Neue Zürcher Zeitung - 03.08.2019

(Barry) #1

22 PANORAMA Samstag, 3. August 2019


ZAHLENRÄTSEL NR. 177

SPIELREGELN«KR INGEL»:Die Ziffern 1
bis 7 sind so einzutragen, dass sie i n jeder
Reihe einmalvorkommen.Zwischenzwei
Feldern gilt: Ausgefüllt er Kreis: Eine Zahl
ist das Doppelte der anderen. Leerer Kreis:
Eine Zahl is t um 1 grösser als die andere.
Kein Kreis: Keine der beiden Eigenschaften
trifft zu.

Auflösung:
Zahlenrätsel Nr. 176

In Italiens Geisterdörfer kehrt Leben ein


Reisev eranst alter, Wohlhabende und die Filmindustrie helfen beim Wiederaufbau der «borghi fantasma»


MARC ZOLLINGER,ROM


Sie werden borghi fantasma genannt



  • Geisterdörfer, in denen der Mensch
    nichts mehr zu suchen hat.Lange Zeit
    hatte der Begriff eine negative Note.Als
    obein Geist aus vergangenen Zeiten in
    diesen Orten spuken würde. Ein Zeichen
    für Zerfall, für das Scheitern:Das länd-
    liche Italien hat den Sprung in die Mo-
    derne nicht geschafft. Doch zusehends
    wird klar, dass die scheinbar gottverlas-
    senen Anlagen sehr viel zu bieten haben.
    Gerade heute. Gerade weil sie während
    Jahren von der Zivilisation unberührt
    blieben. Sokonnte die Natur überneh-
    men. Mindestens 1500 Geisterdörfer soll
    es in Italien geben.Jenach Quelle und
    Zählmethode sind es sogar weit mehr,
    gegen 60 00. Die Zahl hängt davon ab, ob
    man nur die gänzlich entvölkerten Sied-
    lungen einrechnet oder auch solche, in
    denen noch eine Handvoll Seelen aus-
    harrt. In Italien sind verlassene Dörfer
    aussergewöhnlich zahlreich.Und das
    insbesondere in den abgelegenen Tälern
    des Apennins, der wirtschaftlich schwa-
    chenWirbelsäule Italiens.
    Die Entvölkerung der ländlichen
    Siedlungen setzte mit dem ökonomi-
    schenAufschwung ab den1960erJah-
    ren ein.Das bäuerliche Gefüge hielt
    nicht Schritt mitdenWünschen und
    der Kaufkraft der neuen Zeit. Und als
    eineFamilie nach der anderen wegzog,
    fiel auch die dörfliche Gemeinschaft in
    sich zusammen, die währendJahrhun-
    derten Halt gegeben und in vielenFäl-
    len ein autarkes Lebenermöglicht hatte.
    Andernorts waren es Naturkräfte, wel-
    che die Lebensadereines Dorfes emp-
    findlich trafen. Das lombardische Berg-
    dorf Consonno etwa wurde Opfer eines
    Bergrutsches. In den Abruzzen brach-
    ten starke Erdbeben viele der noch be-
    stehenden kleinen Dorfgemeinschaften
    insWanken. Naracauli auf Sardinien
    wiederum entvölkerte sich in den1960er
    Jahren, weil die Mine stillgelegt wurde,
    von der die Dorfbevölkerung lebte.


Kulisse für JamesBond


Eines der bekanntesten Geisterdörfer ist
Cività diBagnoregio beiViterbo in der
RegionLatium. «La città che muore»,
wird es genannt: das sterbende Städt-
chen, weil man dabei zuschauen kann,
wie dasTuffgestein, auf dem Cività er-
baut worden war,immer mehr zerbrö-
ckelt. Heute leben in der mittelalter-
lichen Siedlung, die nur noch über eine
Brücke erreicht werdenkann, nichtmehr
als zehnPersonen. Doch die Mischung
aus malerischer Schönheit, reicher Ge-
schichte und morbidem Zerfall ist für
denTourismus enorm attraktiv: In man-
chen Sommermonaten zählt man in Ci-
vità bis zu 50 000 Besucher. Ein ande-
rer Magnet ist CracobeiMatera in
Süditalien. Nach einem desaströsen
Erdrutsch imJahre1963 zusehends ent-
völkert, wurde das faszinierende Städt-
chen wiederholt alsFilmkulisse ausge-
wählt.Neben vieleneinheimischen Pro-
duktionen bot Craco eine Bühne für
James Bond in «Quantum of Solace».
Mel Gibson wählte das verwaiste Städt-
chen als makabren Hintergrund für das
Finale seiner «Passion Christi».
Ganz bezaubernd wiederum ist das
während Jahrhunderten nur noch von
antiken Flussgöttinnen bewohnte Ninfa,
80 Kilometer südlichvonRomgele-
gen.Das mittelalterliche Städtchen, das
wegen seiner glasklaren Quelle zuReich-
tum gekommen war, wurde im 12.Jahr-
hundert vonBarbarossa zerstört.Der Er-
oberer aus dem Norden war erzürnt, weil
in Ninfagegen seinenWillen ein neuer
Papst gekrönt wurde.Ab 1920 begannen
adlige Nachfahren der einstigen Besitzer
imverwildertenRuinenstädtchen einen
Garten anzulegen, den Experten von
BBC und CNN unlängst zum schönsten
derWelt gekürt haben. Ein anderes Bei-
spiel für die gelungeneTr ansformation
eineszerfallenden Dorfes ist Santo Ste-
fano di Sessanio im Apennin. Dort hat
Daniele Kihlgren, Erbe einer Zement-
dynastie, ein «albergo diffuso» aufgebaut
–ein Hotel,dessenRäumlichkeiten über
das ganze Dorf verstreut sind.


Manchmal stehen ganze Geister-
dörfer zumVerkauf.Besonderes Inter-
esse zeigen dabei ausländische Investo-
ren, die den Ort für touristische Zwe-
ckenutzen. So hat etwa der deutsche
ReiseveranstalterTui das nahezu ver-
lassene Castelfalfi gekauft und es in ein
Luxusresort umgewandelt. Ebenfalls in
derToskana befindet sich BorgoFinoc-
chieto, das der ehemalige amerikanische
Botschafterrenovieren liess.Wo einst
Bauernfamilien undKunsthandwerker
lebten, machen heute illustrePersönlich-
keiten wie die ObamasFerien, undreiche
Paare aus Indien feiern dort Hochzeit.

Eine andere Art vonTourismus


Geisterdörfer sind aber auch für an-
dereFormen vonTourismus geeignet,
die wenigerAufmerksamkeit auf sich
ziehen. So werden heute immer mehr
Exkursionen angeboten, bei denen man
zerfallene Siedlungen erkundet. Ein In-
sidertipp istLaturo,das im zentralen
Apennin gelegen ist.Laturo gilt als
das isolierteste Dorf Italiens. In sei-
ner 700-jährigen Geschichte hat es nie
eine Strasse erhalten, kann nur über
Saumwege erreicht werden. Nachdem
Laturo in den siebzigerJahren des ver-
gangenenJahrhunderts verlassen wor-
den war, zog dieVegetation ein und

überdeckte alle verbliebenen Spuren
der Zivilisation.
FedericoPanchetti holteLaturo vor
neunJahren zurück in dieseWelt. Der
Bergführer war damals auf der Suche
nach neuenRouten in den wenig be-
kannten Gebieten des Gran-Sasso-
Nationalparks. Auf der Karte sah er eine
Siedlung eingezeichnet, die sich aber in
der dreidimensionalenWelt nicht zu er-
kennen gab. Federico folgte den Mas-
ten, die in den1950erJahren kurz vor
der Entvölkerung erstellt worden waren,
um das Dorf mit Strom zu versorgen. Es
brauchte schliesslich Monate und die
Hilfe vonKollegen, um dieWege und
Laturoselber vom Dickicht zu befreien.
Am Anfang übernachtete der heute
43-Jährige in einem Stall und wusch sich
im nahenWasserfall. Spätererwarb er zu-
sammen mit seinerFreundin und ande-
ren Gleichgesinnten einige der Stein-
häuser, renovierte sie, reaktivierte den
Dorfbrunnen und installierte Sonnen-
kollektoren auf denDächern. InLaturo
kehrt vorerst nur an denWochenenden
Leben ein.Dann wird gebaut, Ordnung
gemacht; es werdenFeste gefeiert oder
Exkursionen durchgeführt. EinVerein
mit vierzig Mitgliedern sorgt dafür, dass
die Idee einer eingeschworenen Gemein-
schaft inLaturo weiterlebt.Federico ist
sozusagen der Bürgermeister des Dorfes.

«Zurzeit geht es darum, das Erschaf-
fene zukonsolidieren und neue Inter-
essierte zu gewinnen», sagtPanchetti.
Gesucht werden Leute, die bereit sind,
etwas Geld zu investieren. ZumVerkauf
steht unter anderem eines der schöns-
ten Steinhäuser des Dorfes: «Fortezza»
genannt, weil es einerFestunggleich
auf einerTerrasse leicht ausserhalb des
Dorfkerns steht. Lediglich 15000 Euro
kostet das dreigeschossige Haus mit
rund 100 QuadratmeternWohnfläche.

Vor demVergessen retten


Die verlassenen Dörfer faszinieren und
laden dazu ein, sich mit demThemaVer-
gänglichkeitauseinanderzusetzen. Sie
wecken unseren Entdeckergeist, ohne
dass wir dafür weitreisen müssten.Jenen
von Fabio Di Bitonto etwa.Erist so sehr
von den Geisterdörfern eingenommen,
dass er in jeder freien Minute auf Goo-
gle Earth nach verlassenen Siedlun-
gen sucht.Über 200 davon hat er inzwi-
schen besucht.Auf seinerWebsitePaesi-
fantasma.it hat er ein Archiv mit Bildern
und Informationenangelegt. Der Archi-
var der Geisterdörfer verfolgt damitkei-
nen Zweck, wie er sagt. Es gehe ihm da-
bei nicht darum, die Siedlungen wieder
zum Leben zu erwecken. «Ich möchte
sie einfach vor demVergessenretten.»

CivitàdiBagnoregio in derRegionLatium ist eines der bekanntesten Geisterdörfer und beliebt beiTouristen. SIEGFRIED MODOLA / REUTERS

Nachder Stilllegung der Mine in den 1960erJahrenentvölkertesichNaracauliauf Sardinien. IMAGO

NACHRUF

Die erste


Bundeskanzlerin


der Schweiz


Annemarie Huber-Hotz gestorben


(sda)·Die erste Bundes-
kanzlerin der Schwei-
zerischen Eidgenossen-
schaft ist tot: Annemarie
Huber-Hotz starb am


  1. August im Altervon
    siebzigJahren. Die ehe-
    malige Spitzenbeamtin
    ausBaar verstarb während einerWan-
    derung im Gebiet Schwarzsee im Kan-
    tonFreiburg an einem akuten Herzver-
    sagen, wie einFamilienmitglied amFrei-
    tagabend mitteilte.
    Erst EndeJuni hatte Huber-Hotz das
    Präsidium des SchweizerischenRoten
    Kreuzes nach achtJahren an den ehe-
    maligen Zürcher Gesundheitsdirektor
    Thomas Heiniger abgegeben. In einem
    Interview mit den Zeitungen «Ost-
    schweiz am Sonntag» und «Zentral-
    schweiz am Sonntag» warnte sie jüngst
    vor wachsenden gesellschaftlichenPro-
    blemen. Zwargebe es in der Schweizre-
    lativ wenig Armut, aber«sehr vieleVer-
    einsamte». Darunter seien Menschen,
    die zwarkeine Geldsorgen hätten, «aber
    von der Gesellschaft abgehängt sind
    oder sich abhängen». Dazukomme eine
    alternde Bevölkerung mit einer steigen-
    den Zahl an Demenzkranken.
    Vor dem Engagement beimRoten
    Kreuz hatte das FDP-Mitglied zwischen
    1999 und 2007 einen der wichtigsten und
    einflussreichstenPosten der Eidgenos-
    senschaft inne.Als ersteFrau über-
    haupt war sie Schweizer Bundeskanzle-
    rin. Gleich zu Beginn ihrer Amtszeit ge-
    staltete sie die Bundeskanzlei um: Mit
    der neuen Bundesverfassung wurden
    Bundeskanzlei undParlamentsdienste
    definitiv getrennt. Das Regierungs- und
    Verwaltungsorganisationsgesetz sah zu-
    dem neu dieFunktion des Bundesrats-
    sprechers vor.
    «Mit der effizienten Organisation der
    Abläufe imRegierungsalltagkonnte sie
    den Bundesrat stetskompetent unter-
    stützen», teilte die Bundesregierung am
    Freitagabend mit. Annemarie Huber-
    Hotz habe ihreAufgabe als Bundes-
    kanzlerin stets als Privileg empfunden.
    «Sieverstand es,auf andereMenschen
    zuzugehen und ihnen zuzuhören.» Mit
    ihrerFreude an der Arbeit, ihrer lebens-
    langen Neugier und ihrer Grosszügig-
    keit sei sie den Mitmenschen einVor-
    bild gewesen.
    Annemarie Huber-Hotz wurde 1948
    inBaar geboren, wo sie auch die Schule
    absolvierte. Sie studierte unter ande-
    rem politischeWissenschaften in Genf.
    Nach ihremRücktritt als Bundeskanz-
    lerin 2007 setzte sich Huber-Hotz in
    verschiedenen gemeinnützigen Orga-
    nisationen ein. Besonders am Herzen
    lag ihr der Kampf gegen das Elend. Sie
    hinterlässtihren Ehemann, drei Kinder
    und vier Enkelkinder.

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