Neue Zürcher Zeitung - 05.08.2019

(Dana P.) #1

26 FEUILLETON Montag, 5. August 2019


Theodor W. Adorno: ein Meister


des Kulturpessimismus


Vor 50 Jahren starb der Philosop h, der den gesellschaftskritischen Diskurs im 20.Jahrhundert mitprägte


RAINERSTADLER


Mancher Nachwuchs-Intellektuelle hat
TheodorWiesengrundAdorno in den
sechzigerJahren an denLippengehan-
gen.An derFrankfurter Universität
zählte er zu denStars. Er füllte die gros-
sen Hörsäle. SeineWerke hallten nach,
auch nach seinemTod am 6.August
1969 während derFerien imWallis. Ein
breiteres gelehrtes Publikumkennt vor
allem dieTraktate, Essays und Apho-
rismen, während nur eine Minderheit
zu sperrigen grossenWerken vorstiess,
welche die philosophische Denkweise
Adornos erst richtig sichtbar machen.
Sein Name taucht auch heute noch in
Artikeln derMassenmedien auf, selbst
auf dem Boulevard. Als Meister des
Abstrahierens verstand er es dennoch,
einprägsame Sätze zu formulieren, die
für den alltäglichen Gebrauch tauglich
sind und dem Zitierenden dieAura des
Belesenen verleihen.Einerder belieb-
testen lautet:«Es gibt kein richtiges Le-
ben im falschen.»


Kehrseiteder Aufklärung


EffektorientiertesReden war allerdings
für Adorno ein Graus. Er betrachtete
alles im grossen Zusammenhang. Die-
ser totalisierende Blickwar fürihn zwin-
gend.Wer darauf verzichtet, dem dro-
hen dieVerblendung und ein fremd-
bestimmtesDasein in den Niederungen
der kapitalistischenKonsumwelt,die
zusehends alle Lebensbereiche erfasst
und damit totalitäre Züge annimmt.Die
Konsumkultur bezeichneteAdorno ein-
mal schnöde als eine«Vitaminspritze für
müde Geschäftsleute».
Der 1903 in Frankfurt geborene
Adorno wuchs wohlbehütet als Sohn
einesWeingrosshändlers auf.Die hohe
Kultur, insbesondere die Musik,war von
Kind anTeil seiner grossbürgerlich ge-
prägten Lebenswelt. Sie beeinflusste
sein akademischesWirken wesentlich.
Bei Alban Berg studierte der Hoch-
begabteKomposition, und er schrieb
eigene Musikwerkeauf hohem Niveau.
Zum jüdischen Erbe seinerVorfahren
hatte er wenig Beziehung, aber der
frühreifeAkademi ker musste vor den
Nationalsozialisten fliehen; er ging zu-
erst nach Grossbritannien, dann in die
USA. Dort kam er mit der empiri-
schenKultur der Angelsachsen näher
in Kontakt. Er blieb indessen derTra-
dition der deutschenPhilosophiever-
haftet undkehrte nach Deutschland zu-
rück,wo ihn1953 dieFrankfurter Uni-
versität zum Professor für Philosophie
und Soziologieernannte.
Zusammen mit Max Horkheimer
ist Adorno einer der wichtigsten Expo-
nenten der kritischen Theorie, die von
den Schriften Hegels, Marx’ undFreuds
zehrt. Noch im Exil hatten die beiden
ein Leitwerk dieser Schule verfasst, die
«Dialektik derAufklärung», die mit dem
Begriff der Kulturindustrie insVokabu-
lar zeitkritischer Debatten eingedrun-
gen ist. Er benennt eine Deformation
der Moderne. Sie hat zurFolge, dass die
künstlerischenTätigkeiten der indus-
triellen und marktwirtschaftlichen Logik
unterworfenund damit ihres emanzipa-
torischenPotenzials beraubt werden.
Adorno hat diese Diagnose in seinen
musiktheoretischen Werken vertieft,
insbesondere in seiner «Philosophie der
neuen Musik». Hier kommt seine höchst
elitäre Sichtweise zumAusdruck, die
sich am klassischen, vom Schaffen des
19.Jahrhunderts geprägtenKulturkanon
orientiert. Den am sinnlichen Schein
orientierten Kunstgenuss bezeichnet
Adorno als mangelhaft.Für ihn gibt es
nicht verschiedene, gleichwertige Mög-
lichkeiten, sich mit künstlerischenWer-
ken auseinanderzusetzen.Wirklich ver-
stehen kann man einWerk erst, wenn
man seine Machart durchschaut. Nur
der Experte, der musiktheoretisch Ge-
bildete, ist letztlich in derLage, die Sub-
stanzeines Musikwerks und dessen his-


torisch-gesellschaftliche Bedeutung,
seine innereWahrheit, zu erfassen.
Der Unterhaltungsmusik spricht
Adorno nicht grundsätzlich eine Quali-
tät ab, doch ist sie – angesichts des Zer-
falls derAufklärung und angesichts der
politischen Katastrophen des 20.Jahr-
hunderts – verdächtig geworden. Sie
verfestigt durch ihre Machart die Herr-
schaftsverhältnisse und verhindert da-
mit die Selbstbestimmung des Men-
schen. Der Philosophleite t daraus eine
historisch zwingende Genussfeindlich-
keit ab. Genuss ohne bitteren Nach-
geschmack ist suspekt,weil er das grosse
Ganze ausblendet, das aus denFugen
geraten ist und das in seinerFalschheit
jeden Gegenstand infiziert.
Adorno hat dies beispielhaftkennt-
lich gemacht im traditionellenJazz, der
auf einer Liedform basiert und damit
relativ einfach strukturiert scheint.Das
Tun desJazzers – stellvertretend für den
Unterhaltungskünstler – ist falsch, weil
er sich beim Spielen anVorgaben hält,
die nicht aus dem jeweiligenkonkreten
musikalischen Material heraus gewon-
nen wurden. Es gelten vielmehrRegeln,
die dem Ermessen des Handelnden ent-
zogen sind und damit diesen fremdbe-
stimmen. Diese kulturelle Praxis spiegelt
im Kleinen die Herrschaftsverhältnisse
und ist damit emanzipationsfeindlich.
Die Allgegenwart derKulturindustrie
verfestigte diese Herrschaft.

Harsche Kritikan Strawinsky


Ähnlich kritisch seziertAdorno das
Schaffen von Igor Strawinsky, der sei-
ner Meinung nach einemKult der Un-

mittelbarkeit huldigt. DessenRückgriff
aufs Vor-Individuelle,aufs Archaische,
bedeutet, dass er die historischen Zu-
sammenhänge des musikalischen Mate-
rials negiert. Dierepetitiven rhythmi-
schenFormeln,die an starr durchgehal-
tene Zählzeiten gebunden sind, ver-
stehtAdorno alsrepressives Handeln.
StrawinskysWerke haben es demnach
auf dieVernichtungdes Subjekts ange-
legt.Entsprechend interpretiertAdorno
den «Sacre du printemps», der die Opfe-
rung einerJungfrau inszeniert, als «ein
antihumanistischesOpfer ansKollek-
tiv», wobei selbst das Opfer seine rituell
vorbestimmteVernichtung blind aner-
kenne. Dieser«Greuel» begleite Stra-
winskys Musikkommentarlos.
Diesem Schaffen setztAdorno die
späterenWerkevon Arnold Schön-
berg entgegen. Dessen Bruch mit der
Tonalität bedeutete für den Philoso-
phen eine entscheidendeWende.Im Be-
reich der Musik wurde damit mitVer-
spätungrealisiert, wasBaudelaire be-
reits im19.Jahrhundert vollzogen hatte,
nämlichdie Abkehr vom traditionellen
Kunstverständnis.
Von da ankonnte der jeder ge-
sellschaftlichen Bindung entfremdete
Künstler seinTun ni cht mehr an generell
gültigen Gestaltungsprinzipienausrich-
ten.Vielmehr muss das Schaffen nun ge-
lingen, indem sich derAutor ins Detail
versenkt und daraus heraus die zwin-
genden Zusammenhänge einesWerks
konstruiert.Wahrhaftigkeit vermag ein
Werk allerdings erst dann zu gewinnen,
wenn es den Zerfall der Normen und
des sozial Guten mit bedenkt und sich
gleichzeitig gegen eineVereinnahmung

durch die totalitärenTendenzen immu-
nisiert.Was heisst:Das wahreKunst-
schaffen muss notwendigerweise herme-
tische,elitäreZüge annehmen. Nur im
abgeschlossenen,resistentenKern eines
Werks vermag dieVorstellung einer bes-
serenWelt – mitten in einer feindlichen
Umwelt –aufzublitzen.

Kitschverdacht


Gelehrt und mit hohemKunstverstand
entwickelteAdorno seine geschichts-
philosophisch getränkte negativeÄsthe-
tik. Die Beschäftigung mitseinemSchaf-
fen löst allerdings eine grosse Irrita-
tion aus. Man magAdornos intellek-
tuelleKonstruktionskraft bewundern.
Doch laufen seine sperrigen und teil-
weise schwerblütigen Analysen Ge-
fahr, sich in ihr Gegenteil zu verkeh-
ren und denbösenVerdacht zu wecken,
hier vermittle ein weltfremder Gelehr-
ter mit allzu hohemAufwand oft nur
Triviales, wenn nichtgar philosophisch
überhöhtenKitsch.
Adornokonstruiert eine Struktur-
analogie von Kunstwerk und sozia-
ler Realität und überlastet damit den
Kunstbegriff mit geschichtsphilosophi-
schen Prämissen. Seiner Kritik an den
totalitärenTendenzen der kulturindus-
triellen Gegenwart haftet ihrerseits
etwasTotalitäres an.Damit bekräftigt
der Philosoph zumindest sein vielzitier-
tes Bonmot: «Es gibtkein richtiges Le-
ben im falschen.» Bilanziertman Ador-
nosAnalysen, könnte man sie – bösartig
gesagt – mit demTitel einer ehemaligen
Unterhaltungssendung von Sat 1 zusam-
menfassen: «Genial daneben».

TheodorW. Adornos düstere Zeitdiagnosenwaren so lebensnah wieweltfremd (Aufnahme von 1958). FRANZ HUBMANN / HULTON / GETTY

Reflexionen zu


Rechtsradikalen


1967 referierte Adorno über
einheutewieder aktuellesThema

WOLFGANG HELLMICH

Adorno hatte ein aussergewöhnliches
Gespür für gesellschaftliche und politi-
sche Strömungen. Ein bisher nicht ver-
öffentlichter, jetzt erschienener Vortrag
überRechtsradikalismus, den er 1967
an derWiener Universität gehalten hat,
unterstreicht dies. Mit seinemVortrag
reagierte der Philosoph auf die Grün-
dung der NationaldemokratischenPar-
tei Deutschlands (NPD), die nach 1964
in mehrereLandesparlamente einzog.
Adorno überraschte dasWiedererstar-
ken derradikalenRechten kaum.Je-
doch nicht, weil er mit einem harten
Kern von Unverbesserlichenrechnete.
Vielmehrreproduzierte sich nach sei-
ner Beobachtung derRechts radikalis-
mus immer wieder von neuem.
Ganz allgemein deutetAdorno das
Phänomen als «Angst vor denKonse-
quenzen gesamtgesellschaftlicher Ent-
wicklungen». Die mittleren und die de-
klassierten Schichten fürchten, zu «Mo-
dernisierungsverlierern» zu werden,
wie man heute sagen würde. Ihr Unmut
richtet sich lautAdorno paradoxerweise
gegen diejenigen, die die kapitalistische
Ordnung der Gesellschaft infrage stel-
len: gegen Linke undRandgruppen, je-
doch nicht gegen dasSystem selbst.

«Potenzielle Arbeitslose»


FürAdorno ist derRechtsradikalismus
ein notwendiges Begleitphänomen in
kapitalistisch verfassten Gesellschaften.
Er nennt ihn ein«Wundmal» einer un-
vollständigen Demokratie.Offensicht-
lich glaubteAdorno, dass in nicht bloss
«formalen» Demokratien Abstiegs-
ängste unbegründet sind.
EineReihe von Gedanken macht
den Vortrag aktuell.Adorno erwähnt
«das Gespenst der technologischen
Arbeitslosigkeit». Trotz Wohlstand und
Vollbeschäftigung fühlten sich viele
Menschen als «potenzielle Arbeits-
lose». Heute sind es Digitalisierung und
künstliche Intelligenz, die Arbeitskräfte
«freizusetzen» drohen.Die «Konzentra-
tionstendenz des Kapitals», die Adorno
diagnostiziert, ist heute in derKom-
munikations- und Digitalbranche zu be-
obachten.Dieglobal operierendenKon-
zerne üben über ihre Marktmacht un-
verhältnismässig grossen gesellschaft-
lichen und politischen Einfluss aus.
Rechtsradikalismus und Nationalis-
mus sind fürAdorno zwei Seiten einer
Me daille. Den Nationalismus betrachtet
er al s «Versuch der Selbstbehauptung in-
mitten der Integration».Wer dächteda-
bei nicht an dieLänder, die sich von der
Europäischen Union abwenden?

Im Konjunktivformuliert


Was denVortrag überzeugend macht,
ist sein unaufgeregter Ton. Adorno
argumentiert, beruft sich auf empiri-
sche Untersuchungen, formuliert vor-
sichtig und imKonjunktiv. Seine Zu-
hörer hält er an, nicht «schematisch»
und «in Mustern» zu denken. Empfeh-
lungen, wie demRechtsradikalismus zu
begegnen sei, runden denText ab. Er
wirbt für den Dialog. Die Protagonisten
seien durchaus ansprechbar, wenn es um
ihre eigenen Interessen gehe. Die Phi-
lo sophie nimmt er ausdrücklich in die
Pflicht.Kontemplation verändere nicht
die Welt. Zuschauer,die nur kritisieren,
hält er für feige, man müsse sich enga-
gieren. In seinemschriftlichenWerk hat
Adorno dieVernunft mehrfach verab-
schiedet,hier jedoch vertraut er auf ihre
«durchschlagende Kraft».
Mitschnitten seiner Vorträge und
Vorlesungen stand Adorno kritisch
gegenüber. In Reproduktionen sah
er Zeugnisse der «verwaltetenWelt».
DasAdorno-Archiv setzt sich seitJah-
ren darüber hinweg und hält ihn damit
noch 50Jahre nach seinemTod lebendig.
Ein erfüllteres Nachleben kann sich ein
Autor kaum wünschen.

Theodo r W.Adorn o: Aspekte des neuen
Rechtsra dika lismus. Ein Vortrag. Mit einem
NachwortvonVolkerWeiss.S uhrkamp -Verlag,
Berl in 2019. 89S., Fr. 16.90.
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