Neue Zürcher Zeitung - 05.08.2019

(Dana P.) #1

8 MEINUNG & DEBATTE Montag, 5. August 2019


Seit es massenmediale


Ve rgessensblocker gibt,


können wir nicht mehr


zu uns selbst finden;


wir leben immerfort


im Modus des


«Reagierens-auf».


«Glücklich ist, wer vergisst»,so heisst es in der
«Fledermaus» (1874) vonJohann Strauss, während
alle Liebespaare,die einander betrogen haben –
und wieder betrügen werden –, sich am Schluss
verliebt in die Arme sinken.Das Lebenskunststück
gelingt nur, weil man vergisst, «was doch nicht zu
ändern ist», wobei der Champagner dieVergessens-
laune in perlende Höhen treibt.
Schon vor einemJahrzehnt schrieb der Musik-
journalist Axel Brüggemann im deutschenWochen-
magazin «Stern»:«Die vielgeschmähteKunst der
Operette beweist so aber, dass sie die Kraft hat, die
Welt als Satire zumTanzen zu bringen.» Er liess uns
wissen, dass dierechteKunst desVergessensdarin
besteht, an derWahrheit, die alle liebenden Her-
zen in Bitternisund Starreverwandelnwürde,vor-
beizutanzen – lallend zwar, aber im Dreivierteltakt.
Nun, dieseZeit der sittsamenTugendlosigkeit,
der epochal untergangsgestimmtenVergessensto-
leranz desFin de Siècle ist lange vorbei.«T heEnd
ofForgetting» heisst das kürzlich publizierte Buch
von Kate Eichhorn,einerKulturwissenschafterin
ander NewYorker New School.Warum das Ende
desVergessens?Weil, so Eichhorns wenig über-
raschendeThese, im Universum der sozialen Netz-
werke nichts verloren geht;und je früher man als
junger Mensch beginnt, sich dort zu äussern, zu
exponieren,Fotos von sich und seinenFreunden
zu posten, umso weniger wird man später noch in
derLage sein, seinerVergangenheit zu entkommen,
bis hinein ins kleinkindlicheTöpfchenalter.


Alles lustvoll ins Netz


Schliesslich sind heutzutage nicht wenige Eltern
Tag fürTag damit beschäftigt, die Entwicklung
ihrer lieben Kleinen mit möglichst originellen Bil-
dern zu dokumentieren.Dass es dann aber dem
pubertierenden Sohn – nennen wir ihn Sam – zu
einer Identitätsfalle werden mag, wenn seine Mit-
schüler entdecken, wie er als Dreijähriger mit einer
Mädchenperücke, «likean angel», und sonst nackt,
wie Gottihn schuf,abgelichtetund aufFacebook
gestellt wurde – das war damals, als solche «love
jokes» noch harmlos schienen, den Eltern nicht in
den Sinn gekommen.
Wie ging es weiter mit Sam? Mobbings an unter-
schiedlichen Highschools. Später wurden potenzielle
Arbeitgeber imRahmen derroutinemässigenInter-
netüberprüfung auf das erwähnte Kindheitsfoto
aufmerksam.WeitereRecherchen ergaben – auch
Arbeitgeber leben im Zeitalter derPolitical Cor-
rectness –, dass Sam ein Scheidungskind war, dessen
Vater sich einesTages als bisexuell outete. Er war
einer jener LGBT-Gruppen beigetreten– «LGBT»
für«Lesbian, Gay, Bisexual,Tr ansgender» –, die teils
ihreAndersheit beanspruchten,teils als normalund
daher gleichberechtigt gelten wollten.
Sam hingegen, als junger Erwachsener vielfach
traumatisiert wegen seines Nacktfotos mit Engels-
perücke, engagierte sich seinerseits bei einemVer-
ein zurWahrung christlicherWerte, der das LGBT-
Movement als gottlos und pervers brandmarkte.
Entsprechende Statements, allesamt politisch in-


korrekt,sind nach wie vor aufYoutube einsehbar.
Deshalb wurde in jedemFall voneiner Anstellung
Sams bedauernd Abstand genommen.
Mittlerweile ist Sam dabei, sich «neu zu erfin-
den». Er hat als freierJournalist der Internet-Com-
munity mitgeteilt, sein sexistischesVerhalten von
ehedem tief zu bedauern, nicht ohne ein Coming-
out anzufügen: Er, Sam, fühle sich seit je zuinnerst
alsFrau.Auf seinem Blog sieht man ihn mit super-
stoffblonder Dragqueen-Perücke, eineregenbogen-
farbige LGBT-Flagge schwenkend, die seine Blösse
umweht...
Das geschilderte Szenariobesteht ausVersatz-
stücken, die für das Leben vieler Zeitgenossen und
erstrecht derer, die heute in das digitale Univer-
sum hineinwachsen, prägend sind und sein werden.
In der präelektronischen Zeit waren die persön-
liche Entwicklung und diespätereLebenslaufbahn
zwar locker durchVorkommnisse in der Kindheit
undJugend geprägt. Gleichzeitig wurde vieles ver-
gessen oder im Lichte derPersönlichkeitsreifung
neu gesehen und bewertet.DasModellder Selbst-
verwirklichung funktioniert nur,solangeesweisse
Flecken und formbare Erzählepisoden in der Bio-
grafie eines Menschen gibt.
Während in China die Überwachung total,
doch weitgehend geheim ist, wird bei uns, im libe-
ralen, menschenrechtsbewussten, individualisti-
schenWesten, das legitim Geheime, weil Private
zusehends lustvoll ins Netz gestellt.Man verzichtet,
scheint’s, freiwilligaufalle dunklenEcken, Ambi-
valenzen,Hintertüren des eigenen Lebens. Und
die gar nichttrivialeFrage lautet:Warum?Wo-
herkommt diese – man findet kaum ein passendes
Wort – Publizitätspsychose?
Verschiedenes mag hier zusammenwirken, pri-
mär die allzu menschliche Eitelkeit, sich selbst
und sein «Eigenstes» öffentlich zu präsentieren,
es denWeltstars gleichzutun. Hinzu tritt die spe-
zielleReizbarkeitder postmodernen Psychodyna-
mik.Diese hat das Modell der Selbstverwirklichung
durch die permanente Anstrengung ersetzt, «sich
selbst neu zu erfinden». Die klassische Bildungs-
ge schichte wurde vor einem offenen Horizont ge-
schrieben:«Wasduererbt vondeinenVätern,er-
wirb es, um es zu besitzen» (Goethe). Nun formen
Brüche die «seriellePersönlichkeit» des Einzelnen.
Dabei unterliegt der höchstpersönliche Narzissmus
ironischerweise den sozial normierten Schemata,
wie das alte Selbst gegen eine frische Individuali-
tät auszutauschen sei.
War etwa der ÖsterreicherThomas«Tom» Neu-
wirth am Eurovision Song Contest 20 14 noch als
sanftbärtigeFrau in damenhaftem Outfit zu bewun-
dern,so wandelte er sich in derFolge – Methode:
scharfer Schnitt–, bis er denWiener «LifeBall»
2019 als halbnackter Ledertyp mit Genitalschutz
und Nieten moderierte.Vom Käfig voller Narren
bi s zur strengen Kammer istkein innererWand-
lungsprozess mehr im Gange,derauf ein Ent-
wicklungsziel verwiese. Der beliebigrepetierbare
Durchlauf medial allzeit verfügbarer Bilder ver-
langt nach einer automatenhaften Absetzbewe-
gung, weg von der eigenenVergangenheit, hin zu
einer neuen Existenzpassage.

«Werde, der du bist.» Ist erst alles, Erwünschtes
und Unerwünschtes,im globalen Netz für alle Zei-
ten festgehalten und imPrinzip von allen einsehbar,
dann wird «Authentizität» ein leerlaufendesWort.
Gewiss, authentisch zu leben, war stets ein Grenz-
wert.Im Idealismus des19.Jahrhunderts machte
daher der Begriff «Entfremdung» Karriere, der bis
in den Marxismus hinein wirkte. Entfremdung von
sich selbst hiess: wesensfremden Zwecken unter-
tan zu sein, ob diese nunreligiöseroder ökonomi-
scher Natur waren.

Alter Hass, neue Mordlust


Dass der humanistisch geprägte Mensch authen-
tisch, also nicht entfremdet leben wollte, drückte
seinVerlangen aus, «sich selbst zu finden» – Goe-
thesFaust und Stifters Protagonistim«Nachsom-
mer» sind herausragende literarische Beispiele. Der
Mensch hingegen, der sich immer wieder neu erfin-
det, gleichtTantalus, dem dasWasser grausam vor
dem Munde zurückweicht:Während er jede künst-
liche Neuformierung seinesPersönlichkeitsdesigns
als Lebendigkeitsgewinn verbucht,kreierter eine
seelenlose Gestalt – einen potenziell unendlich
hochladbaren Digitalzombie.
Im «Loading», zumal im Herunterladenunse-
res digitalen Alter Ego aus einer elektronischen
Cloud – was für einJenseitssymbol! –, liegt für
viele User etwas ähnlich Numinoses, wie es das
mittelalterliche Bild der Engel vermittelte, die auf
der Himmelsleiter auf und ab glitten. Es sind die

GurusdesPosthumanismus, die solcheTr äume be-
flügeln,indem sie – wieeinst der britische Philo-
soph DerekParfit in seinemWerk «Reasons and
Persons» (1984) – vom Abspeichern des Bewusst-
seinsreden. Im Gegensatz zu verderblichem Bio-
material sichere eine beliebig erneuerbare Sili-
konbasis die Überwindung desTodes. Unerwähnt
bleibt, dass die Geburt des Bewusstseins aus einer
elektronischen Hardware zu den Mythen der Sci-
ence-Fiction gehört.
Spätere Historiker werden in dieser Art von
Existenzialpathologie vielleicht nicht nur unser
Schicksalder Entfremdung,sondern auch den
zeitgemässenAusdruck unseres Unsterblichkeits-
verlangens erkennen.Dabei wird der Geschichts-
schreibung nicht entgehen, dass das individuelle
Nicht-vergessen-Können dank einer «unsterb-
lichen» Matrixetwasgrundsätzlich anderes ist als
daskollektive Nicht-vergessen-Können der eige-
nenVergangenheit. Mit demVergessen von Kriegs-
greueln oderVerbrechen gegen die Menschlichkeit
kommt seit je eine triste Dialektik ins Spiel.
Hier führt programmiertes Erinnern aus dem
Computer bisweilen zur Katharsis, einer ausglei-
chenden Gerechtigkeit; indessen sind manches Mal
ein feuersbrunstartigesAufflammen des alten Has-
ses und eine neue Massenmordlust dieFolge.Politi-
sche Anamnese imWorldWideWebist und bleibt
ein zweischneidiges Schwert. Niemand kann heute
schon abschätzen, was die Unfähigkeit, historische
Flächenbrände und ihre Initialereignisse zu verges-
sen, imdigitalen Universum weltgeschichtlich noch
bedeuten wird.
Denken wirandie hunderttausendfachreprodu-
zierten Bilderder einstürzenden NewYorkerTwin
Towers nach dem Einschlag derTerrorflugzeuge
am 11.September 2001.Vielleicht wäre unsere
westliche Einstellung zum Islameine andere, weni-
ger alarmierte, weniger aggressive,hätte es nicht
jenesDauerbombardement mit den immer selben
Bildern gegeben: Hier wurde durch eine Endlos-
schleife das Höllentor geöffnet. Es ist, als ob dem
Unterbewusstsein unserer Zivilisation eingehäm-
mert worden wäre: Mene mene tekel ,«gewogen und
für zu leicht befunden».
Ähnliches gilt für andere massenmedialeVer-
gessensblocker. Seit es sie gibt, können wir – falls
wir, die zerstrittene westlicheWelt, beanspruchen
dürfen, ein«Wir» zu sein – nicht mehr zu uns selbst
finden;wirleben immerfort im Modus des «Reagie-
rens-auf». Wir reagieren auf die Bedrohung durch
die Scharia, die Massenmigration, denWelthunger,
dasWeltverbrechen, die Klimakatastrophe, die ato-
mareAufrüstung. Für sämtlicheReiter der Apoka-
lypse haben wir unterdessen Myriaden an Doku-
menten imNetz, die, indem sie uns permanent auf
all dasVertane,Verlorene, Böse fixieren, uns nicht
mehr in eine Zukunft entlassen, die Beethovens
Neunte auf ewig überwältigend feiert: «Freude,
schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium...»

Peter Strasserist Univ ersitätsprofesso r i. R. Er lehrt an der
Karl-Franzens-Universität Graz Philosophie. Letzte Buch-
publikation: «Die ganze Wahrheit. Aufkläru ng über ein Para-
doxon». Schwabe-Verlag, Basel 2019.

Wa s, wenn


wir nicht mehr


vergessen


können?


Wenn im Universum der sozialen Netzwerke


nichts mehr verloren geht, kommt das Vergessen


zu einem Ende. Alles scheint netztauglich und


aufbewahrenswert. Der Wunsch nach


digitaler Ewigkeit aber wird zur individuellen


wie kollektiven Existenzialpathologie.


Gastkommentar von Peter Strasser

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