Neue Zürcher Zeitung - 05.08.2019

(Dana P.) #1

10 SCHWEIZ Montag, 5. August 2019


BLICK ZURÜCK


Die heroischen Eidgenossen als «Jammergestalten»


1935 entzündet sich am Wandbild für das Bundesbriefarchiv eine hitzige Kontroverse


Der Urner HeinrichDanioth


gewinnt denWettbewerb für das


Fresko an der neuen Gedenkstätte


in Schwyz.Viele Konservative


in der Innerschweiz empören sich


jedoch über die «bolschewistische


Kunst» und lassen sich auch


vom Bundesrat nicht besänftigen.


JÜRG LEHMANN


Nach jahrelangem Hin und Her wird in
Schwyz eine Gedenkstätte für die Bun-
desbriefe von 1291 bis1513 errichtet.
An der Stirnseite des neuen Bundes-
briefarchivs ist einFresko geplant, das
auf die Zeugnisse der alten Eidgenos-
senschaft Bezug nimmt. Der Schwyzer
Regierungsratsch reibtdafürimSommer
1935 einenWettbewerb aus. Teilnehmen
dürfenKünstler undKünstlerinnen aus
der Innerschweiz.Aus den 29 eingereich-
ten Arbeiten kürt eine fünfköpfigeJury
am1. Oktober1935denEntwurf«Funda-
mentum» des 39-jährigen Urners Hein-
rich Danioth zum Siegerprojekt.
Als die Wettbewerbsarbeiten an-
schliessend währendzehnTagen im
neu erstellten Gebäude zu besichtigen
sind, ist das Interesse enorm – anschei-
nend aber auch der Schock inTeilen des
Publikums. Danioths Bundesschwur ent-
spricht nicht tradierten kraftstrotzend-
mythischenDarstellungen. Sein Entwurf
ist eine geometrisch-abstrakteKomposi-
tion mit schmalgliedrigenFiguren. Die
drei schwörendenLandammänner ste-
hen in der Mitte; sie werden umschlos-
sen vomLandvolkund vonBannerträ-
gern.Danioth betont damit die Gemein-
schaft imFreiheitsschwur.


Regierung regtAnpassungen an


In der Luzerner und der überregiona-
len Presse wird«Fundamentum» wohl-
wollendkommentiert. Die NZZ hofft,
«dassDanioth auf Grund seines guten
Entwurfs dieAusführung zuerkannt er-
hält».IndenlokalenMedienistdieTona-
lität aber ganz anders. Der «Bote der Ur-
schweiz» kritisiert,DaniothsVorschlag
werde «vonunseremVolk niemals ver-
standen».Die«SchwyzerZeitung»pflich-
tet bei:«Der EntwurfDanioths ist in der
vorliegendenForm nicht ausführbar.»
Am 8. Oktober intervenieren «als
baldige Akademiker undFührer des
Volkes» siebzig Studenten desKolle-
giums Maria Hilf in Schwyz bei Bundes-
rat Etter, dem Schirmherrn des Bundes-


archivs. «Ausgerechnet das absurdeste
Bild wurde mit dem erstenRang ausge-
zeichnet», schreiben sie. Es gehe nicht
an, demVolk eineKunstauffassungauf-
zud rängen, welche die «Geistesverwir-
rung»der Zeit bildlich darstelle. In sei-
ner Antwort lobt Etter das Interesse
der Jungen an den öffentlichenFragen,
verteidigt aberDaniothsVorschlag «als
künstlerisch stärkste und wertvollste
Leistung allerWettbewerbsarbeiten».
DerWiderstand beunruhigtDanioth.
Er teiltBaudirektor undJurypräsident

August Bettschart mit, sein Möglichstes
zu tun, was zur«Vermeidung einerall-
fälli gen unsachlichenPolemik betragen
kann». Bettschart führt die Kritik auf
Danioths Tätigkeit als Karikaturist des
«Nebelspalters» zurück und schlägt eine
«etwasrealistischere Zeichnung» vor.
Inzwischen nimmt diePolemik in den
lokalen ZeitungenFahrt auf. Redak-
tionell halten sie sich zwar zurück, aber
den meist anonymen Zuschriftenräu-
men die Blätter viel Platz ein.Danioths
Wandbild sei voller «Fratzen», «Quad-

ratschädel» und «Jammergestalten», liest
man da. DieRegierung müsse den Ent-
wurf fallenlassen.
Die Korrespondenz von Danioth
verweist ihrerseits auf ein Netzwerk,
das sich für denKünstler einsetzen will.
Josef Beeler, der Architekt des Bundes-
briefarchivs, verfassteine fünfseitige
Stellungnahme an den SchwyzerRegie-
rungsrat, andere wollen an der Seite
Danioths die «hypersensible Lokal-
presse» und Zeitungen quer durch die
Schweiz bearbeiten. Auch Bundes-
rat Etter hält mitDaniothVerbindung.
Der Kunsthistoriker Linus Birchler fol-
gert auf einerPostkarte an denKünstler
schon bald: «Ich glaube, die Schlacht ist
zur Hauptsache gewonnen.» Nichts ist
zu diesem Zeitpunkt ein grösserer Irr-
tum als dieser Satz.
Vor allem die katholisch-konserva-
tive «Schwyzer Zeitung» wird zur Platt-
form für Empörte. Deren Attacken gip-
feln am18.Oktober in der Quintessenz:
«Das ganzeLand Schwyz soll sich eine
solcheAusschmückung des Bundes-
briefarchivs verbieten und sagen:Wir
wollenkeine bolschewistischeKunst.»
UnsereVorväter seien Ehrenmänner ge-
wesen,gläubige Christen voller Gerech-
tigkeit und Güte, «nicht Lenin,Trotzki,
Stalin oderVoltaire».
Die SchwyzerRegierung wird un-
sicher und bittet das Departementvon
Philipp Etterum ein Gutachten. Ohne-
hin soll Bundesbern den definitiven
Entscheid zumWandbild fällen. Inzwi-
schen trommeltdas in Goldau erschei-
nende Blatt«Volksfront» über mehrere
Wochen in diffamierendenArtikeln und
in Nazi-Diktion gegen die «Irrenhaus-
kuns t» und die«Cli que» , die es wage,
«unter Zuhilfenahme öffentlicher Gel-
der demVolke einen Schundhelgen dau-
ernd vor dieAugen zu stellen und zu
behaupten, es handle sich bei ihm um
öffentlicheKunst».
Das Gutachten verfasst schliesslich
Bundesrat Philipp Etter höchstpersön-
lich. Er zeigtVerständnis für die harte
Kritik in der politisch aufgeladenen
Zeit, denVorwurf des «Kulturbolsche-
wismus» weist er indes zurück.Dani-
oths Entwurf sei beseelt von «Ord-
nung, Freiheit und Einigkeit», schreibt
der Innenminister. In der Idee entdecke
er «nichts Destruktives», wohl aber eine
«gesundekonstruktive und aufbauende
Kraft». Da aus einer Skizze nicht auf
das fertigeWandbild geschlossen wer-
den könne, schlägt Etter vor, beim
Künstler einen grösseren Entwurf an-
zuregen, in dem die Einzelheiten her-

ausgearbeitet werdenkönnten. So ge-
schieht es. Das Gutachten oderTeile
davon werden imJanuar1936 in zahl-
reichen Zeitungen publiziert.

EinPriester als Aufwiegler


EttersAusführungen entspannen die Si-
tuation, aberRuhe kehrt nicht ein.Jetzt
ist die «InnerschweizerBauernzeitung»
aus Immensee am Zug. In einer mehr-
teiligen Serie polemisiert das Blatt auch
gegen den überarbeiteten Entwurf des
Wandbilds. Sie erkennt darauf ein «kon-
fusesDurcheinander vonKostümen»,
die mit der Epoche des Bundesbriefes
nichts zu tun hätten. Als Drahtzieher
der hartnäckigen Opposition macht der
Historiker Beat Stutzer in seiner Lizen-
ziatsarbeit den Schwyzer Priester und
ArchäologenPaul Styger aus, der als
Lehrer amKollegium Maria Hilf auch
seine Studenten angestachelt haben
dürfte. Styger sehe sich für sämtliche
Kunstfragen zuständig und verdamme
alles Neue.
Trotzdem geht es nun voran. Am
16.Mai 1936 schliesst die Schwyzer
Regierung mitDanioth denWerkver-
trag ab; der Bund und die Gleyre-Stif-
tung beteiligen sich an denAusfüh-
rungskosten.Im Juni beginnenDanioth
und seine Gehilfen mit der Arbeit. Die
Kollegiumsstudenten veranstalten Pro-
testzüge vor dem Malergerüst,an d em
Danioth in Anspielung aufPaul Styger
ein Plakat mit dem ironischenVierzeiler
aufhängt: «Ein Gruss den Sapperlenten
/Die hinterden Studenten / Sich hel-
denhaft verstecken / Und liebeFreund-
schaft wecken!»
Am 25.Juli 1936 ist dasFresko fertig.
Die «Schwyzer Zeitung» stellt zufrieden
fest, Danioth habe der Kritik «weitge-
hend und in befriedigender ArtRech-
nung getragen». ZumAusmass derKon-
zessionen, die Danioth gemacht hat, gibt
es allerdings unterschiedliche Meinun-
gen.ÜberdieEinweihungdesArchivsam
2.August berichtet die Schweizer Presse
ausgiebig. Danioth erhält in derFolge
weitere bedeutendeAufträge fürWand-
bilder. Das Bundesbriefarchiv heisst seit
1992 Bundesbriefmuseum.

BLICK ZURÜCK
Jede Woche beleuchtet
die NZZ ein historisches Ereignis.
Die Beiträge der Serie finden Sie auf:

nzz.ch/schweiz

Erst die Einweihung des Archivs1936 beendet die Diskussion um dasFresko. SNB

NACHRUF


Sie lebte vor, was sie an Überzeugungen vertrat


Die frühere Bundeskanzlerin Annemarie Huber-Hotz war eine Staatsbürgerin i m besten Wortsinn.Von Kaspar Villiger


Annemarie Huber-Hotz
hatte während meiner
Ständerats- und Bun-
desratszeit drei für unser
Land wichtigeFunktio-
nen: Zunächst war sie
Sekretärin des Stände-
rates, dann General-
sekretärin der Bundesversammlung
und schliesslich Bundeskanzlerin. Da-
bei habe ich sie immer als äusserstkom-
petent, nur der Sache verpflichtet, von
hohem moralischem Anspruch geleitet
und hochanständig erlebt.Auch schwie-
rige Sachauseinandersetzungenkonn-
ten mit ihr inkonstruktivem Geist be-
reinigt werden. Es waren drei Aspekte
ihrer vielschichtigen Persönlichkeit,
die mich besonders beeindruckten: der
Mensch, die Staatsbürgerin und die
Staatsdienerin.
Sie vereinte Intelligenz, analytische
Stärke, Führungskraft und Selbstsicher-
heit mit Zurückhaltung und Beschei-
denheit.Nie erlagsie derVersuchung
zur Selbstdarstellung, nie stellte sie


sich in denVordergrund, und trotz kla-
ren politischen Überzeugungen beher-
zigte sie dieForderung des Philosophen
Hans-Georg Gadamer, wonach in der
Auseinandersetzung mitAndersdenken-
den immer zuerst der Punkt von deren
Wahrheit zu suchen sei. Sie wusste,
dass in der Demokratie erst derkon-
struktive Dialog zu tragfähigen Lösun-
gen führt, und deshalbkonnte sie vor
allem auch zuhören. Sie lebte vor, was
sie an Überzeugungen vertrat, etwa in-
dem sie nicht nur forderte, dass in unse-
rer Wohlstandsgesellschaft dieWürde
der Schwächsten undVerletzlichsten zu
wahren sei,sondern indem sie sich durch
sozialeFreiwilligenarbeit und durch die
Übernahme der Präsidien der Schwei-
zerischen Gemeinnützigen Gesellschaft
und des SchweizerischenRoten Kreu-
zes aktivfür dieses Ziel einsetzte. Reden
und Handeln stimmten bei ihr überein.
Annemarie Huber-Hotz war aber
auch eine Staatsbürgerin im bes-
ten Sinne desWortes. Sie wusste, dass
unsere vielfältige und dadurch verletz-

liche Nation mit ihren unterschiedlichen
Kulturen, Sprachen, Überzeugungen
und Konfessionen nur so lange erfolg-
reich überleben kann, als sich Bürge-
rinnen und Bürgerkonstruktiv-kritisch
um das direktdemokratische Gemein-
wesen kümmern.Daraus erwuchs ihre
starke Motivation, ihr Berufsleben der
öffentlichen Sache zu widmen. So erfüll-
ten sie denn auch neuere Entwicklungen
wie etwa die wachsendePolarisierung,
die Abnahme derKompromissbereit-
schaft, die Übernutzung derVolksrechte
als PR-Instrument oder die Erosion des
Konkordanzgedankens mit Sorge.
Zur Charakterisierung ihrer Tätig-
keit für unserLand benütze ich bewusst
das altmodischeWort Staatsdienerin.
Annemarie Huber-Hotz sah ihreTätig-
keit nicht als Chance zur Selbstverwirk-
lichung oder Eigenprofilierung, sondern
als Dienst für das Gemeinwesen. Ob-
wohl sie als überzeugte Liberale mit
ausgeprägtem sozialem Verantwor-
tungsbewusstsein durchaus starke poli-
tische Überzeugungen hatte, hielt sie

sichkonsequent aus den politischen
Geschäften heraus. Sie war sich aber
der Bedeutung der politischen Institu-
tionen für den demokratischenRechts-
staat bewusst und kümmerte sich neben
der kompetentenFührung der Bundes-
kanzlei und dem Management der Bun-
desratsgeschäfte mit Hingabe um die
Qualität der Gesetzgebung, den korrek-
ten Ablauf derrechtsstaatlichenVer-
fahren und die Organisation derVer-
waltung. Sie hat damit Akzente gesetzt
und sich bleibendeVerdienste erwor-
ben, aber auch parteiübergreifendes
Vertrauen und parteiübergreifenden
Respekt erarbeitet.
Weil sie auch nach der Niederlegung
des Präsidiums des Schweizerischen
Roten Kreuzes nochvolle r Energie und
Ideen war, hätte sie unserem Gemein-
wesen nochviel geben wollen und geben
können.Ihr völlig unerwarteter und viel
zu früherTod am vergangenen Donners-
tag hat diese Pläne zunichte gemacht.
Sie wird nicht nur ihrerFamilie fehlen,
sondern uns allen.

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