Neue Zürcher Zeitung - 05.08.2019

(Dana P.) #1

4INTERNATIONAL Montag, 5. August 2019


Bolsonaro und seine eigene Wahrheit


Brasiliens Präsident leugnet Verbrechen der Militärdiktatur – seine Fehde mit der Vergangenheit vergiftet das po litische Klima


THOMAS MILZ, RIO DEJANEIRO


Jair Bolsonaro ist verärgert über Bra-
siliensAnwaltskammer. Sie habe Er-
mittlungen zu der auf ihn im September
verübte Messerattacke behindert, so der
Präsident letzteWoche. Dann machte
er diese persönliche Angelegenheit zur
Staatsaffäre. Falls der Präsident der An-
waltskammer, Felipe Santa Cruz,wissen
möchte,wieseinVatertatsächlichgestor-
ben sei,könne er es ihm gerne erzählen.
FernandoSantaCruz, Mitglied einer
Oppositionsgruppe, war im Februar
1974 von den Militärs zuTode gefol-
tert worden. Bisher gab es darankei-
nen Zweifel.Vor der staatlichenWahr-
heitskommission, die von 2011 bis 20 14
die Verbrechenjener Zeit aufarbei-
tete, gab gar ein Soldat zu, den Leich-
nam verbrannt zu haben. DieKommis-
sion für Ermordete undVerschwundene,
die seit1995 das Schicksal von Opfern
untersucht, hatte erst wenigeTage zu-
vor derFamilie Santa Cruz den offiziel-
len Totenschein zugestellt.Darin über-
nimmt der Staat die volleVerantwor-
tung für die Ermordung.
Doch Bolsonaro legte nach.In Wahr-
heit sei Santa Cruz von seinen eigenen
linken Kameraden bei internen Macht-
kämpfen umgebracht worden, so der
Präsident in einem Live-Video, während
er sich die Haare schneiden liess. Das
habe man sich damals in den Kasernen
erzählt,sagte der ehemaligeFallschirm-
jäger. Beweise dafür habe er nicht.
Herzlos sei er, grausam gegenüber
den Angehörigen,so die Reaktionen.
Doch Bolsonaro legte trotzig nach. Die
Dokumente der Wahrheitskommis-
sion seien «Blödsinn». Zudem entliess
er vier Mitglieder derKommission für
Ermordete undVerschwundene. Nun
sitzen dort seine Gefolgsleute, unter
ihnen zwei Militärs. Er sei nun einmal
ein Rechter, weshalb statt«Terroristen»
jetzt Leute dort sässen, die wie er däch-
ten, sagte Bolsonaro.


Umstrittene Amnestie


Nach der Rückkehr zur Demokra-
tie 1985 waren Diskussionen über die
Diktaturverbrechen tabu.Dafür sorgte
auch die1979 von den Militärs durch-


gedrückte Amnestie, die Militärs wie
Oppositionelle schützte. Schweigen war
der Preis für den Neuanfang. Lediglich
Opferfamilien störten die Grabesruhe,
ve rlangtenAufklärung über das Schick-
sal ihrer Angehörigen und die Bestra-
fung der Täter.
Im Jahr 2010 sah sich das Oberste
Gericht schliesslich gezwungen, über
eineRevision der Amnestie zu bera-
ten. Juristen überlegten, wie man die
Amnestie umgehen und die Täter be-
lan gen könnte.Wenn nicht strafrecht-
lich,dann zumindest zivilrechtlich.Doch
die Diskussionen liefen ins Leere, auch
weil das Militär klarstellte,dass Pando-
ras Box geschlossen bleibt. Genau wie
die Militärarchive.
Erst als DilmaRousseff, eine ehema-
lige Untergrundkämpferin, 2011 an die

Macht kam, kam Bewegung in die Dis-
kuss ion. DreiJahre lang sass sie unter
den Militärs in Haft und wurde bestia-
lisch gefoltert. Nun sollte eine nationale
Wahrheitskommission jenetrau mati-
scheZeitaufarbeitenundwenigstensdie
Wahrheit ans Licht bringen, wenn eine
Strafverfolgung schon unmöglich war.
In Hunderten von Anhörungen er-
zählten ehemalige Militärs und Opposi-
tion elle ihreVersionen der Geschichte.
Der im Dezember 2014 vorgelegte Ab-
schlussbericht sprach von 434 Ermor-
deten undTausenden von Gefolterten.
Eine breite gesellschaftliche Diskus-
sion, wie vonRousseff ersehnt, löste
der Bericht jedoch nicht aus. Stattdes-
sen trug er zur weiterenPolarisierung
bei.Teile desMilitärs fühlten sich un-
gerecht behandelt.

Gewinner derPolemik war der bis
dahin stets belächelte Hinterbänkler
Bolsonaro. Seine Militärkarriere endete
einst, nachdem er in einer Zeitschrift
einen höheren Sold gefordert hatte. So-
gar Bomben habe er in Kasernen aus
Protest zünden wollen.Aus der Kaserne
ging es direkt in diePolitik, wo Bolso-
naro schnell merkte, dass dieVerteidi-
gung der Diktaturzeit ihm enormeAuf-
merksamkeit garantierte.
Als Opferfamilien die Exhumierung
der am Araguaia-Fluss verscharrten
Oppositionellen forderten, brachte er
ein Schild an seiner Bürotür an mit der
Aufschrift:Wer Knochen sucht, ist ein
Hund. ImJahr 2013 versuchte er Ange-
hörige der brasilianischenWahrheits-
kommission am Betreten eines Militär-
geländes in Rio deJaneiro zu hindern,

auf dem bis zu 800 Menschen gefoltert
worden waren.
Sich alsVerteidiger der Militärs zu
gebärden, war auch eine persönliche
Genugtuung. Die für ihn peinlichen
Gutachten seiner ehemaligenVorge-
setzten, nach denen er von Streben
nachAufmerksamkeit und finanziellem
Erfolg getrieben sei, waren für ihn stets
ein Makel.Nun gewann er dieAnerken-
nung der alten Militärgarde, die eine
vertiefteAufarbeitung der Diktaturzeit
fürchtete. Im Wahlkampf 2018 dankten
sie es ihm mit breiter Unterstützung. In
Bolsonaros Kabinett sitzen heute mehr
Militärs als während der Diktatur.

Im Namendes Chef-Folterers


Zum «Mythos», wieihn seine Anhän-
ger feiern, wurdeJair Bolsonaro jedoch
durch seinenFrontalangriff aufRous-
seff. Während des Impeachments im
April 2016 widmete er seine Stimme
gegenRousseff dem Chef-Folterer Car-
losAlberto Brilhante Ustra,verantwort-
lich fürDutzende von Morden. Ustra
brüstete sich stets damit, Brasilien vor
einer kommunistischen Diktatur be-
wahrt zu haben. Seine Biografie ist Bol-
sonaros Lieblingslektüre.
Dass Bolsonaro ausgerechnet den
Chef-Folterer Ustra verehrt, missfällt
auchvielen Militärs. Es wäre ihnen lie-
ber, wenn der Präsident moderatere
Persönlichkeiten jener Zeit würdigen
würde.Doch dieFigur des Helden, der
dem Kommunismus trotzt, sprichtJair
Bolsonaro an. Gerne erzählt er, als
Jugendlicher dem Militär bei derVer-
folgung vonKommunisten geholfen
zu haben. Ob das stimmt, ist allerdings
fraglich.
Sein persönlicher Kreuzzug, der Lin-
ken alles Übel anzulasten,geh t mittler-
weile über Brasiliens Geschichte hin-
aus. Bei einem Besuch der Holocaust-
GedenkstätteYad Vashem erklärteer
jüngstAdolf Hitlers NSDAP zu einer
linkenPartei. AmFreitag bedauerte er
die Opfer beider Seiten während der
Diktatur. Schuld sei jedoch die Oppo-
sition mit ihrenkommunistischen Idea-
len .Hätte sie die Herrschaft der Mili-
tärs akzeptiert, wäre das alles gar nicht
erst geschehen.

Brasiliens PräsidentBolsonarohat aus seinerPolemik über die Militärdiktatur politisches Kapital geschlagen. ADRIANO MACHADO / REUTERS

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