Neue Zürcher Zeitung - 05.08.2019

(Dana P.) #1
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«Hoffnungslosigkeit? Nie wieder.»


Ein Neustart für die Kultur in Istanbul


Die AKP hat Künstlern und Intellektuellen systematisch die Luft abgeschnürt. Ekrem Imamoglu s Wahlsieg ist eine Wendemarke


CONSTANZE LETSCH


Knapp einen Monat nach derWieder-
holung der Bürgermeisterwahl in Istan-
bul sitzt Genco Erkal, der wohl be-
kanntesteTheatermacher derTürkei,
im Foyer eines kleinen, etwas herunter-
gekommenen IstanbulerTheaters und
zieht Bilanz. «Ich bin optimistisch wie
schonlange nicht mehr», sagt der drah-
tige Schauspieler.
Erkal hat den CHP-Politiker Ekrem
Imamoglu, der aus dem zweitenWahl-
gang erneut und mit klarem Vor-
sprung als Sieger hervorging,von An-
fang an unterstützt. Er gestikuliert leb-
haft. «DiesesTheater ist ein guter Ort,
um über dieKulturpolitik in derTür-
kei zu sprechen», sagt er. Einst unter
den renommiertesten Bühnen der Stadt,
schafft es dasKenter-Theater nun kaum,
sich mit Mieteinnahmen überWasser
zu halten. DieTechnik müsste erneuert
werden, das Dach im Zuschauerraum
leckt. «DiesesTheater ist ein Museum!
In jeder anderen Stadt würde man sich
um diese Bühne kümmern,abe r hier
verfällt sie einfach.» Die AKP-Regie-
rung seiKunst und Kultur gegenüber
geradezu feindselig eingestellt, so Er-
kal. Wie viele andereKulturschaffende
hofft er nun auf eineWende.


Krieg gegen die Kultur


Nach den Gezi-Protesten im Sommer
2013 verschärfte die AKP-Regierung
den Druck auf dieKunst- undKultur-
szene. Öffentliche Bühnen wurden ge-
schlossen, und Schauspieler, die die
Demonstrationen unterstützt hatten,
wurden entlassen und auf schwarze Lis-
ten gesetzt. «Niemand durfte sie mehr
einstellen.Viele unsererFreunde und
Kollegen gingen insAusland», erinnert
sich Erkal. Anderen blieb nicht einmal
diese Option. «Später wurdenKünst-
lern auch diePässe entzogen. Sie durf-
ten nicht arbeiten,aber siekonntenauch
das Land nicht verlassen. Die Regierung
hat sie zumVerhungern verurteilt!»
Da sich auch Erkal hinterdie Gezi-
Proteste gestellt hatte, wurde das von
ihm gegründete Ensemble DostlarTi-
yatrosu – dasTheater derFreunde –
von den städtischen Bühnen verbannt.
Die staatlicheKulturförderung wurde
eingestellt. Seit dem Putschversuch im
Juli 20 16 und während des Notstandes
verschärfte sich dieLage noch.Kultur-
einrichtungen wurden über Nacht per
Dekret einfach geschlossen. Zahlreiche
Kulturschaffende sitzen unterTerrorver-
dacht in Haft, unterihnen auch der be-
kannte Mäzen Osman Kavala.
«Es herrscht ein tonnenschwerer
Druck, derkeinenRaum zum Atmen
lässt», sagtder Schriftsteller und Dreh-
buchautor Murat Uyurkulak. «Erdo-
gan hat diejenigen, die ihn nicht wäh-
len, zuVerrätern erklärt.Damit spric ht
er mehr als der Hälfte der Leute in der
Türkei das Existenzrecht in der Gesell-
schaft ab.»Das gelte gerade auch für die
Kunstszene. «Die AKP will nicht, dass
jemand ausser ihr den Mund aufmacht.»


Die Angstüberwinden


Der Verleger und Publizist Murat Belge
unterstreicht, dass dieKulturpolitik der
Regierungspartei immer ihr schwächs-
ter Punkt gewesen sei. Selbst Erdogan
kritisiert die diesbezügliche Unfähig-
keit seinerPartei. «Die AKP hatkeinen
richtigen Zugang zu denKünsten gefun-
den», so Belge. Für Erdogan seiKultur
vor allem ein Schlachtfeld, auf dem er
bis jetztkeine Siege habe erringenkön-
nen. «Und weil er nicht gewinnen kann,


will erKunst undKultur stoppen», sagt
er. Repressionen, Zensur, Entlassungen,
fingierte Steuerstrafen und Gefäng-
nis seien die Methoden, mit denen der
türkische Präsident insFeld ziehe, um
die kulturelleVorherrschaft doch noch
zu erlangen. «Es ist völlig widersprüch-
lich,weil er den Boden z erstört, auf dem
Kunst erst gedeihen kann.»
Derneue Oberbürgermeister von
Istanbul hingegen setzte von Anfang an

auf den Einbezug derKunst- undKul-
turszene.An einerWahlveranstaltung im
März versprach Ekrem Imamoglueinen
Neuanfang für das kulturelle Leben in
Istanbul.«Wir werden für ein tolerantes
Umfeld sorgen, in demKunst undKul-
tur in der ganzen Stadt für alle zugäng-
lich sein werden.Wir werden den krea-
tiven Klassen dieWertschätzung zuteil-
werden lassen, die sie verdienen», sagte
er. Zugleich verwahrte er sich gegen die
Polarisierung und die Zensurpolitik aus
Ankara: «DiesePolitik kann so zusam-
mengefasst werden, dass Intellektuelle
erniedrigt und ausgeschlossen und dass
die Künste undKünstler marginalisiert

werden.Wir finden diese Einstellung für
di eZukunft unseresLandes extrem ge-
fährlich und falsch.»
Es scheint, alskönne sich der CHP-
Politiker der Unterstützung aus derKul-
turszene sicher sein. Nach dem umstrit-
tenen Entscheid der türkischenWahl-
kommission, dieWahl Imamoglus zum
Oberbürgermeister zu annullieren,
folgten zahlreiche prominente Musi-
ker, Filmemacher,Schauspieler und
Schriftsteller seinemRuf, nicht länger
zu schweigen.Kulturschaffende aus dem
ganzenLand bekundeten in densozia-
len Netzwerken ihre Solidarität mit dem
abgesetzten Bürgermeister.
Für Murat Uyurkulak ist nach der
Wiederwahl Imamoglus am 23.Juni
die Hoffnung aufVeränderung zurück-
gekehrt. In den Monaten vor derWahl
hatte er dasLand mehr oder weniger
aufgegeben.«Jetzthabe ich angefangen,
konzentriert an meinem neuen Buch zu
arbeiten,weil ich mich viel besser fühle»,
sagt er und lacht. «Hoffnungslosigkeit?
Nie wieder.»
Die lähmende Angst haben auch an-
dere Kulturschaffende überwunden,
wie der Dokumentarfilmer Ali Ergül
berichtet. Als er EndeJuni ein Solida-
ritätsmusikfestival für das von Über-
flutung bedrohte historische Städtchen
Has ankeyforganisierte, konnte er sich
vor dem Ansturm Interessierter kaum
rett en. «Vor derWahl Imamoglus hät-
ten viel mehrKünstler gezögert, an so
einer politischenVeranstaltung teilzu-
nehmen», meint er überzeugt.
Im Wahlprogramm des neuen Ober-
bürgermeisters jedenfalls nehmenKunst
und Kultur einen wichtigen Platz ein.

Die für die Millionenmetropole viel
zu kleine Anzahl an städtischen Büh-
nen will Imamoglu auf 22 verdoppeln,
und in Stadtvierteln, in denen dasKul-
turangebot dürftig ist,möchte erKunst-
und Kulturzentren eröffnen. Mobile
Theater sollen Bühnenstücke auch in
die entlegensten Strassen der Stadt tra-
gen. Jugendliche sollenvon Ermässigun-
gen profitieren,15 neue Museen sollen
entstehen. Istanbul sollzu einerFestival-
stadt internationalenFormats werden.

AmbitioniertesProgramm


Der Autor Uyurkulak hatVertrauen in
dieWahlversprechen des ambitionierten
Politikers, aber er will dieRealität dabei
nicht aus dem Blick verlieren. «Ich bin
optimistisch und denke, dass etwas Posi-
tivespassiert.Abericherwartenicht,dass
Kunst undKultur jetzt explodieren oder
dass überall in IstanbulTheater , Kinos
undBuchlädenaufmachen,nurweilIma-
moglu Bürgermeister geworden ist», so
Uyurkulak.«Ich bezweifleauch, dass er
das Geld findenwird, um jedemViertel
der Stadt einTheater zu garantieren.»
In derTat hinterlässt die scheidende
AKP-Stadtverwaltung dem neuen Bür-
germeister einen Schuldenberg von rund
22 Milliarden türkischen Lira und eine
Stadt, die mit weitaus dringenderen Pr o-
blemen zu kämpfen hat als einem feh-
lendenFestivalprogramm. Noch dazu
habe die neoliberale und kulturfeind-
lichePolitik der AKP in der Istanbuler
Kunstszene tiefeWunden geschlagen,so
der Theatermacher Genco Erkal. Der
umkämpfte Abriss des Atatürk-Kultur-
zentrums am zentralen Taksim-Platz,

einst die grösste Bühne desLandes,sei
«ein Mord» gewesen, sagt er. Das his-
torische Emek-Kino habe trotz massi-
ven Protesten einem grässlichen Shop-
pingcenter weichen müssen. Die zahlrei-
chen unabhängigenAvantgarde-Theater
habe die AKP durchVerbote,Abrisse
und Zensur ebenfalls aus dem Istanbu-
ler Stadtteil Beyoglu verjagt.
Hinzukomme die schier unstillbare
Geldgier in Ankara. «Alles wird dort
in Profit gemessen», kritisiert er. «Die
städtischen und die Staatstheater brin-
gen kaum etwas ein. Die Eintrittskarten
sind sehr billig.» Darum müssten Kinos
und Theater den teuren Mehrzweck-
sälen in Shoppingcentern weichen. Er-
kal, der Imamoglu als kulturinteressier-
ten Bürgermeister des wohlhabenden
Istanbuler Randviertels Beylikdüzü
kennengelernt hat,hofft,dass er sich der
traurigenLage der städtischenTheater
annimmt. Mit derRestauration des be-
rühmten Muammer-Karaca-Theaters in
Beyoglu, das die AKP nach den Gezi-
Protesten unter fadenscheinigen Beden-
ken schloss, hat die neue Stadtverwal-
tung bereits begonnen.«Vielleicht sorgt
Imamoglu ja dafür, dass die Zuschauer
in diesemTheater nicht mehr imRegen
sitzen müssen», sagt Erkal lachend.
Die wichtigste Hürde aber sei bereits
genommen, fügt er hinzu. «Die Leute
haben Mut geschöpft.Aufführungen
fühlen sich jetzt wieFussballspiele an


  • wenn ich einen politischenWitz ma-
    che, reisst es die Leute wie bei einemTor
    von den Sitzen,es steckt eine ungeheure
    Lebendigkeit in den Zuschauern!Das
    kommt von der Hoffnung. Damit lässt
    sich vielWunderbares erreichen.»


Da wirbeln auchdie Derwische:Am 27.Juni feiert Istanbul den Amtsantritt des neuen Bürgermeisters Ekrem Imamoglu. MURAD SEZER / REUTERS

«Die AKP-Regierung


hat die Künstler zum
Ve rhungern verurteilt.»

GencoErkal
Theatermacher
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