Neue Zürcher Zeitung - 03.08.2019

(Barry) #1

Samstag, 3. August 2019 ∙Nr. 177∙240. Jg. AZ 8021Zürich∙Fr. 5.20 ∙€5.


Chin esische Übernahmen:Auf den Kaufrausch folgt Ernüchterung Seite 10


Aufsicht im Fall Lauber


zurückgepfiffen


Gericht akzeptiert externen Untersuchungsleiter nicht


dgy.· DieAufsichtsbehörde über die
Bundesanwaltschaft (AB-BA) hätte
die Disziplinaruntersuchung betreffend
Bundesanwalt Michael Lauber nicht
an eine Drittperson delegieren dür-
fen. Dies hält das Bundesverwaltungs-
gericht in einem wegweisenden Urteil
fest. Die AB-BA hatte imJuni Peter
Hänni, einen emeritierten Professor für
Staats- undVerwaltungsrecht,beauf-
tragt,die Untersuchung zu leiten.Zuvor
war fast zwei Monate nach einer geeig-
netenPerson gesucht worden.AlsFolge
des Gerichtsentscheidshat dieAB-BA
die Untersuchungsleitung nun wieder
übernommen.
Pikant: Aus dem Entscheid des
Bundesverwaltungsgerichts geht her-


vor, dass sich die AB-BA nicht in der
Lage sah, nebst der sonstigenAufsicht
über die Bundesanwaltschaft unter er-
heblichem Zeitdruck eine Disziplinar-
untersuchung durchzuführen. Zum
einen seien die Mitglieder der AB-BA
im Nebenamt tätig, zum anderen fehle
es amFachwissen und an derFähigkeit,
eine entsprechende Untersuchung sel-
ber korrekt vorzunehmen.
Dennoch strebt dieAufsicht über
die Bundesanwaltschaft weiterhin eine
verzugslose Untersuchung an, wie sie
geg enüber der NZZ erklärt.Laubers
anstehendeWiederwahl in der Herbst-
session soll nicht verschoben werden.
Schweiz, Seite 11
Kommentar, Seite 11

Geldpolitik lähmt Marktwirtschaft


Die Notenbanken wollenvonihrer Krisenpolitik nicht lassen. Das ist gefährlich, denn sie verzerren damit für eine Privatwirtschaft


zentrale Signale. Die Schweiz kann sich dem nicht entziehen, sollte aber weite stmöglich Widerstand leisten.VonPeter A. Fischer


Nach der Krise ist vor der Krise. Bevor die er-
sehnte Normalisierung der Geldpolitik richtig grei-
fenkonnte,hatdieUS-Notenbank(Fed)ihrerZins-
wendebereitseinunsanftesEndebereitet.Seitzehn
Jahren zum ersten Malsenkte sie ihren Leitzins, um
25BasispunkteauffürSchweizerOhrenimmernoch
hohe 2,0 bis 2,25 Prozent.Mario Draghi, der schei-
dende Präsident der EuropäischenZentralb ank
(EZB),denkt derweil in seinem immerwährenden
«Whateveritt akes»-Modus bereits weiter.Der (ne-
gative) Einlagensatz für Guthaben derBanken bei
der EZBkönnte weiter gesenkt werden und das
erstEndevergangenenJahresabgeschlosseneWert-
papierkaufprogramm wieder aufgenommen wer-
den, lässt er verlauten. Der weltweit grösste insti-
tutionelleVermögensverwalter Blackrock gibt der
EZBdazudenwohlnichtganzuneigennützigenRat,
nicht mehr nur Staats- und Unternehmensanleihen,
sondern neu auchAktien zu kaufen. Um dasWirt-
schaftswachstum anzukurbeln, scheint es immer
mehr und immer neue Instrumente zu brauchen.
Extrem billiges Geld soll Investoren dazu ver-
leiten, in risikoreichere Projekte zu investieren, als
ihnen sonst lieb wäre, und Banken dazu, Kredite zu
vergeben.Tiefe oder gar negative Zinsen erleich-
tern es, auf Kredit mehr auszugeben. DieWert-
papierkäufe der Zentralbanken treiben mit den
Zinssenkungen Börsenkurse undVermögenspreise
in die Höhe. Das sollVermögenden das Gefühl ge-
ben, reicher zu sein, damit sie mehrkonsumieren
und investieren und so den PreisenAuftrieb ver-
leihen. Doch all das funktioniert nursehr bedingt.
Das Potenzialwachstum einerVolkswirtschaft wird
eben nicht von den Zentralbanken bestimmt, son-
dern vom Bevölkerungswachstum, von der Kapi-
talstärke und derWettbewerbsfähigkeit, Inno va-
tionsstärke und Struktur ihrerFirmen. Signalisie-
ren Notenbanken laufend Krisenstimmung, haben
Firmen guten Grund,ihre Investitionen mangels er-
warteter Nachfrage zurückzustellen, während Spa-
rer verstärkt vorsorgen, statt zukonsumieren.
Den Notenbanken ist zugutezuhalten, dass das
Finanzsystem ohne ihre energischeReaktion wäh-
rend der grossenFinanzkrise vielleicht tatsächlich
zusammengebrochen wäre und dieWirtschaft in
den USA, Europa und der Schweiz deutlich grös-


seren Schaden erlitten hätte. Extreme Situationen
verlangen manchmal nach beherzten, unkonven-
tionellen Massnahmen. Doch heute? Ist diekon-
junkturelleLage wirklich noch derart schlecht,dass
si e es denNotenbankern partout nicht erlaubt, aus
ihrem Krisenmodus herauszufinden?Wenn nach
gu t zehnJahrendesAufschwungsder amerika-
nische Präsident DonaldTrump in seinenTweets
(noch) mehr Unterstützung durch dasFed einfor-
dert und Anleger begierig darauf wetten, sollte das
die Alarmglocken schrillen lassen.

SchleichendeVerstaatlichung


In den USA hat sich dasWachstum des Brutto-
inlandprodukts (BIP) zwar leicht abgeschwächt, es
beträgt aber annualisiert immer noch gut 2 Prozent
und liegt damit wohl etwas überseinem mittelfris-
tigenPotenzial. Die Inflation bewegt sich nahe am
Zielbereich, und die Arbeitslosenquote ist so tief
wie seit fünfzigJahren nicht mehr. Ein Leitzins von
gut 2 Prozent sorgt für einereale Verzinsungvon
Sparguthaben von nahe null.Das ist ausserordent-
lich wenig, selbst wenn man in Betracht zieht, dass
das natürliche Zinsniveau durch den technologi-
schenWandel und die Alterung der Bevölkerung
wahrscheinlich gesunken ist.
In der Euro-Zone fallenWirtschaftswachstum
und Inflation mit je gut einem Prozent geringer aus
als in den dynamischeren USA, aber eine schwere
Rezession sehen auch die Hüter des Euro nicht am
Horizont. Die Wachstumsschwäche mancher Euro-
Länder hat strukturelle Ursachen und kann mit bil-
ligem Geld nichtkorrigiert werden. Die Leitzinsen
der EZB führen längst zu schmerzhaften Kaufkraft-
verlusten auf Sparguthaben, und die sture Fixierung
auf das von der EZB selbst gewählte Ziel, die Infla-
tion auf «unter, aber nahe 2 Prozent» zu zwingen,
wirktzunehmendgrotesk.Essiehtleiderganzdanach
aus,dass die Notenbankerind em Glauben,dasWirt-
schaftswachstumfeinsteuernundsodiestrukturellen
Schwächen in ihrenVolkswirtschaften überdecken
zu können, die Kollateralschäden übersehen,die sie
damitanrichten. Zu starkvereinfachende ökonomi-
scheModelleunterstützensiedabeiundblendenaus,

dass dieandauerndeKrisenpolitik zusehends zent-
rale Funktionen der Marktwirtschaft unterminiert.
Traditionell sucht Geldpolitik auf die kurzfristi-
gen Zinssätze einzuwirken, um das Preisniveau zu
stabilisieren. Mit ihrer unkonventionellenPolitik
liefern sich Notenbanken inzwischen einen inter-
nationalen Stimulationswettlauf,der zusehends
auch auf längerfristige Zinsen und auf eine Schwä-
chung der eigenenWährung abzielt. Der für die
Marktwirtschaft zentrale (Real-)Zins wird dadurch
derart verzerrt, dass er seine Signalfunktion verliert.
Sparer werden buchstäblich dafür bestraft, dass sie
Konsum in die Zukunft verschieben. (Zu) billiges
Geld versickert in Projekten, die kaumRendite ab-
werfen.Eigentlich nicht (mehr) wettbewerbsfähige
Firmen undFinanzinstitute werden mit zu günsti-
gem Geld künstlich am Leben erhalten. Die vom
österreichischen ÖkonomenJoseph Schumpeter als
für eine Marktwirtschaft essenziell diagnostizierte
«kreative Zerstörung» wird ausgebremst, was das
län gerfristigeWachstumspotenzial schmälert. Ita-
lien kann davon ein Lied singen.
Weitgehend unbemerkt droht diePolitik des zu
billigen Geldes zudemWirtschaft und Gesellschaft
schleichend zu sozialisieren.Wenn die EZB bald
ein Drittel mancher Staatsanleihen hält und damit
die Finanzierungskosten für Staaten künstlich tief
hält, wenn die Schweizerische Nationalbank (SNB)
in manchenkotiertenFirmen zu einem der grössten
Investoren wird, dann zeigt dies, wie Geldpolitik
die Wirtschaft zunehmenddominiert und den Ein-
fluss des öffentlichenSektors (zu dem ja auch die
mehr oder weniger unabhängigenZent ralbanken
gehö ren) vergrössert.Das ist ungesund. Mit dem
bi lligen Geld expandiert (in Krisenländern typi-
scherweiseauf Kredit)der bevormundendeStaat


  • zulasten der privaten Leistungsträger, von Jun-
    gen und künftigen Generationen.
    Kein Wunder auch, mehrt die vermeintliche All-
    macht der Zentralbanken die Begehrlichkeiten.
    Wieso nicht gleich die Zentralbanken Geld wie aus
    dem Helikopter an alle Haushalteregnen lassen?
    Oder Notenbanken dazu zwingen, Staatsausgaben
    sozufinanzieren,dassdieöffentlichenHaushaltesich
    leistenkönnen, was sie gerade wollen, wie es angel-
    sä chsischeVertreterdersogenanntenModernMone-


tary Theory fordern? Oder wenigstens die National-
bank zumÄufnen einesFonds verpflichten, dessen
Erträge die Altersvorsorge finanzieren? Aber wieso
eigentlich immernur Geld zugunsten der Älteren?
Wären nicht Zuwendungen zugunsten von Bildung
oder Kinderkrippen angebrachter? DenWünschen
sindkeineGrenzengesetzt.Dasabersindalleshöchst
gefährlicheVerirrungen.Wenn Notenbanken solche
fiskalischenAufgaben übernehmen,werden sie nicht
nurvölligpolitisiert.AuchNotenbankenkönnennicht
einfach freizügig Geld verteilen, ohne dass dies über
kurzoderlangentwederzuHyperinflationführtoder
zur direkten Enteignung von Sparern. Marktwirt-
schaft braucht marktbasierte (Leistungs-)Anreize,
«moderne»Verirrungen der Geldpolitik verzerren
diese oder setzensie ausser Kraft.

1.05 wäre keineKatastrophe


Eine Normalisierung ist überfällig, doch leider nun
noch weniger in Sicht als Ende vergangenenJahres.
Die traditionell etwaskonservativere, nicht auf ein
2-Prozent-Inflationsziel versessene Schweizerische
Nationalbankwirdsich dem nicht ganz entziehen
können. Die expansiverePolitik vonFed und EZB
führt bereits wieder zur Flucht in denFranken, des-
sen Kurs die psychologisch wichtige Markevon 1
Franken 10 pro Euro unterschritten hat. Die SNB
dürftemitvereinzeltenDevisenmarktinterventionen
versuchen, dieAufwertungserwartungen im Markt
etwas zu brechen.Dasändert nichts daran, dass sie
damit denFranken kaum dauerhaft wird schwächen
können. Die Schweiz muss wohl mit einem zumin-
dest zeitweise wieder etwas stärkerenFrankenrech-
nen. Die SNB sollte dem Zinssenkungswettlauf Wi-
derstand leisten und,selbst wenn die EZB ihre Zin-
sen noch etwas senken würde, nur nachziehen,wenn
wirklich eine Deflation oder eine ernsthafteSchä-
digung der SchweizerWirtschaft droht. DerKon-
sument profitiertvon einem starkenFranken, und
die Erfahrungen nach derAufhebung des Mindest-
kurses zeigen, dass die Schweizer Exportwirtschaft
mittlerweile wohl auch mit einer vorübergehenden
Erstarkung desFrankens auf etwa1.05 pro Euro le-
ben könnte. Der Marktwirtschaft zuliebe.

Trump verschärft


den Handelskonflikt


Die Androhung neuer Zölle erschüttert die Finanzmärkte


imr.· Nacheiner Phase der Deeskala-
tion setzt US-Präsident DonaldTrump
je tzt China im Handelskonflikt erneut
unter starken Druck. Er hat angekün-
digt,auf chinesischen Einfuhren im Wert
von 300 Milliarden Dollar am1. Septem-
ber einen Zollsatz von 10 Prozent ein-
zuführen. Die chinesischeRegierung
reagierte umgehend darauf. Man werde
Gegenmassnahmen ergreifen, sagte ein
Sprecherdes Aussenministeriums.
An den Finanzmärkten führten
Trumps Äusserungen zu Turbulen-
zen. Besonders in Europa gerieten die
Aktienkurse unter Druck.Das Schwei-
zer Börsenbarometer SMI hielt sich am
Freitag mit einemVerlust von 1,17 Pro-
zent vergleichsweise gut.

Das Erschrecken der Anleger war
umso grösser, als es eine Zeitlang da-
nach ausgesehen hatte, als würde der
Handelskonflikt nicht weiter eskalieren.
Am G-20-Gipfel EndeJuni hatten sich
China und die USA darauf geeinigt,vor-
läufig auf weitere Strafzölle zu verzich-
ten. Nun aber setztTrump seinenKurs,
gegenüber China periodisch die Schrau-
ben anzuziehen, fort. Mit seinen Mass-
nahmen bringter allerdings immer mehr
amerikanische Unternehmengegen sich
auf. Denn unter höheren Zöllen leiden
nicht nur die einheimischenKonsumen-
ten,sondern auch US-Unternehmen,die
Vorprodukte aus China beziehen.
Wirtschaft, Seite 23, 27
«Reflexe», Seite 32

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PD

RichardWagners
schwieriges Erbe

DieBayreutherFestspiele
deuteten die germanischen
in antike Helden um. Seite 36

9771420 531061


19177

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