aus: new york times magazine; © 2018 The New york Times
64 reader's digesT 08.2019Riis fühlte sich in seine Kindheit auf
der dänischen Insel Lolland versetzt.
Wenn man im Sommer mit dem Rad
unterwegs war, fuhr man durch In
sektenwolken. Es war unvermeidlich,
dass man dabei auch welche ver
schluckte. Wenn er mit seinen Eltern
im Auto mitfuhr, war die Windschutz
scheibe immer mit toten Insekten ver
schmiert. Aber Riis konnte sich nicht
daran erinnern, wann er selbst das
letzte Mal Insekten von seiner Scheibe
kratzen musste.
Ich traf den schlaksigen Gymnasial
lehrer für Naturwissenschaften und
Mathematik an einem heißen Tag
im Juni 2018. Er holte ein Insekten
netz aus der Garage und befestigte
es auf dem Dach seines Autos. Das
Netz wurde vorn von einer Zeltstange
hochgehalten, verjüngte sich nach
hinten und endete in einem abnehm
baren Beutel. „Das ist nicht 100 Pro
zent legal“, sagte Riis, „aber es dient
der Wissenschaft.“
Insekten sind lebensnotwendige
Bestäuber in Ökosystemen und un
verzichtbare Glieder der Nahrungs
kette. Riis war nicht der Einzige, der
ihr Verschwinden bemerkt hatte. In
den USA haben Wissenschaftler be
obachtet, dass sich die Populationdes Monarchfalters in den letz
ten 20 Jahren um 90 Prozent redu
ziert hat. In der gleichen Zeit nahm
der Bestand der Hummel Bombus
affinis um 87 Prozent ab.
Bei anderen, weniger gut untersuch
ten Insektenarten, so erzählte mir ein
Schmetterlingsforscher, „können wir
nur spekulieren und sagen: ‚Sie sind
einfach nicht mehr da!‘“ Inzwischen
gibt es dafür einen eigenen Begriff:
WindschutzscheibenPhänomen.
Um zu überprüfen, was zuerst nur
eine Vermutung war, fuhren Riis und
199 andere Dänen mit ihren Fahr
zeugen kleinere Straßen entlang. Das
war Teil einer Studie des Staatlichen
Naturkundemuseums Dänemarks,
die gemeinsam von der Universität
Kopenhagen, der Universität Aarhus
und der North Carolina State Univer
sity, USA, durchgeführt wurde.
Als die Forscher 2017 mit der Pla
nung der Studie begannen, waren sie
nicht sicher, ob jemand teilnehmen
würde. Aber inzwischen hatte eine Stu
die der Deutschen Entomologischen
Gesellschaft über das Insekten sterben
Aufsehen erregt. Sie zeigte, dass – ge
messen am Gewicht – die Menge der
fliegenden Insekten in deutschen
Natur schutzgebieten innerhalb vonS
une Boye Riis radelte mit seinem jüngsten Sohn durch
die Felder und Wälder in der Nähe ihrer Wohnung nörd
lich von Kopenhagen, als ihm auffiel, dass etwas fehlte.
Es war Sommer, er war im Grünen und fuhr schnell,
trotzdem bekam er keine Insekten in den Mund.