass er die Frage
nicht richtig gehört habe mit seinem
„M-16-Ohr“, also jenem Ohr auf der rech-
ten Seite, das durch das beständige Abfeu-
ern des Sturmgewehrs in seiner Militärkar-
riere beeinträchtigt worden sei. „Ich wer-
de nicht mit Netanjahu sitzen, ich bin ge-
kommen, um ihn abzulösen“, stellte
Gantz klar. Netanjahu wird in dieser Epi-
sode vielleicht aber doch eine letzte Chan-
ce für sich gesehen haben.

Recep Tayyip Erdogan wird, sollte nichts
Unvorhergesehenes geschehen, die Türkei
bis zum Jahr 2023 beherrschen. Dann fei-
ert die Republik ihren 100. Geburtstag,
und in dem Jahr finden auch Präsidenten-
wahlen statt. Bis dahin könnten aber die
Macht Erdogans und seiner Regierungs-
partei AKP noch weiter erodieren. Beide
könnten zwar aus der Wahlniederlage bei
den jüngsten Kommunalwahlen Lehren
ziehen, danach sieht es jedoch nicht aus.
Dabei sehen sich Erdogan und die AKP
einer neuen Herausforderung gegenüber:
Ekrem Imamoglu, der neue Oberbürger-
meister von Istanbul. Er ist offenbar der
kommende Mann der von Kemal Atatürk
gegründeten Republikanischen Volkspar-
tei (CHP). Dass er bei der Wiederholung
der Wahl in Istanbul die AKP um Längen
geschlagen hat und sie im Vergleich zum
annullierten „ersten“ Wahlgang demütig-
te, ist ein deutliches Zeichen dafür.
Die CHP steht als größte Oppositions-
partei für eine laizistische Türkei, sie
lehnt das Wiedereindringen (vor allem
konservativer Interpretationen) des Is-
lams in die Belange der Politik und in wei-
te Teile der Gesellschaft ab. Ihr Credo ist
vielmehr der türkische Nationalismus,

der auf die Gründung der Republik und
Atatürk selbst zurückgeht und an die Stel-
le des Universalismus im zugrunde gegan-
genen Osmanischen Reich getreten ist.
Das letzte Vierteljahrhundert war für
den Aufstieg jener Türken gestanden, de-
ren Milieu Erdogan verkörpert und die die
Soziologin Nilüfer Göle als „schwarze Tür-
ken“ bezeichnet hat. Fehler der CHP und
der Kemalisten, die sich auf das Erbe Ke-
mal Atatürks berufen, haben ihren Auf-
stieg ermöglicht. So wurde die Ausübung
der Religion wurde zwar nicht wirklich be-
hindert, strenge Kemalisten gingen aber
auf Distanz zu ihr. Wirksam waren Worte
Atatürks, in denen er den Islam als „arabi-
schen Fremdkörper“ im türkischen Volk
bezeichnete. Die Mehrheit der Türken sah
und sieht das aber anders, insbesondere
die im strikt islamischen Milieu groß ge-
wordenen „schwarzen“ Türken. Ihr Auf-
stieg setzte in den sechziger Jahren ein.
Das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts
wurden Schlüsseljahre. Führenden Politi-
ker des Landes waren in Skandale wie „Su-
surluk“ verwickelt, bei denen die Verfil-
zung von Staat und Mafia sichtbar wurde.
Das Land stagnierte, die alte Elite fuhr die
Türkei wirtschaftlich an die Wand.

Und so schlug die Stunde der schwar-
zen Türken mit ihrer stärker islamisch ge-
färbten Ideologie. Sie stellten erfolgrei-
che Bürgermeister in den Großstädten,
unter ihnen in Istanbul Erdogan, wovon
sie nach der großen Krise und der Grün-
dung der AKP 2001 bei den Wahlen 2002
erstmals profitierten. Erdogan und die
AKP schwammen ein Jahrzehnt auf der
Welle des Erfolgs. Die Wirtschaft boom-
te, der Lebensstandard stieg. Zu dem Er-
folg trugen soziale und politische Refor-
men bei. Der Höhenflug der schwarzen
Türken zeigte sich in der Gesellschaft
und einer schleichenden Islamisierung.
Die Wende brachte 2013 Erdogans autori-
täres Gebaren gegenüber den Demons-
tranten im Gezi-Park. Der gescheiterte
Putschversuch vom Juli 2016 lieferte den
Vorwand, um den jetzigen autokratischen
Kurs zu rechtfertigen, die Drangsalierung
und die Verfolgung von Journalisten so-
wie anderen liberalen wie linken Kräften.
Die CHP, wiewohl größte Oppositions-
partei, hatte im Kampf gegen den charis-
matischen Erdogan lange keine Chance.
Ihre Ideologie war stehengeblieben und
hatte den Erfolgen der schwarzen Tür-
ken wenig entgegenzusetzen. Der CHP-

Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu erwies
sich als freundlicher älterer Herr. Erst in
den vergangenen zwei Jahren gewann er
an Statur.
Imamoglu, der neue Mann, ist von ande-
rem Zuschnitt, was er als Bezirksbürger-
meister von Beylikdüzü bereits demons-
triert hat. Er steht für eine CHP, die ver-
standen hat, dass sie sich erneuern muss,
dass alte kemalistische Zöpfe abgeschnit-
ten werden müssen, weil sie nicht dem Ver-
ständnis einer modernen pluralistischen
Gesellschaft entsprechen. Dazu gehören
ein übertriebener türkischer Nationalis-
mus und die bisherige übertriebene Ableh-
nung des Milieus der Frommen, die sich
jahrzehntelang nicht zu Unrecht zurückge-
setzt gesehen hatten. Imamoglu ist ein
praktizierender Muslim, Religion ist für
ihn aber eine Privatsache, die nicht mit Po-
litik vermischt werden darf. Das könnte
seine Chancen gegenüber Erdogan und
der AKP weiter erhöhen. Ein geeignetes
Biotop, um den Wiederaufstieg der CHP
zu betreiben, findet der neue Star der CHP
in Istanbul, das noch immer international
und in Teilen auch kosmopolitisch geprägt
ist. Imamoglu und der Türkei könnte das
bald zugutekommen.

Fremde Federn:SigmarGabriel


Europas Verantwortung für sichere Seewege


Amokin Amerika


Ölins Feuer


Zielstrebig


Unter Korruptionsverdacht


Netanjahu wird nach der Wahl im September nur wenige Koalitionspartner finden / Von Jochen Stahnke


Wird sich die CHP erneuern?


Die größte türkische Oppositionspartei kann wieder Hoffnung schöpfen / Von Wolfgang Günter Lerch


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