Neue Zürcher Zeitung - 05.08.2019

(Dana P.) #1
Montag, 5. August 2019 INTERNATIONAL 3

Über 800 Festnahmen in Moskau


Trotz massiven Sicherheitsvorkehrungen prot esti eren zahlreiche Oppositionelle


MAXIM KIREEV, MOSKAU


In der russischen Hauptstadt wurden
am Wochenende zum wiederholten
Mal friedliche Protestegegen denAus-
schluss oppositioneller Kandidaten von
derWahl des Stadtparlaments von mas-
senhaften Festnahmen überschattet.
Zuvor hatten sich Oppositionelle und
Stadtregierung nicht auf einen Ort für
eine genehmigte Demonstration einigen
können. Deswegen versammelten sich
die Protestierenden auf unterschied-
lichen Plätzenin der Innenstadt, die
immer wieder von derPolizei geräumt
wurden. Am Abend meldete die unab-
hängige Bürgerinitiative OWD-Info
828 Festnahmen. DiePolizei sprach von
1500 Teilnehmern; diese Zahl weicht
allerdings in derRegel um ein Mehr-
faches von derRealität ab.
Schon in den frühen Mittagsstunden
versetzten Einheiten der Nationalgarde
und Sondereinheiten der Polizei die
Innenstadt Moskaus in denAusnahme-
zustand. Zentrale Plätze undTeile des
Moskauer Boulevardrings wurden ab-
gesperrt, die Behörden hatten zahlrei-
che Geschäftsinhaber schon amVortag
aufgefordert, ihreLäden geschlossen zu
halten. Mehrere Beamte der National-
garde sagten russischen Journalisten,
sie seienmobilisiert worden, um «einen
Staatsstreich zu verhindern».
Die Behörden hatten offenbar eine
Ausweitung der Proteste vom vergange-
nenWochenende erwartet.Dabei waren
bei den seitJa hren grössten, ungeneh-
migten Protestaktionen etwa 10 000 bis
15000 Menschen auf die Strasse ge-
gangen. Bei den weitgehend friedlichen
Kundgebungen war es jedoch zu mehr
als tausendFestnahmen gekommen.


Chaotische Festnahmen


Zunächst erfüllte sich die Befürch-
tung nicht.Vorsorglich hatte diePoli-
zei bekannte Oppositionspolitiker wie
IljaJaschin, Dmitri Gudkow oderAle-
xei Nawalny wegenderTeilnahme an
nicht genehmigten Demonstrationen
mit Haftstrafen von bis zu 30Tagen an
derTeilnahme gehindert. Ljubow Sobol,
eine der ausgeschlossenenKandidatin-
nen, rief noch amFreitag dazu auf,sich
in unterschiedlichenTeilen der Innen-
stadt zu versammeln. Sie wurde am
Samstagmittag ebenfalls von derPolizei
festgenommen.
Die meisten Protestierenden, die sich
daraufhin unter die flanierenden Mos-
kauer mischten, hatten weder Plakate


bei sich, noch skandierten sie Losungen.
Eine Schätzung derTeilnehmerzahl war
kaum möglich. Dennoch ging diePolizei
dazu über, wichtige Plätzekomplett ab-
zusperren und Menschen zumTeil chao-
tisch aus der Menge herauszupicken und
festzunehmen.Augenzeugen berichten
zudem, dass das mobile Internet im
Stadtzentrum nur unter massiven Stö-
rungen funktioniert habe.
Erst am Nachmittag versammel-
ten sich mehr Demonstranten in der
Innenstadt. DiePolizei sperrte ganze
Strassenzüge ab.Auch die Zahl der
Festnahmen stieg rapide. Zahlrei-
cheVideos und Live-Streams bele-
gen, dass Beamtekörperliche Gewalt
und Schlagstöcke einsetzten. Am spä-
ten Nachmittag wurde die Metrosta-
tion amTr ubnaja-Platz geschlossen.
Dort hatten sich in denWochen zuvor
immer wiederAnhänger oppositionel-
ler Kandidaten und Demonstranten
für dieForderung von fairenWahlen
für das Stadtparlament versammelt.
Auch zahlreicheJournalisten wurden
vorübergehend inPolizeigewahrsam

genommen,etwa Luzia Tschirky, die
SchweizerRusslandkorrespondentin
des Senders SRF. Sie wurde jedoch
später wieder freigelassen.

Gewalt und Nachgeben


Offenbar ist der Plan der russischen
Machthaber, die Moskauer durch Ein-
schüchterung von den Protesten fern-
zuhalten, nurzumTeil aufgegangen.
VergangeneWoche hat das Ermitt-
lungskomitee einVerfahren gegen min-
destens zehnTeilnehmer der Demons-
trationen wegen«Teilnahme an Mas-
senunruhen» eröffnet, obwohl die
Sachbeschädigung in der Innenstadt
minimal blieb undkeine ernsthaften
Verletzungen vonPolizistenregistriert
wurden. DenVerhafteten drohen mehr-
jährige Gefängnisstrafen. Gleichzeitig
hat das MoskauerWahlkomitee den
Ausschluss des Oppositionellen Ser-
gei Mitrochin von derWahl aufgeho-
ben und eine Demonstration gegen den
Wahlausschluss für 10 0000 Teilnehmer
am Sacharow-Prospekt für den 10.Au-

gust genehmigt. «Die Machthaber sind
hin- und hergerissen und wissen nicht,
ob sie mehr Gewalt anwenden oder
eher nachgeben sollen», erklärt Abbas
Galljamow, Politologe und ehemaliger
Redenschreiber von Wladimir Putin,
auf Anfrage der NZZ. BeideVarianten
hätten dieLage bisher aus Sicht der
Regierung nur verschlimmert. Die Zu-
lassung von Mitrochin und von künfti-
gen Demonstrationen sei einVersuch,
die Opposition zu spalten.
Gleichzeitigkönnte eine weitere ge-
waltsame Eskalation bewirken, dass
sich mehr Menschen mit den Demons-
tranten solidarisieren. «Noch gibt es
keineeindeutige öffentliche Meinung»,
sagt DenisWolkow,Vizechef des unab-
hängigen Meinungsforschungsinstituts
Levada. Die Protestunterstützer,ihre
Gegner und die Gleichgültigen seien
etwa drei gleich grosse Gruppen. «Insge-
samt sehen die Menschen die Moskauer
Stadtregierung positiv», erklärtWolkow.
Dieskönnte jedoch kippen, wenn gegen
die Demonstranten mit sehr harter Ge-
walt vorgegangen wird.

Polizisten nehmen eineFraufest, die gegen die Nichtzulassung von Oppositionskandidaten demonstriert hat. MAXIM SHIPENKOV / EPA

Als aus der Party Panik wurde


Ein junger Mann ertrinkt in der Loire – viel e Franzosen sehen dabei die Polizei in der Verantwortung


NINA BELZ,PARIS


In mehreren französischen Städten
haben sich amWochenende zwischen
ein paarDutzend und mehreren tausend
Personen versammelt, um eines jungen
Manneszu gedenken, der vor mehr als
einem Monat in der Loire ertrunken ist.
In Nantes, der Heimatstadt des Opfers,
kam es am späteren Samstagabend zu
Ausschreitungen und 42 vorläufigen
Festnahmen. DerTod von Steve Maia
Caniço ist für vieleFranzosen zu einem
Symbol eines unverhältnismässigenPoli-
zeieinsatzes geworden, für den niemand
dieVerantwortung übernehmen will.


VerheerenderTränengaseinsatz


Über fünfWochen lang war derVer-
bleib des 24-Jährigen unklar gewesen.
Er verschwand in der Nacht vom 21. auf
den 22.Juni, nachdem er mitFreunden
das traditionelleFête de la Musique in
Nantes besucht hatte. Sie warenTeil einer
Gruppe von jungen Leuten,die sich am
frühen Samstagmorgen an einerFreiluft-
party am Ufer der Loire aufhielten.
Die riesigen Boxen wurden auch
nach 4 Uhr nicht ausgeschaltet, obwohl


dies von den Behörden verlangt wor-
den war. DiePolizei rückte ein erstes
Mal an.Weil dieVeranstalter ihren An-
weisungen nichtFolge leisteten, kamen
die Beamten gegen 4 Uhr 30 zurück.
Nach derenAussage wurden sie von
denFeiernden mit Flaschen und Stei-
nen beworfen, worauf sie mitTr änengas
und Gummischrotreagierten.Auf ver-
wackeltenVideos, die im Internet kur-
sierten, wird sichtbar, wiePolizisten ein-
zelne derFeiernden mit Gummiknüp-
peln traktierten.
LautAugenzeugenberichten – unter
anderem Samariter – brach unter den
Partybesuchern Panik aus. Die her-
beigerufeneFeuerwehr musste 14 von
ihnenaus der Loireziehen. Es ist bis
heute nicht eindeutig geklärt, ob sie
insWasser fielen oder sich miteinem
Sprung vor derPolizeirettenwollten.
Das Partygelände befand sich auf der Ile
de Nantes, direkt am Ufer des Flusses.
DerVerdacht, dass Steve Maia Caniço
der15. war, kam seinem Umfeld schon
bald, weil sein Handy ausgeschaltet war
und er sich nicht meldete.
Er erhärtet sich, als Caniço am Mon-
tag nicht zur Arbeit erschien. Er arbei-
tete als Betreuer in einem Kinderhort

und galt als zuverlässig. Zudem gaben
Personen aus seinem Umfeld zu Pro-
tokoll, dass Caniço nicht schwimmen
konnte. DemVerdacht, dass er unter
dem Einfluss von bewusstseinsverän-
dernden Substanzen gestanden haben
könnte, hielten sie entgegen, dass Ca-
niço kaum getrunken undkeine Dro-
genkonsumiert habe.

Abwehrhaltung der Behörden


Schon der Umstand, dass es fünfWochen
dauerte, bis die Leiche des jungen Man-
nes gefunden wurde, trieb inNantes
Woche fürWoche Menschen auf die
Strasse, die den Behörden schwereVor-
würfe machten. Ihr Zorn wurde noch
grösser, als der Regierungschef und
der Innenminister vergangenen Diens-
tag vor die Presse traten und verkün-
deten, dass es laut einer ersten Unter-
suchung derPolizeiinspektionkeinen
Zusammenhang zwischen demPolizei-
einsatz und demTod Caniços gebe. Der
Umfang und die Art des Einsatzes seien
laut den Inspektoren «berechtigt» und
«nicht unverhältnismässig» gewesen.
DerRegierungschef Edouard Philippe
sagte allerdings auch, dass diese Er-

kenntnisse nicht zufriedenstellend seien
und die genauen Umstände jener Nacht
am Ufer der Loire im Unklaren blieben.
Dass derFall von Steve Maia Caniço
über seine Heimatstadt hinaus Emotio-
nen schürt, zeigt ein verbreitetes Miss-
trauen gegenüber derPolizei und deren
Fähigkeit, ihre eigenenReihen zukon-
trollieren. Es ist nicht lange her, dass im
Umfeldder «gilet jaunes»-Proteste ein-
mal mehr über die Sinnhaftigkeit des
Einsatzes von hartem Gummischrot dis-
kutiert wurde.
Mehr als hundertPersonen wurden
durch dessen unsachgemässen Ein-
satz im Umfeld der Demonstrationen
schwer verletzt, manche verloren das
Augenlicht. Es entsteht der Eindruck,
dass Polizisten unverhältnismässig
hart durchgreifen und dafürnichtzur
Rechenschaft gezogen werden.Aller-
dings haben rund 50 Prozent derFran-
zosen nach wie vorVertrauen in die
Polizei – das sind mehr als noch vor
siebenJa hren.Das zeigt eine Umfrage
des Meinungsforschungsinstituts Ifop
der vergangenenWoche. Auch finden
68 Prozent, dass diePolizei effizient
sei, doch hegen nur 21 ProzentSym-
pathie für sie.

Iranische


Störmanöver im


Persischen Golf


Trump soll Irans Aussenmini ster
eingeladen haben

INGAROGG

Zum dritten Mal innerhalb eines Monats
haben die iranischenRevolutionswäch-
ter imPersischen Golf einen ausländi-
schen Öltanker in ihreGewalt gebracht.
Nach eigenen Angaben beschlagnahmte
die mächtige Tr uppe am vergange-
nen Mittwoch ein Schiff, das angeblich
700000 Liter iranisches Benzin schmug-
geln wollte. DerFrachter stammte laut
offiziellen iranischen Angaben aus dem
Irak, die sieben festgenommenen See-
leute seienunterschiedlicher Nationali-
tät. Der Öltanker soll in der Nähe der
Farsi-Insel festgesetzt und von dort in
den Hafen von Busher geschleppt wor-
den sein. Die karge, kleine Insel liegt
nördlich der Strasse von Hormuz im
Persischen Golf. Sie beherbergt einen
Marinestützpunkt derRevolutionswäch-
ter. Ende der achtzigerJahre verübten
diese von dort Angriffe auf den Schiffs-
verkehr. Das geschmuggelte Benzin sei
von anderen Schiffen auf denTanker ge-
laden worden und für die Golfstaaten
bestimmt gewesen, sagte einKomman-
dant derRevolutionswächter.

Schmuggel lohnt sich


Iranisches Benzin ist billig,weil es sub-
ventioniert wird. Deshalb wird es in
grossem Stil geschmuggelt, nicht nur
auf demLand-, sondern auch dem See-
weg. Möglicherweise war die «Riah», die
MitteJuli plötzlich spurlos verschwand
und deren BeschlagnahmungTeheran
später einräumte, ebenfalls in eine der-
artige Schmuggeloperation involviert.
Der Schmuggel findet freilich unter den
Augen derRevolutionswächter statt,
die lautKennern der Schattenwirtschaft
daran auch kräftig mitverdienen.
Dass sie jetzt plötzlich solchen Eifer
an denTag legen, angeblichen Schmugg-
lern das Handwerk zu legen,könnte
zwei Gründe haben: Sie wollen erstens
der iranischen Öffentlichkeitdemons-
trieren, dass sieRecht und Gesetz durch-
setzen.Daran zweifeln nach der Kape-
rung der britischen «Stena Impero» und
anderen Provokationenauch Iraner.
Zweitens wollen sie den Amerikanern
und Europäern vorAugen führen, wozu
sie fähig sind, sollte sich derKonflikt am
Golf weiterverschärfen.
Die Spannungen haben stetig zuge-
nommen, seit der amerikanische Prä-
sident DonaldTr ump im Mai vorigen
Jahres aus dem Atomabkommen aus-
gestiegen ist. AlsReaktion auf die ame-
rikanischen Sanktionen hat Iran im
Juni begonnen,seineVerpflichtungen
aus demAbkommen zureduzieren. In
einem ersten Schritt begannTeheran
damit, mehr leicht angereichertes Uran
zu lagern als erlaubt. In einem zwei-
ten Schritt erhöhte es dieAnreiche-
rung über den vorgesehenen Grad hin-
aus. AmWochenende drohteAussen-
ministerJavad Zarif damit, dassTehe-
ran stillgelegte Zentrifugen wieder in
Betrieb nehmen werde, um die Anrei-
cherung auf 20 Prozent zu steigern.Das
wäre das rundFünffache dessen, was das
Atomabkommen erlaubt, und es wäre
ein wichtiger Schritt für die Produktion
von waffenfähigem Spaltmaterial.

Zarif gibtTrump einen Korb


Unterdessen bestätigte das Umfeld von
Zarif,dassTr ump denAussenminis-
ter imJuli insWeisse Hauseingeladen
hatte. Der «NewYorker» hatte amFrei-
tag berichtet, dass derrepublikanische
SenatorRandPaul als Mittler aufgetre-
ten sei.Zarif habedasTr effen jedoch
abgelehnt, weil er dafür vonRevolu-
tionsführer Ayatollah Ali Khamenei
keineRückendeckung erhalten habe.
Das hat Spekulationen genährt,Tr ump
habe Zarif wegen desKorbs mit Sank-
tionen belegt.Laut Zarif war es jedoch
umgekehrt.Laut dem Umfeld von Zarif
stand der Beschluss zum Zeitpunkt sei-
nesTr effens mitPaul bereits fest, dieser
habe vielmehr gehofft,Tr ump liesse sich
durch eine persönliche Begegnung mit
Irans Chefdiplomaten umstimmen.
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