Frankfurter Allgemeine Zeitung - 05.08.2019

(Dana P.) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton MONTAG, 5. AUGUST 2019·NR. 179·SEITE 9


Vor ein paar Tagen hat der Immobilien-
unternehmer Christoph Gröner bei einer
Benefizauktion in Leipzig ein Bild des
deutschen Malers Neo Rauch mit dem Ti-
tel „Der Anbräuner“ für 750 000 Euro er-
worben. Gröner ist, was man reich nennt,
und er spricht gern über sein Geld. Er pla-
ne, sagte er, in Berlin ein Haus für einen
„Verein für den gesunden Menschenver-
stand“ zu eröffnen, der über gesellschaftli-
che Fakten objektiv berichten werde. Dort
werde das Gemälde im Foyer hängen.
Das ist der einstweilen letzte Akt in
einem Stück, das Ende Mai mit einem Ar-
tikel des Kunsthistorikers Wolfgang Ull-
rich in der „Zeit“ begann. Unter der Über-
schrift „Auf dunkler Scholle“ stellte er die
These auf, dass „rechts gesinnte Künstler
derzeit als letzte Verteidiger der Kunstfrei-
heit“ aufträten. Er schreibt dort, dass „ei-
nige Motive rechten Denkens“ sich auch
bei Rauch fänden, was er durch diverse
Äußerungen des Künstlers bestätigt sieht;
außerdem legten „Titel wie ,Vaters Acker‘
oder ,Fremde‘ ebenfalls eine politische
Deutung nahe“. Besonders stark sind sol-
che Belege nicht. Allerdings hatte er
Rauch auch schon 2016 in seinem Buch
„Siegerkunst“ als Mitspieler bei „neofeu-
dalen Machtstrukturen in der heutigen
Kunstwelt“ identifiziert, was zugleich als
Angriff auf Rauchs künstlerische Quali-
tät lesbar ist.
Neo Rauch ist sicherlich konservativ.
Es gibt Sätze von ihm, deren gesellschafts-
politischen Inhalt man nicht teilen muss.
Aber er tritt nicht als Aktivist auf, schon
gar nicht als Anhänger einer rechtslasti-
gen Partei. Endlich gilt, dass er es sich mit
seiner Kunst nicht einfach macht; sonst
wäre er deutlich produktiver. Aber Rauch
hat sich mittels seiner Kunst gewehrt:
Ende Juni erschien in der „Zeit“ seine „ge-
malte Replik“ auf Ullrich, eben „Der An-
bräuner“. Eine männliche Figur über
einem Nachttopf malt dort mit ihren eige-
nen Exkrementen auf eine Leinwand. Es
ist ein abscheuliches, buchstäblich hinge-
schmiertes Bild, mit dem Rauch, das ist
schon eine Pointe, sarkastisch beweist,
dass er ein schlechter Maler ist – jeden-
falls, wenn er das sein will; manche krie-
gen das nicht einmal aus Versehen hin.
Was auch anderes hätte er den Anwürfen
entgegensetzen sollen? Hätte er sich ver-
bal die Hemdbrust aufreißen sollen für
ein Credo à la: Ich bin nicht rechter Gesin-
nung? Aha, er muss dementieren, hätte
es dann gut heißen können.
Muss er nicht. Denn er ist ein Künstler,
für den, wenn sich das für „autonome
Kunst“ bitte noch einrichten lässt, die
freie Wahl seiner Motive gilt. Dass im sel-
ben Zug für seine Kritiker die Freiheit der
Meinung unbedingt und unverbrüchlich
gilt, steht genauso außer Frage. Wo die
Kritik so gravierend ausfällt, dass ein
Künstler sich in seiner persönlichen Inte-
grität verletzt fühlt, ist allenfalls mit Ge-
genwehr zu rechnen. Es ließe sich auch
anders wenden: Rauch ist eben nicht
resistent gegen Kritik, sie erreicht ihn.
Wo er sie als ungerechtfertigt empfindet,
kann sie ihn zur Gegenoffensive veranlas-
sen. Im Grunde bestätigt er damit die Wir-
kung von Kritik, deren angeblicher Bedeu-
tungsschwund ständig beklagt wird.
Jemand wie Wolfgang Ullrich besetzt
mit seinem Blog, mit seinen Büchern und
Artikeln die Position eines Wächters in
der Kunstszene. Was in vielerlei Hinsicht
verdienstvoll ist, das sei hier ausdrücklich
gesagt. Hinzu kommt, dass sein besonde-
res Augenmerk dem Kunstmarkt gilt, vor
allem der unbestreitbaren Allianz zwi-
schen Großkapital und internationalem
Markt. Neben der Berühmtheit durch sei-
ne Kunst ist Neo Rauch einer der im glo-
balen Markt am meisten geschätzten zeit-
genössischen Künstler. Das rückt ihn na-
turgemäß zusätzlich ins Zentrum eines
breiten Interesses. Zumal in Amerika und
Asien vermitteln seine enigmatischen
Werke ihren Betrachtern – und entspre-
chend ihren Käufern – eine Idee davon,
was für sie als „deutsch“ begreiflich wird.
Es entspricht also bloß den Gesetzen der
Aufmerksamkeitsökonomie, dass die Aus-
einandersetzung mit diesem Künstler,
dass zumal zugespitzte Einschätzungen
seiner Person und seines Schaffens weite
Kreise in der Öffentlichkeit ziehen.
Die Versteigerung jetzt in Leipzig – mit
dem, gemessen an anderen Werken Neo
Rauchs, übrigens zu hohen Preis für den
„Anbräuner“ – muss da perfekt ins Bild
passen. Voilà, der Konnex zwischen Groß-
kapital und Kunstbesitz. Es ist kein glückli-
cher Auftritt, womöglich vom Käufer als
eine Provokation gedacht, der eines fehlt –
der gesunde Menschenverstand. Daraus
gleich die „pauschale Diffamierung von
Kritikern und Intellektuellen“ abzuleiten,
wie es Ullrich in seinem Blog-Eintrag zu-
letzt tut, erweist dieser Aktion aber viel-
leicht doch zu viel der Ehre.
Das viele Geld, das ein Kinderhospiz
bekommt, ist der erfreuliche Abfall dabei.
Neo Rauch wird froh sein, dass er dieses
Katastrophenbild so einsetzen konnte; sei-
ne künstlerischen Fähigkeiten kann er
wahrlich anders nutzen. Wenn die Aukti-
on der letzte Akt in diesem Stück bleibt,
wäre das jedenfalls für alle Seiten ein Ge-
winn. Apropos: Nach all der Popularität,
die er auf seinem Weg durch sämtliche
Medien erreicht hat, könnte „Der Anbräu-
ner“ durchaus im Marktwert steigen. Sein
neuer Besitzer könnte ihn also, wenn er
sich an ihm sattgesehen hat, weiterverkau-
fen – mit Gewinn. ROSE-MARIA GROPP


BELGRAD,4. August

W


er in diesen Tagen an einem
Belgrader Kiosk vorbei-
kommt, kann sie nicht über-
sehen. Das ist sie, kein Zwei-
fel: Ganz in Schwarz gekleidet, blickt sie
in die Kamera und durch die Kamera hin-
durch auf die Passanten, die nun viel-
leicht, angezogen von diesem Blick, vor
dem Kiosk stehen bleiben, um die aktuel-
le Ausgabe von „Nedeljnik“ zu kaufen,
Serbiens auflagenstärkster Wochenzeit-
schrift.
Die berühmteste, ja angeblich sogar
weltberühmteste Performance-Künstle-
rin dieser Zeit ist nicht nur auf dem Titel-
bild zu sehen, sie hat auch den Text dazu
beigesteuert: „Marina Abramović. Mein
Brief an Serbien“ lautet die aktuelle Titel-
geschichte. Sie ist Teil einer sorgfältigen
Inszenierung vor dem serbischen Kunster-
eignis des Jahres: Vom 21. September bis
Mitte Januar 2020 wird im Belgrader Mu-
seum für Moderne Kunst die Ausstellung
„Čistać“ gezeigt, die unter ihrem engli-
schen Titel „The Cleaner“ schon seit zwei
Jahren in verschiedenen europäischen
Städten zu sehen war. Zuerst 2017 in
Stockholm, danach unter anderem in
Oslo, in der Bundeskunsthalle in Bonn
und in Florenz. „Die Ausstellung in Bel-
grad ist die letzte Station der Tour und
von einzigartiger Bedeutung, da sie die
Rückkehr der Künstlerin an ihren Ge-
burtsort bedeutet. An jenen Ort, an dem
ihre Karriere begann und an dem sie
1975 zuletzt eine Einzelausstellung im Sa-
lon des Museums hatte“, hat die in Öster-
reich beheimatete Erste Stiftung, die das
Wagnis mitfinanziert, verlauten lassen.
Doch damit ist natürlich längst nicht
alles gesagt – ebenso wenig wie mit dem
Brief, den die Grenzgängerin und
Schmerzsolistin ihrem Land geschrieben
hat. „Meine berufliche Rückkehr nach
Belgrad ist eine große Sache für mich.
Ich bin in Serbien geboren und habe dort
29 Jahre gelebt“, schreibt sie und erin-
nert daran, dass es fast 45 Jahre her ist,
seit sie das letzte Mal in Belgrad ausstell-
te, bevor sie ihre Geburtsstadt verließ.
„Jetzt, fast ein halbes Jahrhundert später,
möchte ich vor allem der neuen Genera-
tion zeigen, was ich in all dieser Zeit ge-
arbeitet habe.“
Seit ihrer Retrospektive „The Artist is
Present“ im New Yorker Museum of Mo-
dern Art im Jahr 2010 sei sie nicht mehr
so aufgeregt gewesen wie nun vor der
Vernissage in Belgrad. Für sie sei das die
bedeutendste Ausstellung überhaupt,
teilt die Rückkehrerin mit. In Serbien
freut man sich. Die erfolgreichste serbi-
sche Künstlerin aller Zeiten, deren New
Yorker Ausstellung Hunderttausende se-
hen wollten, kehre heim, jubelt der Bou-
levard. Dass Abramović, die ihren Kör-
per zu ihrer einzigen Heimat erklärt hat,
eine „serbische Künstlerin“ sei, ist zwar
ungefähr so aussagekräftig wie die Be-
hauptung, etwas sei ein litauisches Kugel-
lager oder mongolischer Zement, soll
aber wohl Respekt für ein Werk aus-
drücken, für das sich Serbien lange nicht
interessierte.
Deshalb hat sich Abramovićfrüher
auch alles andere als freundlich über den
Ort ihrer Herkunft geäußert. „Ich kom-
me aus einem finsteren Land. Aus dem
Nachkriegsjugoslawien von Mitte der
vierziger bis Mitte der siebziger Jahre.
Einer kommunistischen Diktatur unter
Marschall Tito. Es mangelte an allem, al-
les war grau“, heißt es in ihren Lebenser-
innerungen „Durch Mauern gehen“. Bel-
grad beschreibt sie darin als Stadt, deren
Ästhetik aus purer Hässlichkeit bestan-
den habe: „Nie werde ich die öffentli-
chen Gebäude vergessen – den schmutzi-
gen Grünton, mit dem die Wände gestri-

chen waren, die nackten Glühbirnen, die
ein trübes Licht verströmten, das alles ir-
gendwie verschattete. Die Wandfarbe
und das fahle Licht ließen die Haut der
Leute grünlich-gelb aussehen, so als wä-
ren sie alle leberkrank. Egal, was man
tat, stets schlich sich ein Gefühl der Be-
klemmung ein, und diese Atmosphäre
machte einen irgendwie schwermütig.“
In Interviews sprach sie nicht besser
von ihrer Geburtsstadt. Als eine Belgra-
der Zeitung einmal geschrieben hatte,
ihre Arbeit erinnere mehr an eine Zirkus-
nummer als an Kunst, sagte sie einem
deutschen Journalisten: „Und das nach
48 Jahren Arbeit. F*** them!“ Belgrad,
so Abramović, habe sie nicht verdient:
„Ich wurde dort nie gefördert, man hat
mir meinen Erfolg im Ausland nicht ge-
gönnt. Das ist einfach nur traurig.“
Doch ist es wohl nicht nur die lange
ausgebliebene Anerkennung, die das Ver-
hältnis zwischen Serbien und Abramović
belastet hat. Für sogenannte große Stars
bergen die Orte ihrer Herkunft stets ein
Risiko. Denn dort wartet womöglich
nicht nur Rosebud auf sie wie einst für
Citizen Kane, sondern auch ein Haufen
Menschen, die sich an die berühmten Per-
sonen noch aus Zeiten erinnern, da sie
nur rotznasige Allerweltswichte oder ver-
pickelte Teenager waren.

S


o ist es auch in diesem Fall. In Bel-
grad kennt man Marina Abramo-
vićnoch aus Jahren, als sie zwar
schon Marina Abramović hieß,
aber noch nicht Marina Abramovićwar.
Zumindest nicht jene Abramović, die
von sich selbst sagt, sie sei eine Marke
wie Coca-Cola. Hier gibt es Menschen,
die Abramovićs Interpretation ihres Le-
bens und ihrer Vergangenheit durchkreu-
zen. Abramović, die sich in manchen ih-
rer frühen Performances einem existen-
tiellen Kontrollverlust auslieferte und
dem Publikum erlaubte, stundenlang al-
les Gewünschte mit ihr anzustellen – was
in einem Fall zu schweren Verletzungen
und beinahe zu ihrem Tod führte –, kann
das nicht recht sein. Denn jenseits ihrer
Inszenierungen ist die einstige Förder-
preisträgerin des Bundesverbands der
Deutschen Industrie ein „control freak“,
wie im Magazin „The New Yorker“ ein-
mal festgestellt wurde. Das gilt auch und
gerade für die Geschichte ihres Lebens.
Nur funktioniert diese Kontrolle in Bel-
grad eben nicht so gut wie anderswo, weil
es dort noch zu viele Zeugen gibt, die das
Experiment Abramovićvon Anfang an
miterlebt haben. Da ist zum Beispiel die
Geschichte von ihren Eltern, die berühm-
te Partisanen und sogar Nationalhelden
in Serbien gewesen seien. So hat es Abra-
movićausländischen Journalisten immer
wieder erzählt. Die Journalisten, auch in
Deutschland, haben diesen Mythos unge-

prüft weiterverbreitet, als handele es sich
dabei um eine Tatsache.
Dass es so nicht ist, zeigt unter ande-
rem ein Blick auf die Fassade des Wohn-
hauses in der Makedonska Ulica 32, wo
Abramovićaufwuchs. Die Belgrader In-
nenstadt ist übersät mit Gedenktafeln
für einstige Kommunisten. Wo auch nur
halbwegs bedeutsame Helden des Partisa-
nenkampfs im Zweiten Weltkrieg lebten,
erinnert garantiert eine Plakette daran –
wenn nicht gleich die gesamte Straße
nach ihnen benannt ist. An dem Gebäu-
de, in dem Abramovićaufwuchs, prangt
aber nur das Firmenschild einer Anwalts-
kanzlei und der Zahnarztpraxis „Os-

meh“ (Lächeln). Denn Abramovićs El-
tern waren zwar Partisanen, aber im gan-
zen Land gefeierte Nationalhelden wa-
ren sie nur in der Phantasie ihrer Tochter


  • und als Folge davon in den Porträts
    oder Interviews ausländischer Medien,
    die solche mythomanischen Konstrukte
    bereitwillig übernahmen.
    Im Ausland kann Abramovićihre Ver-
    sion meist unwidersprochen verbreiten,
    in Belgrad aber erntet sie Widerspruch.
    Etwa von ihrem Bruder Velimir, einem
    Schriftsteller, der stets in bunte Schals ge-
    wandet ist, wenn er öffentlich auftritt.
    Ihr Vater sei nie ein Volksheld gewesen,
    konstatierte der Bruder vor einigen Jah-
    ren in einem Interview. „Er war ein alter
    Kommunist, wurde schon 1934 Mitglied
    (der Kommunistischen Partei), aber ein
    Held war er nie. Sie möchte das nur ger-
    ne denken“, sagte Velimir über Marina
    Abramović. Er erinnerte sich auch daran,
    dass seine Schwester in jungen Jahren


ein sehr aktives Mitglied der Kommunisti-
schen Partei gewesen sei und inzwischen
systematisch versuche, die Darstellung ih-
rer Kindheit und Jugend zu kontrollie-
ren: „Niemand von uns in der Familie hat
auch nur ein einziges ihrer Bilder aus der
Kindheit. Alles hat sie zusammengerafft,
sogar von den gestorbenen Eltern. Ihr ist
diese Periode sehr peinlich, und am liebs-
ten hätte sie es, wenn nur sie davon erzäh-
len könnte, wie alles geschah, ohne Rück-
sicht auf die Wahrheit.“

D

ie Beziehung der Geschwister
zum Vater, der die Familie für
eine andere Frau verlassen hat-
te, sei in Wahrheit oberfläch-
lich gewesen, wie zu einem Fremden,
stellte der Bruder dem Vaterbild der
Schwester sein eigenes entgegen. Mit an-
deren Worten: Sofern der Bruder nicht
auch übertreibt, hat sich Marina Abramo-
vićden Vater, den sie gern gehabt hätte,
erfunden. In einem anderen Gespräch be-
richtete Velimir Abramović, wie sich sei-
ne Schwester erst durch einen Aufent-
halt in einem tibetischen Kloster gewan-
delt habe: „Bis dahin hatte Marina erfolg-
los mit ihrer Vergangenheit, Belgrader
Nostalgie, gegenständlicher Malerei,
dem Kommunismus unserer Eltern, dem
Sinn der Kunst, klassischer Ästhetik, ih-
rer zu großen Nase und den unbekann-
ten Gründen der eigenen Existenz ge-
kämpft.“ Schon vor der Veröffentlichung
der serbischen Übersetzung von „Durch
Mauern gehen“ mutmaßte ihr Bruder,
bei den Memoiren seiner Schwester wer-
de es sich um ein „Falsifikat des eigenen
Lebens“ handeln.
Was für diese literarische Gattung frei-
lich nichts Ungewöhnliches wäre, gilt
doch weiterhin das bekannte Diktum,
wer glaube, dass sich die Vergangenheit
nicht mehr ändern lasse, habe noch kei-
ne Memoiren geschrieben. Als das Buch
dann auf Serbisch vorlag, meldeten sich
Zeitzeugen prompt mit heftigsten Ein-
sprüchen. Zoran Popović, der in den sieb-
ziger Jahren zum selben losen Belgrader
Künstlerzirkel wie Abramovićgehört hat-
te, schrieb in einem Beitrag für die
Hauptstadtzeitung „Politika“, in „Durch
Mauern gehen“ werde die Wahrheit in ei-
nigen Passagen fast Satz für Satz auf den
Kopf gestellt. Er beschrieb detailliert,
wie AbramovićDinge für sich in An-
spruch nehme, die sie nicht getan habe,
während sie anderes verschweige, über-
treibe oder verzerre.
Zu Wort meldete sich vor einiger Zeit
auch Nataša Marković, in deren Verlag
„Weißer Reiter“ 2013 die serbische Über-
setzung der Biographie „Wenn Marina
Abramović stirbt“ des amerikanischen
Autors James Westcott erschienen war.
Sie gab sich ausdrücklich als Bewunderin
von Abramovićs Kunst zu erkennen,
nannte sie aber auch eine „verlogene
Dame“, die für den Konkurs ihres auf Li-
teratur von Frauen spezialisierten Ver-
lagshauses verantwortlich sei. Nicht nur
sei sie entgegen ihrer schriftlichen Zusa-
ge nicht zur Präsentation der Biographie
nach Belgrad gekommen, weshalb der
Verlag von Sponsoren, die auf Abramo-
vićs Anwesenheit gesetzt hatten, ver-
klagt worden sei. Auch habe sie dem Ver-
lag, obwohl der bereits ordnungsgemäß
die Rechte erworben hatte, eine weitere
Rechnung von 3500 Euro für den Ab-
druck der in der englischen Originalaus-
gabe enthaltenen Fotos aus ihrem Privat-
archiv geschickt.
In den kommenden Wochen werden
wohl noch ähnliche solcher Geschichten
die Runde machen in Belgrad. Anders als
in New York, Stockholm oder Florenz
könnte dann auch der Mensch hinter der
Marke Abramovićsichtbar werden – und
die Belgrader Ausstellung damit wirklich
einzigartig machen. MICHAEL MARTENS

Der Besuch der


Mythomanin


Ein schwerer Mann in rehbraunem An-
zug mit derbem Schuhwerk liest neben
der Bronzestatue eines Boxers im Palaz-
zo Massimo in Rom ein Gedicht vor.
Seine Stimme trägt weit in den Raum,
Museumsbesucher bleiben stehen,
wenn auch nicht alle, wie ein Video
zeigt, das die Szene aufgenommen hat.
Denn der hier spricht, deklamiert, laut
und ganz leise, ist Kevin Spacey. Wer
hätte ihn in Rom erwartet? Und in die-
sem Museum, ein Gedicht rezitierend,
das ihm und seiner augenblicklichen
Situation auf den Leib geschrieben
scheint: „Sie benutzten mich zur Unter-
haltung“? Als er fiel, wandten sie sich
ab – im Gedicht das Publikum vom Bo-
xer –, und nun sitzt er da, blutüber-
strömt, dem Ende nah. Natürlich kann
Spacey, den man mit gutem Grund für
einen der herausragenden Darsteller
seiner Generation halten kann, das auf
eine Weise vortragen, die einen erzit-
tern lässt, ergriffen von solcher Grau-
samkeit. Aber auch, weil einen kurz ein
Lachreiz überkommt, wenn Spacey die
Faust ballt neben dieser antiken Bronze
in ihrer überirdischen Vollkommenheit
im Ausdruck des Leides, der Ergeben-
heit, des Muts, des Todes. Ergebenheit
sieht man bei Spacey nicht. Es ist auch
nicht die erste Lesung des Gedichts von
Gabriele Tinti; Robert Davi hat es im
Getty Museum in Los Angeles, das sich
die Statue 2015 für eine Ausstellung
ausgeliehen hatte, schon einmal vorge-
lesen. Mit weniger Pathos umso ergrei-
fender. Was bei Davi fehlte, war der
Selbstbezug, der bei Spacey jede Zeile
überlagert. Wie berichtet, wurde ein
Verfahren gegen Spacey in Nantucket
wegen sexueller Nötigung kürzlich ein-
gestellt, nachdem der Kläger nicht aus-
sagen wollte. Gegen ihn laufen in Lon-
don und in Los Angeles weitere Unter-
suchungen wegen sexueller Belästigun-
gen. „Je mehr du blutest“, heißt es in
dem Gedicht, „desto besser bist du.“
Nicht ganz, nach dieser Performance,
zu der Spacey selbst die Presse eingela-
den haben soll. Er war schon viel bes-
ser, als er sich weniger leid tat. lue.

D


ass sich Politiker mit nichts so
glanzvoll verewigen können wie
mit kulturellen Hinterlassenschaften
ist vertraut, seit König Mausolos sich
das nach ihm benannte Weltwunder er-
richten ließ. Auch der französische
Staatspräsident François Mitterrand
rief das Projekt „Grand-Louvre“ ins Le-
ben und setzte sich ein Denkmal mit
dessen gläserner Pyramide. Der ehema-
lige Kölner Oberbürgermeister Fritz
Schramma nun wollte gleichziehen
und lancierte diese Woche aus der Tie-
fe des Sommerlochs die Idee eines Ger-
hard-Richter-Museums für die Stadt am
Rhein, in welcher der Künstler seit lan-
gem sein Atelier hat. Der Vorstoß über-
raschte die Kunstwelt schon deshalb,
weil das künftige Richter-Mausoleum
so leicht mit Bildern gar nicht zu bestü-
cken und zu füllen wäre, ist doch fast
der gesamte Nachlass des Künstlers be-
reits seiner Geburtsstätte Dresden ver-
sprochen und sind neu anzukaufende
Werke des Siebenundachtzigjährigen
bekanntlich sehr teuer. Zudem sind mit
dem Anbau des Wallraf-Richartz-Muse-
ums, dem Jüdischen Museum und der
Mikwe, dem Neubau des Stadtmuse-
ums und der neuen „Historischen Mit-
te“ Kölns viele kostenintensive Groß-
projekte übers Planungsstadium noch
nicht hinaus, Opern- und Schauspiel-
haus befinden sich weiter bis mindes-
tens 2023 in der Sanierung, von der
mühseligen Rekonstruktion des versun-
kenen Stadtarchivs ganz zu schweigen.
Richter selbst, mit öffentlichen Äuße-
rungen sonst sehr zurückhaltend, erteil-
te des Ex-Bürgermeisters Hall-of-
Fame-Plänen für ihn dann auch umge-
hend eine definitive Abfuhr. Mit der
schönen Metapher, er sei in wichtigen
Museen auf der ganzen Welt vertreten
und spiele gern im Orchester der
Kunst, den Soloauftritt durch ein Ein-
zelmuseum brauche er hingegen nicht,
schien der vermeintliche Sommerloch-
füller vom Tisch. Richters Worte indes
waren noch nicht vollständig verklun-
gen, da setzte Schramma nach, indem
er über den Künstler räsonierte: „Das
passt zu seinem Naturell, das hat er üb-
rigens auch schon mal so in der Form
geäußert, aber immer mit einem klei-
nen Smiley. Das ist jetzt nicht eine
Form von Absage.“ Hat Schramma da
die lokale Form einer rheinischen Lito-
tes hineingehört, eine doppelte Vernei-
nung, die aus einer zweifachen Absage


  • nein danke, ich bin lieber mit vielen
    anderen Künstlern zusammen in Mu-
    seen vertreten wie im Fall Dresden und
    nein, auf keinen Fall ein eigenes Muse-
    um nur für mich – ein „Ja doch, ich will
    mein Museum!“ zaubert? Um die Ange-
    legenheit noch etwas komplizierter zu
    gestalten, hat nun auch Kulturstaatsmi-
    nisterin Grütters ihren baldigen Be-
    such bei Richter angekündigt. Was sie
    von ihm will? Unter anderem anfragen,
    ob nicht vielleicht einige Richter-Bilder
    für das Projekt eines „Museums der Mo-
    derne“ in Berlin abfallen könnten. S.T.


Der Boxer


Kevin Spacey liest in Rom


ein Gedicht vor


Die Künstlerin im Februar 2019 Foto laif

Mit dem


Hammer


Zugeschlagen: Neo Rauchs


Skandalbild „Der Anbräuner“


MehrRichter!


Nach fünfundvierzig Jahren kehrt


Marina Abramovićim September in ihre


Heimatstadt Belgrad zurück.


Sie geht damit ein hohes Risiko ein.


Marina Abramović: Die Performance „Balkan Baroque“ bei der Biennale in Venedig am 12. Juni 1997 Foto Frank Röth/Marina Abramović/VG Bil-Kunst, Bonn 2019
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