WIRTSCHAFT Montag, 5. August 2019 Montag, 5. August 2019 WIRTSCHAFT
Corporate
America boxt
sich zurück
an die Spitze
Vor ze hn Jahren begannen sich Amerikas Konzerne
aufzurappeln aus der Rezession, die von der
Finanzkrise ausgelöst worden war. Es folgte eine
Dekade de r Umwälzungen, deren Auswirkun gen
weit über die USA hinaus zu spüren sind.
Von Christiane Hanna Henkel , New York
und Erdgas, Medizintechnik,Transport,
Beleuchtung undFinanzierung bleiben
nur noch die ersten drei übrig. Damit
geht eine 127-jährigeFirmengeschichte
zu Ende und mit ihr – wie auch die Zer-
schlagung vonKonzernen wie United
Technologies zeigt – die Zeit der Indus-
triekonglomerate.
Die Epoche der grossen US-Konglo-
merate hatte in den1960erJahren be-
gonnen. Im September1967 hob die
Zeitschrift«Time Magazine» den Chef
des ITT-Konzerns Harold Geneen aufs
Titelblatt und stellte der Öffentlichkeit
eine neueForm von Unternehmertum
vor: Konglomerate, «die neuen Busi-
ness-Giganten». Es war die Zeit, als die
Industrie blühte und der üppige Cash-
flowgleichwiederindenAufbauundden
Kauf neuer Geschäftsbereiche gesteckt
wurde. Diese würden sich dankSyner-
gien,sohiesses,gegenseitigunterstützen.
Wie das Beispiel GE nun zeigt,
sind diese grossen undkomplexen Ge-
bilde im Industriebereich aber äus-
serst schwer zu führen undkönnen
nicht schnell genug aufVeränderungen
reagie ren. Die sinkendeRentabilität
im Strom- und Energiegeschäft wollte
GE mit der Akquisition des Energie-
geschäfts des französischenKonzerns
Alstom imJahr 2014 ausgleichen. Doch
die Rechnung ging nicht auf: nicht nur
weil die Nachfrage nach Gasturbinen
sank, sondern auch weil dieses Geschäft
auch bei GErestrukturierungsbedürftig
war und deshalb diekomplizierte Inte-
gration der Alstom-Sparte gar nicht ge-
lingenkonnte.
Während an der amerikanischen Ost-
küste die Zeit derKonglomerate ab-
läuft, hat sie an derWestküste gerade
erst begonnen.Amazon, Apple,Micro-
soft,Alphabet undFacebook nutzen
die aus ihremKerngeschäft generierten
Mittel,um neue digitale Geschäftsfelder
aufzubauen. Oftmals sind es die gesam-
meltenDaten, die aufSynergien hoffen
lassen.Investoren wetten darauf, dass
Konzernchefs wie Mark Zuckerberg
und Jeff Bezos ihre aussergewöhnliche
unternehmerische Begabung in den
Aufbau immer neuer Geschäftsfelder
stecken. Amazon ist längst nicht mehr
nur ein Online-Händler, sondern auch
der grösste Anbieter von Dienstleistun-
gen für dieDatenspeicherung (Cloud-
Computing), eineWerbeplattform, ein
Filmproduzent und drängt nun in die
Gesundheitsbranche.
- «SiliconValley 2.0»:vom Tal der
Technologieunternehmer zum turbo-
getriebenenWagniskapitalismus
Das SiliconValley erlebte nach der
Finanzkrise einen enormenAufschwung
und wurde zum weltweit wichtigsten
Labor für digitale Geschäftsmodelle.
Das an derWestküste der USA ge-
legene Gebiet war wegen seines Öko-
systems aus Universitäten undWag-
niskapitalgebern seit Mitte des letzten
Jahrhunderts ein Mekka für Unterneh-
mer, in der letzten Dekade entwickelte
es sich zu einem auf Hochtouren laufen-
den Innovationsmotor.
Dieser Motorwirdzum einen durch
eine Professionalisierung und Inter-
nationalisierung der weltweit einmali-
gen Wagniskapitalbranche in den USA
angetrieben,dierekordhohe Summen in
Jungunternehmen investiert. Anderer-
Amerika ist wirtschaftlichein Leuchtturm: US-Konzerne treiben die wirtschaftliche Innovation undTransformationweltweit voran.Doch es erwächst ihnen zunehmendKonkurrenz aus China. MIKE SEGAR / REUTERS
Von New York
nach Zürich
pfi. · Als Christiane Hanna Henkel
(C.H.) 2009 von Brasilien nach New
York umzog, fielen ihr zuerst die vielen
Verkaufsschilder in denVorgärten auf.
Die USA standen noch imBanne der
schwerenFinanzkrise, die viele Haus-
besitzerdasHeimgekostethatte.Einge-
wisser Unmut ist in manchen Bevölke-
rungskreisen geblieben, doch nach zehn
Jahren desAufschwungs ist vieles ver-
ge ssen.DieamerikanischenBankenund
Firmen haben in gewandelterForm zu
erstaunlicher Dynamik und weltweiter
Bedeutung gefunden,wieC. H.in ihrem
Abschiedsartikelresümiert. AlsKorre-
spondentin hat sie über die Entwicklung
anschaulich und vielfältig berichtet.Ihr
Augenmerk richtete sie mit der Zeit ver-
stärktauftechnologischeEntwicklungen
unddarausresultierendeVeränderungen
von Geschäftsmodellen. Sie blieb dabei
nie an der Oberfläche und auch nicht
bloss am Schreibtisch, sondern bereiste
weiteTeile der USA. Nach18-jähriger
Auslandtätigkeit ist sie nun in dieWirt-
schaftsredaktion nach Zürich zurück-
gekehrt, von wo aus sie dieRedaktions-
kollegen und die NZZ-Leser mit ihrem
Erfahrungsschatz bereichern wird.
seits ermöglichen neue digitaleTechno-
logien wie das Cloud-Computing, dass
Unternehmen viel einfacher gegründet
werdenkönnen und viel schneller wach-
sen. Der Primat des«The Winner takes
it all» hat eine kräftige Sogwirkung
auf Investoren und Unternehmer, die
Wachstum über alles stellen und bereit
sind, hohe Beträge in verlustreicheFir-
men zu stecken.
Vielleicht hat das «SiliconValley 2.0»
mit seinerAusrichtung aufkonsumnahe
DienstleistungendenZenitbereitsüber-
schritten. NeueTechnologien wie das
noch in den Kinderschuhen steckende
Quantum-Computing,dieGentechnolo-
gie,dieRobotikunddiekünstlicheIntel-
ligenzkönntenande reBranchenwieGe-
sundheit(AusmerzungvonKrankheiten,
maschinelleErhöhungdermenschlichen
Leistungskraft usw.) und damit andere
Regionen in denVordergrund rücken.
Zudem erwächst dem SiliconValley mit
China und dem dortregional blühen-
den Unternehmertum einernst hafter
Konkurrent.Auch zeigt das Modell des
Turbowachstumsdes«SiliconValley2.0»
verstärkt Schwächen, etwa inForm von
unberechenbarenFolgen für die Privat-
sphäre und die Demokratie.
- Der Siegeszug des Smartphones:
ein Taschencomputer treibt die Digi-
talisierung derWirtschaftvoran
2010 nutzten in den USA rund 63 Mio.
Menschen ein Smartphone. Heute hält
fast jeder Amerikaner einen solchen
Taschencomputer in derHand.Das 2007
vom Technologiekonzern Apple lan-
cierte iPhone hat dank seiner Benutzer-
freundlichkeit der massenhaften Nut-
zungdes Smartphones denWeg geebnet.
Dies befeuerte eineRevolution der
konsumnahen Branchen: Der Fahr-
dienstvermittler Uber griff in den USA
die Taxiunternehmen und den öffent-
lichen Nahverkehr an, derWohnungs-
vermittler Airbnb attackierte die Hotel-
lerie. Digitale Unterhaltungsdienste wie
Netflix oder entsprechende Angebote
von Amazon und Apple mischten die
Unt erhaltungsbranche auf und zwan-
gen einen Giganten wieWalt Disney zu
einer strategischen Neupositionierung.
Der amerikanische Einzelhandel wurde
derweil von den mobilen Einkaufsmög-
lichkeiten digitaler Anbieter und ihren
digitalen Marketingstrategien (Influen-
cer-Marketing usw.) förmlich überrollt.
NeueKommunikationsformen wie
Soci al Media vereinen einen immer
grösseren Teil derWerbeeinnahmen
auf sich und wälzen die amerikanische
Medienlandschaft und dieWerbewirt-
schaft um. Ähnliche Entwicklungen
gibt es auch in Europa und Asien, aber
es waren amerikanische Unternehmen,
die als erste die Chancen erkannten, die
das Smartphone als Plattform bot und
die die Digitalisierung konsumnaher
Branchen weltweit vorantrieben. - Aktivisten in Anzug: wie Corporate
America durch das Meinungsminen-
feld zu manövrierenvers ucht
«Als CEO von Merck und meinem Ge-
wissen folgend, sehe ich es als meine
Verantwortung, eine klare Haltung
gegen Intoleranz und Extremismus ein-
zunehmen.» Dies erklärteKennethFra-
zier imAugust 2017 aus Protest gegen
PräsidentTrumpsunangemesseneReak-
tion aufrechte undrechtsextreme Auf-
märsche in Charlottesville. Fr azier war
der ersteKonzernchef, der sich öffent-
lich vonTrump distanzierte, ihm schlos-
sen sich schnellDutzende weiterer CEO
an. In derFolge wurden die vonTrump
zu BeginnseinerAmtszeit eingerichte-
ten Gremien aufgehoben, in denen die
Chefs von Corporate America mit ihm
und anderenPolitikern über eineWie-
derbelebung der amerikanischen Indus-
trie hätten beraten sollen.
Fraziers Schritt war ungewöhnlich
und markierte einenWendepunkt im
Umgang mit gesellschaftspolitischen
Anliegen. AmerikasKonzerne hatten
sich bis zu jenem Zeitpunkt meist aus
der Politik herausgehalten.Wenn sie
sich inWashington oder auf Gliedstaa-
tenebene in politische Entscheidungs-
prozess einbrachten, dann mehrheitlich,
um ihre eigenen Interessen zu vertreten.
Doch in einem Amerika, das von
Identitätspolitik und einer zunehmen-
den Polarisierung in gesellschaftlichen
FragenwieAbtreibung,Immigrationund
Rechte von Homosexuellen geprägt ist,
können sich Unternehmen nicht mehr
davordrücken,Stellungzubeziehen.Oft
sind es die Mitarbeiter, die das fordern;
in anderenFällen dieKunden. DiePoli-
tisierung von CorporateAmerica nimmt
ganzunterschiedlicheZügeanundreicht
vons ymbolhaftenHandlungenbishinzu
aktivistischen Protesten.
SohatdieBankofAmericajüngstent-
schieden,privaten Betreibern von Straf-
anstaltenkeine Kredite mehr zu gewäh-
ren. Viele Pensionskassen,darunter vor
allem solche, die öffentliche Gelder ver-
walten,boykottieren etwaWaffenaktien
und dieValoren von Erdölkonzernen.
Und erst jüngst hat Netflix angedroht,
sich alsReaktion auf dieVerschärfung
der Abtreibungsgesetze im Gliedstaat
Georgia aus der dortigenFilmindustrie
zurückzuziehen und etwaige juristische
Schr itte gegen die neue Gesetzgebung
aktiv zu unterstützen.
Die Unternehmen machen sich mit
ihrem politischen Aktivismus aber auch
selber zum Gegenstand vonKontrover-
sen, wie der Sportartikelhersteller Nike
feststellen musste. Zum amerikanischen
Unabhängigkeitstag hatte derKonzern
eine Sonderausgabe einesTurnschuhs
mit der sogenanntenBetsy-Ross-Flagge
geplant – einer der ersten Nationalflag-
gen desLandes.Als ein bekannter ehe-
maligerFootballspieler kritisierte, die
Flagge sei zur Zeit der Sklaverei ent-
standen, zog Nike den Schuh zurück.
Dies wiederum löste Gegenkritik aus,
unter anderem vom konservativen
Gliedstaat Arizona. Dieser strich kur-
zerhand alle staatlichenVergünstigun-
gen, die Nike für denBau einerFabrik
in derRegion hätte bekommen sollen.
Der in Massanzüge gekleideteAkti-
vismus hat sich längst auf soziale Be-
lange ausgeweitet. Es ist zu beobachten,
dass in den USA die Unternehmen von
Gemeinden und Städten vermehrt in die
Pflicht genommen werden.So beteiligen
sich Firmen wie Salesforce in SanFran-
cisco aktiv an der Lösung städtischer
Probleme wie der Obdachlosigkeit.
Finanziell in einem Engpass steckende
Schulen nehmen etwa von Google gra-
tis oder günstig bereitgestellte Bildungs-
angebote gerne an.
- Vom Wohlstandsmotor zum Sün-
denbock: Corporate Americaverliert
den Rückhalt inTeilen der Gesellschaft
Der Imagewandel begann noch wäh-
rend derFinanzkrise, als Aktivisten im
NewYorker Finanzviertel Antibanken-
parolen skandierten. Der Stimmungs-
umschwung hatte sich allerdings schon
zuvor abgezeichnet, und zwar in der
Industrie. WährendJahrzehnten waren
die Industrieriesen Arbeitgeber gewe-
sen,die auch gering ausgebildetenAme-
rikanern einen Arbeitsplatz und damit
eineChancezumsozialenAufstieggebo-
ten h aten.Doch mit dem Eintritt Chinas
in die WTO zurJahrtausendwende und
der ein paarJahre später einsetzenden
Rezession geriet das produzierende Ge-
werbe in den USA unter starken Druck,
die Kosten zu senken und Arbeitsplätze
ins Ausland zu verlagern oder Ange-
stellte durchRoboter zu ersetzen.
Obwohl das Bruttoinlandprodukt
jetzt wächst, bleiben viele Amerikaner
vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen, und
die Löhne stagnieren.Im politischen
Diskurs werden dieKonzerne immer
öfter dafür verantwortlich gemacht,dass
es vielen Amerikanern schwerfällt, den
Lebensstandard zu halten.Vor allem der
linke Flügel der DemokratischenPartei
hat sich dieKonzernschelteauf die Fah-
nen geschrieben und versucht sie im an-
laufenden Präsidentschaftswahlkampf
in Wählerstimmen umzumünzen.
Exemplarisch dafür steht die bei
den vergangenen Zwischenwahlen ins
Repräsentantenhaus gewählte Alexan-
dria Ocasio-Cortez. Bei ihremAuftritt
an derTechnologie- undKulturkonfe-
renz South by Southwest im texanischen
Austin erntete sie imFrühjahr kräftigen
Beifall mit derAussage,die Gewinne
der Konzerne würden die Milliardäre
einstreichen,während vieleAmerikaner
80 Stunden in derWoche arbeiteten und
dennoch nicht über dieRunden kämen.
Die unternehmensfeindliche Hal-
tung, die vor allem in Grossstädten und
jüngeren Bevölkerungsschichten ver-
breitet ist, hat ihren bisherigen Höhe-
punkt in NewYork erreicht. Amazon
wollte einen seiner Hauptsitze in der
Stad t errichten. In den nächstenJah-
ren wären Zehntausende gutbezahlter
Arbeitsplätze entstanden.Kritik und ge-
legentlich offen geäusserteFeindselig-
keiten entzündeten sich dann aber an
den vom Gliedstaat und von der Stadt
gewährten steuerlichen Anreizen und
daran,dass befürchtet wurde, der betref-
fende Stadtteilkönnte durch die Ansie-
delung des neuen Hauptquartiers der
Gentrifizierung zum Opfer fallen.Ama-
zon zog darauf die Notbremse und legte
seine NewYorker Pläne vorerst ad acta.
- Beziehungsprobleme: China wird
von derWerkbank zumKonkurrenten
der US-Konzerne
Als sich Amerika 2009 aus derRezes-
sion herausarbeitete, spielte China, das
acht Jahre zuvor der WTObeigetreten
war, als Lieferant günstigerWaren und
als Werkbank für einfache Tätigkeiten
bereits eine wichtigeRolle für dieKon-
sumenten und Unternehmen in den
USA. Seither hat sich die Bedeutung
Chinas grundlegend verändert.
Der Technologiekonzern Apple ist
ein gutes Beispiel dafür. So hat Apple
beimAufbau seiner weltweitenWert-
schöpfungskett e China zu seinem Zen-
trum gemacht.Darauf beruht Apples
Kostenvorteil und seine enormeRenta-
bilität. Gleichzeitig ist China ein wich-
tiger Absatzmarkt für Apples Smart-
phone.Aus der dynamischen Unter-
nehmenslandschaft Chinas steigen aber
neueKonkurrenten auf, die den west-
lichen Anbietern mit günstigen und
qualitativ hochstehenden Smartphones
Marktanteile abjagen.
In China ist in der Zwischenzeit näm-
lich ein technologisches Ökosystem ent-
standen,in d em erfolgshungrige Unter-
nehmer die digitaleTransformation im
Eiltempo vorantreiben. MitFirmen wie
Alibaba undTencent wurdenKonzerne
aufgebaut, die laut einhelliger Einschät-
zung als einzige mit AmerikasTechno-
logiegiganten mithaltenkönnen. Am
Ende der Dekade 2009 bis2019 stehen
sich dieTechnologieuniversen der USA
und Chinas alskonkurrierende Welten
gegenüber und liefern sich einenWett-
streit dergesellschaftlichen Systeme.
Der von derRegierungTrump initiierte
Handelskonflikt und die Abschottung
des amerikanischen Telekommarkts
gegenüber dem chinesischenTechnolo-
gie konzern Huawei sind deshalb mög-
licherweise nur derAuftakt zu weiter-
reichenden geopolitischenAuseinander-
setzungen.
Jahr Jahr
Anders als in
industriellen Branchen
können sich digitale
Plattformen schnell
von der Konkurrenz
abheben und
marktbeherrschende
Stellung erlangen.
Die Konzerne
werden immer öfter
dafür verantwortlich
gemacht, dass es
vielen Amerikanern
schwerfällt,
den Lebensstandard
zu halten.
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