Geo Epoche - 08.2019

(lu) #1
-- 1700 --
Die deutschen Lande

EIN VOLK, VIELE STAATEN


Deutschland besteht im Zeitalter des Barock aus Hunderten weitgehend autonomen Einzelstaaten. Die

meisten gehören zum vom Kaiser geführten Heiligen Römischen Reich, andere aber nicht. Viele Landes­


herren streben danach, ihre Macht noch auszubauen - und zu absolutistischen Fürsten zu werden

W


as macht um 1700
Deutschland aus? Es
ist kompliziert. Denn
ein Nationalstaat exis­
tiert nicht. Es gibt das Heilige Römische
Reich, das den Zusatz "deutscher Na­
tion" trägt, aber in Wirklichkeit ein
Konglomerat zahlloser Te rritorien ist,
von denen viele eine nichtdeutsehe Be­
völkerung haben. So leben in zum Reich
gehörenden Ländern wie Böhmen vor
allem Ts chechen, in den balkanischen
Gebieten vorwiegend Slowenen.
Und es gibt auch Regionen, die
überwiegend von Deutschen besiedelt
sind, aber nicht zum Heiligen Römi­
schen Reich gehören: Preußen etwa,
das Land an der Ostsee, im Besitz der
Hohenzollerndynastie, aufgrund einer
höchst verwickelten Vo rgeschichte aber
nicht Te il des Reichs. Oder der Süden
Schleswigs, das dem König von Däne­
mark untersteht, genauso wie Holstein


  • das aber wiederum Te il des Reichs ist.
    Es ist kompliziert.
    "Deutschland" im Singular also
    existiert um 1700 nicht- sondern es gibt
    nur die "deutschen Lande" im Plural:
    jene Gebiete, deren rund 15 Millionen
    Bewolmer Deutsch sprechen. Dennoch:
    Die meisten Deutschen leben in dieser
    Zeit im Heiligen Römischen Reich -
    einem aus dem Mittelalter stammenden
    Gebilde ohne geschlossenes Te rritorium,
    fe ste Grenzen, einheitliches Recht.
    Es ist ein politischer Flickentep­
    pich, über den fo rmal zwar der römisch­
    deutsche Kaiser gebietet, dessen Einzel-


TEXT: Frank Otto KARTE: Stt:fonie Peters

teile tatsächlich aber von ihren jeweiligen
Herren regiert werden. Unter ihnen sind
Mächtige wie der Kurfürst von Sachsen


  • aber auch Ritter, die nur über einige
    Bauernhöfe befehligen. Dazu kommen
    noch einmal rund 50 Reichsstädte.
    Sie alle sind innenpolitisch fast
    vollständig und in ihrer Außenpolitik
    weitgehend autonom, dürfen Bündnisse
    mit fremden Herrschern schließen.
    Denn anders als etwa den Königen
    Frankreichs oder Englands ist es den
    Kaisern als Oberhäuptern des Reichs
    über Jahrhunderte nicht gelungen, die
    wichtigsten Herrschaftsrechte der loka­
    len Adeligen auf sich zu vereinen und
    einen Zentralstaat zu begründen.
    Vo r allem die Kurfürsten, die den
    römisch-deutschen König wählen und
    damit zum Kaiser bestimmen, fo rderten
    im Lauf der Zeit als Preis für ihre Gunst
    immer größere Eigenständigkeit - und
    wurden so de facto zu souveränen Herr­
    schern. (Um der Furcht vor einer Hege­
    monie ihrer Dynastie entgegenzuwir­
    ken, gestehen die Habsburger-Kaiser
    diese faktische Autonomie später auch
    den kleineren Fürstentümern zu.)
    Während des Dreißigjährigen Krie­
    ges drohte das Heilige Römische Reich
    überdies an den tiefen Gräben zwischen
    den Konfessionen zu zerbrechen.
    Nur mühsam konnten sich die
    Kontrahenten 1648 auf einen Frieden
    einigen - doch wirkliche Ruhe fanden
    die deutschen Lande auch in den Jahr­
    zehnten danach nicht. Wieder und wie­
    der wurden sie zum Kampfschauplatz


20 I GEO EPOCHE Deutschland um 1700


oder Durchzugsgebiet fremder Truppen,
beispielsweise in den Feldzügen um die
Vo rherrschaft im Ostseeraum.
Im Südosten des Reichs belagerten
die Osmanen 1683 Wien und konnten
nur unter größten Opfern zurückge­
schlagen werden. Den Südwesten trafen
die Angriffe des französischen Königs
Ludwig XIV., dessen Tr uppen ab 1688
systematisch die Pfalz verwüsteten und
unter anderem Heidelberg, Mannheim,
Wo rms, Speyer niederbrannten.
Und doch wird Frankreichs Mon­
arch um 1700 für die deutschen Fürsten
zum Vo rbild: als absolutistischer Herr­
scher, der den Einfluss des Hochadels
zurückdrängt und auf diese We ise immer
größere Befehlsgewalt in seiner Person
bündelt. Und als Bauherr, dessen Macht
sich unter anderem in der barocken
Pracht seines Ve rsailler Hofes manifes­
tiert. Diesem Prunk (wie auch Ludwigs
Machtanspruch) eifern die deutschen
Aristokraten nach, errichten wie er pom­
pöse Schlösser - und betreiben einen
derartigen Aufwand, dass mancher Herr
eines Kleinststaates bald bankrott ist.
Begehrtestes Symbol absolutisti­
scher Macht indessen ist die Königs­
krone. We il aber der Kaiser im Reich
eine solche Rangerhöhung nicht zulas­
sen würde, versuchen ambitionierte
deutsche Landesherren, etwa der säch­
sische Kurfürst, sich einen ausländischen
Thron zu erkaufen (in diesem Fall den
polnischen)- und machen die deutsche
Staatenlandschaft um 1700 damit noch
ein wenig komplizierter. 0
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