Neue Zürcher Zeitung - 05.08.2019

(Dana P.) #1

Montag, 5. August 2019 FEUILLETON 27


«Wow, dieses Ding läuft immer noch»


Richie Hawtin ist ein Techno-Pionier und der Pate aller digitalen DJ. Im Interview mit Bjørn Schaeffner spricht er über se in Herzflattern


vor dem erst en Zürcher Mega-Rave, den fruchtigen Geschmack des Sake und die CO 2 -Sünden der vielfliegenden Musiker


Richie Hawtin, sind Sie nostalgisch ge-
worden?

Wie meinen Sie das?


Sie haben einenGrossteil IhresTechno-
Frühwerks neu aufgelegt.Dabei galten
Sie als Zukunftsmusiker par excellence.

Ich erlaube mir höchstens einen
Moment lang, nostalgisch zu sein, um
dann wieder vorwärtszuschauen (lacht).
In den Neunzigern haben wir uns aus-
gemalt, wie die Zukunft aussieht, wie
sie klingt.Wir hattenkeine Ahnung, ob
esTechno im nächstenJahr noch ge-
ben würde.Würde ich mit dreissig noch
im Klub stehen?Würde Techno nach
Chinakommen? Heute sind dieseFra-
gen beantwortet. Und dieserFuturis-
mus von früher ist längst in der Gegen-
wart angekommen.


Dafür juckt es jetzt eine junge Genera-
tion in den Fingern?

Mich begeistert, mit was für einemFeuer
di eKidsansWerk gehen. Die sagen sich
dann:«Substance Abuse»?[Ein Richie-
Hawtin-Klassiker,Anm. d.Red.]Das
kann ich besser!Wir waren einmal genau
so, als wir Derrick May [einem Detroit-
Techno-Pionier,Anm. d.Red.] den
Fehdehandschuh hingeworfen haben.


Heute kommt der Erfolg über Nacht.
Und via Instagram.

In manchen Fällen geht es extrem
schnell, zu schnell.Wenn man nonstop
um dieWelt fliegt und immer nur kurze
DJ-Sets spielt, dann kann man dieBand-
breite undTiefedieserKunstform nicht
erfahren. Aber ich kann nur von mirre-
den und meiner Zeit: Ich habe mich als
Künstler einfach anders entwickelt.


Aber auch Sie lächeln mitParis Hil-
ton in die Kamera und legen mit einem
Skrillex auf. Stört es Sie nicht, dass die
ursprünglicheVision desTechno ver-
ramscht wurde?

Mir ist es ziemlich egal, ob jemand Carl
Craig mag oderDavid Guetta. Als EDM
[ElectronicDance-Music,Anm. d.Red.]
explodierte, war ich begeistert, weil
unsere Musik plötzlich ganz viele neue
Menschen erreichte. Manche nehmen
es mir übel, dass ich alsTechno-Künst-
ler in den Mainstream vorgedrungen
bin. Aber musikalisch binichmirimmer
treu geblieben.


Vor ein paarJahren machten Sie auf
Facebook einenWitz über einenDJ,
der einen Plattenkoffer durch das ver-
schneiteBerlin schob.

Ich erinneremich gut.


Vinyl-Fans waren entrüstet.
Es ist leicht, in den sozialen Netzwerken
missverstanden zu werden. Ich habe gar
nichts gegenVinyl, im Gegenteil: Ich
liebeVinyl! Ich habe einfach eine sehr


spezifischeVorstellung davon, welche
Technologie ich nutze. Für mich geben
Plattenkeinen Sinn mehr, ich lege mit
dem Computer auf, digital.


Sie werden immer wieder angefeindet.
Haben Sie eine Erklärung dafür?

Das war schon immerso. Es gibt im
Underground halt Menschen, die sich
über andere Menschen lustig machen,
die erfolgreicher sind als sie selbst. Mit
Social Media hat sich alles noch ver-
schärft. Die gehässigenKommentare
klingen immer stärker nach als die
positiven.Damusstdu dir eine dicke
Haut zulegen.


Jetzt scheint IhrePopularitätskurve aber
wieder nach obenzu zeigen.
Vielleicht. Eines habe ich aus meiner
Karriere gelernt: Solange du noch im
Ozean desTechno schwimmst,kommen
irgendwannWellen zurück.

Sie bringen die App «CloseCombined»
auf den Markt.Warum sollte ich mir
diese auf mein Smartphone laden?
Ich wurde aus mehrerenPerspektiven
gefilmt, wie ich in London, inParis und
inTokio meine Show «Close» spiele.
Das haben wir in «Close Combined»
verschmolzen.Auf der App kann man
die Kameraposition und den Sound aus-
wählen. Man kann mein Set dekonstru-
ieren odersich in dieTechnik vertiefen.
Soll ich jetzt eineAcid-Line spielen?
Oder soll ich schauen, was Rich an sei-
nen Maschinen anstellt?

Eine App wird das Erlebnis im Klub
aber nie ersetzen – die Lichter, die Tän-
zer, denBass ...
Aber sie kann es ergänzen! Ich spiele
meine Show «Close» in grossen Hal-
len vorTausenden von Menschen, aber
die App ermöglicht eine Art Intimität,
weilman mir beim Mixen direktüber
die Schultern schauen kann. In Zukunft
möchten wir dasalles auch live möglich
machen.

Man kennt Sie auch als einenDJ, der
live vertweetet,welchenTrack er gerade
spielt.Wird Ihnen die digitaleWelt nie
zur Last?
Mit der digitalenWelt meinen Sie ein-
fach unsereRealität an sich? Ich weiss

nicht, ob es mir früher mehr Spass ge-
macht hat als heute, aber eines ist si-
cher: Es war einfacher. Jetzt, wo wir uns
in der Zukunft befinden, die wir uns in
den neunzigerJahren vorgestellt haben,
in dieser hypervernetztenWelt, muss ich
regelmässig eineAuszeit nehmen.

Fahren Sie zur Erholung nach Goa,wie
Ihr KollegeSven Väth?
Nein, in die Philippinen.Ich klinkemich
einmal imJahr total aus und fahre für
zwei Monate an einen Ort, wo mich nie-
mandkennt, wokeinTechno läuft, wo
ich mein Handy abstellen kann und
mich nicht darum kümmern muss, was
imRest derWelt passiert. LetzteWoche
war ich mit meinerFrau eine paarTage
inJapan, in den Bergen.Für mein Sake-
Projekt.Auch das ist etwas, das es mir
erlaubt, mein Hirn abzuschalten.

Wie sind Sie auf Sake gekommen?
Ich war in den letztenJahrzehnten
immer wieder inJapan und habe mich
in den Geschmack des Sake verliebt: Er
ist wunderbar fruchtig und geschmeidig.
Ich habe mich dann zum Sake-Somme-
lier ausgebildet. Und vor ein paarJah-
ren meine eigene Sake-Marke lanciert,
«Enter Sake».

Sehen Sie Ähnlichkeiten zumTechno?
Hinter der Sake-Kultur steckt eine
kleine, eingeschworene Gemeinschaft,
die mich an die Zeit erinnert, als wir
selbst mit Techno angefangen haben,
als John [Acquaviva, Richie Haw-
tinsLabelpartner,Anm. d.Red.] und
ich Plus8gestartet haben.Auch beim

Sake geht es um ein Qualitätsprodukt,
dasmithilfe vonTechnologie entsteht.
Das fasziniert mich.Für mich ist eines
der schönsten Privilegien an meiner
Arbeit,vielreisen zu dürfen, Men-
schen zu treffen, die Ähnliches im Sinn
haben, auch wenn ihr Hintergrund ein
ganz anderer ist.

Wenn wir beimReisen sind: Sie haben
2007 eineCO 2 -Initiative lanciert, bei
derDJ für s Fliegen eine Klimaschutz-
spende zahlen können.Was ist daraus
geworden?
DieEnvironmentalAwareness Initiative
gibt es immer noch. Es ist schon merk-
würdig.Wir waren früh dran mit dem
Projekt. Nur haben wir irgendwann auf-
gehört, es intensiv zu promoten. Ich
muss gestehen, das erfüllt mich nicht
mit Stolz. Die Leute schien es allerdings
kaum zu interessieren.

VielfliegendeDJ reden ungern über
ihren ökologischen Fussabdruck.
Zum Glück rückt jetzt eine junge Gene-
ration nach, der die Zukunftdes Plane-
ten wichtig ist. Es ist allerhöchste Zeit,
dass wir über dasThemareden.

Ein Ansatzwäre, die lokalen Szenen zu
fördern, statt ständigDJ aus demAus-
land einzufliegen.
Sie habenrecht,dieser Aspekt im Klub-
Business ist ungesund.Kommthinzu,
dass damit einVerlust vonlokalerIden-
tität einhergeht. Aberes ist halt auch so:
Der Mensch willAussergewöhnliches
erleben. Und nicht immernur zum sel-
benDJim lokalen Klub tanzen.

Wie erleben Sie die Szene in Zürich?
In den nullerJahren lag eine extrem in-
spirierte Energie in der Luft, die aber
in letzter Zeit anscheinend verpufft ist.
So nehme ich das von aussen wahr.Viel-
leicht ist Berlin mit daran schuld. Als
Hauptstadt der Klubkultur hat Berlin
viele lokale Szenen zerstört, weil viele
Künstler dorthin gezogen sind.

1992, in demJahr, als die StreetParade
zum ersten Mal stattfand, spielten Sie erst-
mals in Zürich.Woran erinnern Sie sich?
Ich spielte an der«Energy»-Party. Der
Veranstalter Arnold Meyer, dieser nette,
etwas schrulligeTyp, hat mich am Flug-
hafen abgeholt.Das war die Zeit, als
ich erstmals in Europa war und viele
neueFreundschaften schloss.Wir fühl-
ten uns als Verschworene. Man ver-
stand sich über die Musik. Als ich erst-
mals an der «Energy» auflegte, diesem
Mega-Rave,war das unglaublich. Aber
ich spürte auch einen enormen Druck:
Bin ichready, fragte ich mich, kann ich
auch wirklich abliefern?

Und konnten Sie das?
Es ginggut, aber Sie müssen wissen, ich
spielte ja vorher nur auf kleinenPar-
tys in Detroit undWindsor! Und plötz-
lich stand ich dann am MaydayinBer-
lin oder an der «Energy» in Zürichvor
10000 Menschen. Ich war fassungslos:
Warum stand ich hier auf demPodest?
Was musste ich tun?Was wollten die
alle von mir?

Auflegen in kleinen Klubs – ist das
etwas, das Sie vermissen?
Ich brauche das immer noch. Und wie!
Für mein geistigesWohlbefinden, für
meine Kreativität. Die Dynamik in
einem kleinen Klub istkomplett anders.
Duspielst andere Platten, in einem
anderenTempo.Meist habe ich um den
Jahreswechsel herum kleinere Gigs für
lediglich 200 Leute.

Es dürfte aber schwierig sein, diese inti-
menPartys unter demDeckel zu be-
halten?
Ideal ist es, wenn eine solcheParty nur
über Mundpropaganda bekannt wird.
So haben wir es neulich inRostock ge-
macht. Aber wenn das einmal im Inter-
net landet, dann fliegen plötzlichFans
ausKorea ein.

Fassen Sie sich dann an denKopf?
Sosehr mich diese Szene begeistert und
antreibt, es gibt definitiv Momente,
in denen ich sage:Fuck! Es gibt auch
Momente, indenen ich am liebsten ver-
schwinden möchte. Es istalles riesig ge-
worden, crazy, richtig crazy.Aber rück-
blickend war diese Reise ins Unbe-
kannte unglaublich.Ich muss mir das
immer wieder mal vergegenwärtigen.
Wow,dieses Ding läuft immer noch.

«Sosehr mich diese


Szene begeistert, es gibt
definitiv Momente, in

denen ich am liebsten
verschwinden möchte.»

Ein grosser Tüftler


bjø.·Der Techno-DJ Richie Haw-
tin, 1970 in Banbury, England, ge-
boren, liebt dieFrageform.Das merkt
manraschimGespräch.Küchenpsy-
chologisch lässt sich das soerklären:
Richie Hawtin geht den Dingen auf den
Grund. Es gibtkeinen zweitenDJ, der
sich so auf die Erkundung neuerTech-
nologien spezialisiert hat wie er. Dafür
feilt er nicht nur ständig an der eigenen
Musik undPerformance, er bringt sich
auch in dieEntwicklungvonDJ-Soft-
wareoder eigenerMixer ein.
Der kanadischeKünstler mit engli-
schenWurzeln hat dem Detroit-Techno
der neunzigerJahre seinen Stempel ge-
nauso aufgedrückt wie der Minimal-
Welle der nullerJahre. Im April erschien
auf seinemLabel Plus 8 seinFrühwerk
unter dem PseudonymF. U. S.E. – in-
klusive des nie veröffentlichten Mi-
ni-Albums «Computer Space». Das ist
karge, klösterlicheTechno-Musik. Und
plötzlich fiepst es, poltert es los.Alles
läuft wie am Schnürchen.

«Es ist leicht, in den sozialenNetzwerken missverstanden zuwerden»,sagt der kanadischeKünstler Richie Hawtin. WILLYVANDERPERRE
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