Neue Zürcher Zeitung - 05.08.2019

(Dana P.) #1
Montag, 5. August 2019 WIRTSCHAFT 17

Eine Revolution der kleinen Schritte:


Corporate America stellt sich neu auf SEITE 18, 19


Sparen beim Haushaltsbudget: Wo bei fixen Kostenposten


anzusetzen ist GELD & FINANZEN, SEITE 21


DavidVélez
BLOOMBERG Gründer der Nubank

Die Kunststoffindustrie muss umdenken


Verpackung en aus Plastik haben zunehmend einen schlechten Ruf – dies fordert Firmen wie Coca-Cola und BASF heraus


DOMINIK FELDGES


Als Beobachter nimmt man es erstaunt
zur Kenntnis, doch die Szene ist wohl
gar nicht so untypisch: Zwei Mädchen
sammeln an einem Strand in Italien im
Badeanzug herumliegende Abfälle wie
PET-Flaschen und Zigarettenkippen ein.
Ihnen machen es diesen Sommer welt-
weitTausende nach, wie sich aus unzäh-
ligen entsprechendenPosts in sozialen
Netzwerken schliessen lässt.
Das wachsende Bewusstsein über
achtlos liegengelassene, weggewor-
fene oder im grossen Stil illegal ent-
sorgte Abfälle bringt dieVerpackungs-
industrie und ihre Abnehmer imKon-
sumgütersektor in Bedrängnis. «Dies ist
ein grossesThema»,sagt MartinKathri-
ner, der bei der SchweizerTochtergesell-
schaft des weltgrössten Abfüllbetriebs
des Coca-Cola-Konzerns, der Coca-Cola
Hellenic Bottling Company (HBC), für
die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist.


Recyclingim Vormarsch


DieFirma hat unlängst damit begonnen,
das zumPortefeuille von Coca-Cola ge-
hörende Mineralwasser der MarkeVal-
ser in Flaschenabzufüllen, die zu 100%
aus wiederverwertetem PET bestehen.
Damit sei man ein Pionier unter allen
Schweizer Mineralwasserquellen, sagt
das Unternehmen.
Laut Coca-Cola HBC bestehen Ge-
tränkeflaschen aus PET in der Schweiz
derzeit imDurchschnitt erst zu 35% aus
Recycling-Material. Und vieleKonkur-
renten im In- undAusland würden wei-
terhinausschliesslichnoch nie verwen-
deten PET für die Produktion ihrer Ge-
binde verwenden.
Damit dürfte jedoch zumindest in
Europa in absehbarer Zukunft Schluss
sein. Im vergangenen März beschloss
das EU-Parlament mit überwältigender
Mehrheit, dass bis in zehnJahren 90%
aller Plastikflaschen demRecycling zu-
geführt werden müssen.Das istein gros-
ser Schritt für eine Branche, die sich in
der Vergangenheit nicht durch ein be-


sonderes Sensorium für Umweltfragen
ausgezeichnet hat. Lieber expandierten
Kunststoffhersteller in denFernen Os-
ten,um die dort– angesichts wachsen-
der Mittelschichten – stark steigende
Nachfrage nach Plastikverpackungen
zu bedienen.Auch waren viele Anbie-
ter darauf bedacht, Produktionskapazi-
täten in der Nähe günstigerRohstoff-
quellen aufzubauen.Davon profitier-
ten in den vergangenenJahren – dank
reichlich vorhandenem Erdöl und Erd-
gas – besonders der Nahe Osten sowie
Teile der USA.
In der Zwischenzeit zeichnen sich
Überkapazitäten in der Branche ab. Ein

Indiz dafür ist der Preiszerfall beiPoly-
ethylenen. Die Notierungen für diesen
Rohstoff, der in derKunststoffherstel-
lung von grosser Bedeutung ist, haben
seit Anfang 2018 um ungefähr ein Drit-
tel nachgegeben. Sollte die Branche
weltweit gezwungen sein, nachhaltiger
zu werden und verstärkt wiederverwer-
tetes Material zu verwenden, dürfte sich
das Problem der Überkapazitäten noch
verschärfen. Darunter würdengrosse
Chemiekonzerne wieBASF und Dow-
Dupont leiden, für die das Plastikge-
schäft ein wichtiges Standbein ist. Doch
auch Erdölkonzerne wie der US-Riese
Exxon Mobil und der saudiarabische

Koloss Aramco, die ihre Wertschöp-
fungskette in RichtungKunststoffe ver-
längert haben, drohen auf derVerlierer-
liste zu landen.

Andere Maschinen gefragt


Dass inFragen derVerpackung ein Um-
denken stattfindet, spüren nicht nur die
Kunststoffproduzenten sowie die mit
ihnenkooperierenden Hersteller von
Gebinden für die Nahrungsmittel-,
die Medizintechnik- oder dieKosme-
tikindustrie.Auch der Maschinenbau-
sektor ist betroff en, wie die jüngsten
Äusserungen prominenterVertreter in

der Schweizverdeutlichen. Bei Bucher
Industries stellt man fest, dass die Nach-
frage nach Glasbehältern stark zuge-
nommen hat. So sei beispielsweise Coca-
Cola dazu übergegangen, Getränke
verstärkt in Glas- statt inKunststoff-
flaschen abzufüllen, erklärte derKon-
zernchefJacques Sanche vergangene
Woche an einerTelefonkonferenz zum
Halbjahresabschluss.
Für Bucher ist der Boom bei Glas-
flascheneine glücklicheFügung, zählt
die Gruppe mit ihrer Tochtergesell-
schaft EmhartGlass doch zu den Markt-
führern bezüglich Maschinen für Glas-
behälter. Emhart Glass steigerte im ers-
ten Semester 2019 den Umsatz um19%,
der Auftragseingang erhöhte sich sogar
um fast 25%.

LangeEntscheidungsfindung


Schwieriger ist dieLage für denWest-
schweizer Maschinenhersteller Bobst.
Die Gruppe,deren Maschinen besonders
für die Produktion vonVerpackungen
ausWellpappeund Karton eingesetzt
werden, hat in den letztenJahren vom
boomenden Online-Versandhandel pro-
fitiert.Doch jüngst ist die Nachfrage nach
verschiedenen Produkten derFirma ins
Stocken geraten.Das Management be-
gründet dies ausser mit der allgemeinen
Konjunkturschwäche mit dem «zuneh-
menden Bewusstsein vonVerbrauchern
und Herstellern von Markenartikeln,
dassnachhaltigereVerpackungslösun-
gen gesucht werden müssten».
Laut demFinanzchef AttilioTissi
haben sich einige grosse Markenartikel-
hersteller das Ziel gesetzt, bis 2025 nur
noch wiederverwertetes Plastik fürVer-
packungen zu verwenden.Andere seien
bestrebt, den Anteil von nicht wieder-
verwerteten Materialien zureduzieren,
wobei noch offen sei, um wie viel. Bobst
rechnet mit einer ausgedehnten Phase
derEntscheidungsfindung.Solangenicht
klar sei, wohin dieReise gehe,würden
Investitionen in neue Maschinen für die
Verpackungsherstellung wohl nur zu-
rückhaltend getätigt.

Getränkeflaschen aus PETbestehen in der Schweiz heute zu 35 Prozent ausRecycling-Material. STEFAN WERMUTH / BLOOMBERG

WIRTSCHAFT IM GESPRÄCH


Ein revolutionärer Finanzdienstleister


David Vélez hat aus der brasilianischen Nubank das wertvollste Finanz-Startu p weltweit gemacht – und er will noch höher hinaus


ALEXANDER BUSCH,SÃO PAULO


Als David Vélez zum fünften Mal inner-
halb eines halbenJahres wegen einer
Kontoeröffnung beim Metalldetektor
einer brasilianischenBank hängenblieb
und vom bewaffneten Sicherheitsperso-
nal «wie ein Krimineller» behandelt
wurde, da hatte er die zündende Idee
für ein Startup, nach der er seitJahren
gesucht hatte. Er wollte den Brasilia-
nern einfache, preiswerte, tran sparente
Finanzdienstleistungen anbieten – nicht
den überteuerten, schlechten Service,
mit dem die grossenBanken in Brasi-
lien ihreKunden abspeisen undrekord-
hohe Margen einstreichen.
Zusammen mit zweiPartnern grün-
deteVélez 2013 in SãoPaulo eineFin-
tech-Firma namens Nubank, symbol-
trächtig in der Strasse Califórnia im
Stadtteil Brooklin. Ein Graffito imFoyer
der Firma zeigt fünf graue Dinosaurier,
die in einer lilaWolke zu ersticken dro-
hen. Grau sind die etabliertenFinanz-
institute,lila ist dieFarbe von Nubank,
deren Geschäftsidee eingeschlagen hat
wie eine Bombe.Aber dieserVergleich
verbietet sich angesichts der Herkunft
des 37-jährigenFirmengründers.


Vélez stammt aus Medellín inKolum-
bien;die Stadt war in seiner Kindheit in
der Gewalt der Drogenmafias. Mehrere
seinerFreundewurdenentführt.Erselbst
bekam zwei Bombenanschläge hautnah
mit, bevor seineFamilie wegen der Ge-
walt nach Costa Rica zog. Da war er acht.
Vélez absolvierte ein Ingenieurstudium
an der Stanford-Universität in den USA,
danach baute er in Brasilien eine Nieder-
lassung des Private-Equity-Fonds Gene-
ralAtlantic auf. Später suchte er in Brasi-
lien Startups für die Risikokapitalgesell-
schaft Sequoia aus Kalifornien.

Alles läuft übersSmartphone


Auch nach elfJahren in Brasilien spricht
Vélez, der ein wenig an den jungen
George Clooney erinnert, nochPortu-
ñol, eine Mischung aus Spanisch und
Portugiesisch. Und alsAusländer, als
der er leicht zu erkennen sei, erfahre er
die Schwierigkeiten im Alltag krasser
als Einheimische. Zum Beispiel bei der
Kontoeröffnung.
Ähnlich toxisch wie im Graffito muss
denetabliertenBanken in Brasilien der
rasanteAufstieg von Nubank vorkom-
men.Das Startup bietet seit 2014 zu-

sammen mit Mastercard einekosten-
loseKreditkarte an. DieKontoeröff-
nung undalleKommunikation werden
über Smartphones abgewickelt. Nubank
finanziert sich vor allem mit den Gebüh-
ren, welche das Unternehmen von den
kommerziellen Nutzern erhebt.
2017 eröffnete die Fintech-Firma
die erstenKontokorrent- undFestgeld-
konten. Zwölf MillionenKunden hat sie
heute.Vor zehnTagen hat sie 400Mio.$
von Investoren unter derFührung des
kalifornischenFonds TCV aufgenom-
men. Nubank ist heuteschätzungs-
weise 10 Mrd. $ wert und damit ver-
mutlich das wertvollsteFintech-Star-
tup weltweit. Dieses geht nun auch in
Argentinien und Mexiko an den Start.
Beides sind Märkte mit hoherBanken-

konzentration und vielen Nutzern von
Smartphones ohne Bankkonto. Der
Kundenstamm wachse derzeit monat-
lich um 10%,sagtVélez. Mit dem Start
in Mexiko und Argentinien werde das
Wachstumstempo nochsteigen.
Vélez hat in Medellín und später in
Costa Rica deutsche Schulen besucht
und spricht perfekt Deutsch. Er istFan
deutscherKultur, Literatur, Philosophie.
In Köln hat er einJahr Mathematik stu-
diert.Kein Zufall, dass er seine erste
Auslandsniederlassung von Nubank
Ende 2017 in Berlin gegründet hat. Dort
lässt Nubank die Technologie weiterent-
wickeln. Berlin sei attraktiv für Informa-
tiker und Programmierer aus der gan-
zenWelt, vor allem aus Osteuropa,die
er nicht nach Brasilien bringe.
Viele hätten ihn davor gewarnt, in
Lateinamerika den grossen BankenKon-
kurrenzzumachen:EsseienheiligeKühe,
kontrolliertvon mächtigenFamilien. Die
Regulierer würden nicht mitmachen.«Je
schwieriger der Markteintritt erscheint,
umso besser für uns», sagtVélez. Die
Bankenkonkurrenz glaube, dass Nubank
nu reine App anbiete. «Wenn sie in drei,
vierJahren merken, dass wir eine neue
Kultur eingeführt haben, ist es für sie zu

spät.» EinKulturwandel mit150000Mit-
arbeitern sei unmöglich.

Ein Fanshop im Foyer


Die Kultur eines Startups entscheide sich
in den ersten drei Monaten mit zwölf
Mitarbeitern.«Sie muss stimmen, sonst
geht das schief», sagtVélez. Er wolle er-
reichen, dass die Brasilianer auch bei
anderen Dienstleistungen die Qualität
von Nubank verlangten,etwa beiVer-
sicherungen oderTelekom.Tatsächlich
ist es beeindruckend, wie unkompli-
ziert man alsKunde mit dem Unterneh-
men kommunizieren kann. Das führt zu
Kundenbindung: ImFoyer von Nubank
gibt es denn auch einenFanshop mit lila
Schirmmützen,T-Shirts und Brillen.
«Wir sind erst in der zweiten Minute
der ersten Spielzeit», sagtDavid Vélez.
Zwei Milliarden Menschen weltweit hät-
ten keinen Zugang zuFinanzdienstleis-
tungen,aber ein Smartphone. Er zeigt
auf einem Scrapboard, was seinePart-
ner und er sich beim erstenTreffen als
«Big HairyAudacious Goal», also als
gan z grosses Ziel, vorgenommen hat-
ten: «Der einflussreichsteFinanzdienst-
leister derWelt werden.»
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