Neue Zürcher Zeitung - 03.08.2019

(Barry) #1

Samstag, 3. August 2019 WIRTSCHAFT 25


Die Nordsee verteidigt ihr letztes Erdöl

Britische Öl- und Gasförderer versuchen das Ende de r Reserv en hinauszuzögern – und kämpfen mit Altlasten


BENJAMIN TRIEBE, ABERDEEN


Die Nordsee ist bekannt für ihrerauen
Wellen an der Oberfläche und für Erdöl
und Erdgas unter den Wellen.Das
macht Grossbritannien und Norwegen
zu Westeuropas grössten Produzenten
der fossilen Brennstoffe. Doch die bri-
tische Industrie ist in einer verzwickten
Lage. Das zeigte sich unlängst im schot-
tischen Aberdeen, als ein norwegischer
Firme nvertreter den früher so stolzen
Kollegen von der Insel auf einem Bran-
chentreff en mitteilte, sie brauchten jetzt
Courage undDurchhaltewillen. «So wie
wir es brauchten, als wir die Offshore-
Windenergie entwickelten», setzte er
hinzu.Widerspruch blieb aus. Jetzt kön-
nen die britischen Ölförderer also von
der Windkraft lernen – so ändern sich
die Zeiten.


Gegenwind fürÖl undGas


Gesprochen hatte ein Mitarbeiter des
norwegischenKonzerns Equinor, der
nicht nur Öl fördert, sondern auch in er-
neuerbare Energien investiert.Aberdeen
ist das Zentrum der britischen Erdöl- und
Erdgaswirtschaft, und wenn die Mana-
gerinder Küstenstadt aus demFenster
schauen, dann sehen sieVersorgungs-
schiffe, die zwischen dem Hafen und den
Bohrplattformen in der Nordsee pen-
deln.Doch insAuge springen die fünf rie-
sigenWindräder desWindparks Hywind,
den Equinor 30 km vor derKüste errich-
tet hat. US-Präsident DonaldTrump be-
schwerte sich über die «hässlichenTurbi-
nen», die «eine riesige Zahl Leute» beein-
trächtigten – und dachtean dieAussicht
von einem nahe gelegenen Golfplatz,der
zu seinem Imperium gehört.
Für die britischen Öl- und Gasförde-
rer ist Hywindkein ästhetischer Affront,
sondern eine schwimmendeWarnung.
Die Branche wird nicht müde zu betonen,
sie befinde sich in einem Übergang.Wo-
hin der führt, kann kaum jemandsa-
gen – aber «Übergang» klingt besser als
«Unsicherheit». Fest steht, dieVerhält-
nisse ändern sich.Das liegt erstens an
der Klimadebatte und der schwinden-
den gesellschaftlichen Akzeptanz. Andy
Samuel,der Chef der britischenRegulie-
rungsbehörde, der Oil and GasAutho-
rity (OGA), zeigtedenFirme nvertre-
tern in Aberdeen einFoto der freundlich
lachenden Klimaaktivistin GretaThun-
berg. «Wir werden aufmerksamer beob-
achtet als je zuvor», sagte Samuel.
Zweitens sind das Erdöl und dasErd-
gas unter der Nordsee zwar150 Mio.
Jahre alt,aber nicht unerschöpflich. Die
Reserven auf dem britischenKontinen-
talsockel leeren sich; es wird schwieri-
ger und teurer, die Rohstoffe aus der
Erde zu holen. Die Nordsee gibt ihre
letzten Schätze nicht so einfach her. Die
Nordsee-Vorkommen gelten als «ultra-
reif». Felder müssen aufgegeben wer-
den, und es stellt sich dieFrage,was
mit der Infrastruktur geschieht: Bohr-
inseln,Pipelines,Tanks,Fundamente–
grob1Mio.t Stahl und Beton wurden
in der britischen Nordsee verbaut. Der
Erdöl- und Erdgassektor steht vor der
Aufgabe, die alten Anlagen zu beseiti-
gen.Während er darüber berät, wird die
etwas naiveForderung lauter, er solle
sich gleich selbstbeseitigen.


Das Ende soll späterkommen


Wenig überraschend haben die briti-
schenFirmen das nicht vor – im Gegen-
teil: Ihre«Vision 2035», wie es die Bran-
che nennt, zielt darauf, noch möglichst
lange möglichst vieleRohstoffe aus der
Nordsee zu holen. Der Niedergang soll
gebremst werden. DieAusbeutung von
Erdöl und Erdgas im grossen Stil hatte
in den1970erJahren begonnen und er-
reichte zurJahrhundertwende ein Hoch
von rund 4,4 Mio. Fass Erdöläquivalen-
ten proTag. Danach ging es abwärts,bis
zu einemTiefpunkt imJahr 2014 von 1,4
Mio. Fass proTag. Im vergangenenJahr
ist die Produktion wieder auf 1,7 Mio.
Fass proTag angestiegen, weil dieFör-
derung effizienter wurde und neueFel-
der in Betrieb gingen.


Der Anstieg wird nicht von jahre-
langerDauer sein. Doch dieVision der
Branche sieht vor, dass imJahr 2035
noch mindestens 1,1 Mio. Fass Erdöl-
äquivalente proTag gefördert werden,
fast die Hälfte mehrals ohne Gegen-
steuer. Die Nutzung der Nordsee-Vor-
kommen würde damit um mindestens
eine Generation verlängert.Das dürfte
nach Angaben des Branchenverbandes
Oil & Gas UK (OGUK) zusätzlich rund
200Mrd.£ für Erschliessung und Pro-
duktionkosten –kein Pappenstiel.
Die Investitionen sollen sich lohnen,
weil Erdöl und Erdgas nicht so schnell
aus demWirtschaftskreislauf verschwin-
den. Im vergangenenJahr entsprachen
die geförderten Mengen rund 75% des
britischen Primärenergiebedarfs, also
inklusive desTreibstoffs fürFahrzeuge
oder zurWeiterverarbeitung in der In-
dustrie. DieRegierung schätzt, dass es
im Jahr 2035 immer noch zwei Drittel
sein werden.Ausserdem beruft sich der
Verband OGUK auf eine Schätzung der
In ternationalen Energieagentur (IEA),
wonach Erdöl und Erdgas imJahr 2040
zusammen noch die Hälfte der globalen
Energieversorgung decken.

Es sei elementar, die heimischen
Quellen zur Deckung des Inlandbedarfs
heranzuziehen, sagenVerbandsvertre-
ter. Grossbritannienkönne seine Klima-
zieleerreichen und gleichzeitig die Öl-
und Gasvorkommen maximal ausbeu-
ten. Die Branche solle sich weniger auf
Entschuldigenkonzentrieren und mehr
auf ihre Produkte, forderte ein Lobbyist
in Aberdeen. Ein Unternehmensberater
hiel tdagegen, in 50Jahren des Erfolgs
habe sie sich daran gewöhnt, sich für
einzigartig zu halten. Und die Chefin
einer Umweltschutzorganisation stellte
fest:«Wenn jedesLand seine Öl- und
Gasreserven ausschöpft,wird dieser Pla-
net unbewohnbar.»
Von allein wird die«Vision 2035»
ohnehin nichtWirklichkeit.Dafür müs-
sen die Erdölfirmen neueReservoirs
erschliessen.Das geschah zuletzt zu sel-
ten , auch wegen des Erdölpreiszerfalls
im Jahr 2014, der die Ölproduktion in
der Nordsee für eineWeile unprofita-
bel machte. Im Jahr 2018 wurde so we-
nig nach neuenVorkommen gebohrtwie
letztmals in den sechzigerJahren.
«NeueFunde sind nötig, um das Pro-
duktionsziel zu erreichen», sagtKeith

Myers,Forschungschef beimBeratungs-
unternehmenWestwood Energy. Seit
2014 seien nur zweikommerziell nutz-
bareVorkommen von jeweils mehr als
50 Mio. Fass Erdöläquivalenten auf dem
britischenKontinentalsockel entdeckt
worden.DaslaufendeJahr sei entschei-
dend. Bis zu zehn Erkundungsbohrun-
gen bei besonders vielversprechenden
Reserven werde es 2019 geben,so viele
wie seit zehnJahren nicht.

Aufräumen istteuer


Aber nicht nur die künftige Produk-
tion fordert ihrenTribut, sondern auch
die längst vergangene. Die jährlichen
Kosten fürAusserbetriebnahmen in
der britischen Nordsee sind von rund
400Mio.£ im Jahr 2010 auf 1,6 Mrd. £
im vergangenenJahr gewachsen. Bis
2027 müssten dafür rund15 Mrd. £ aus-
gegeben werden, schätzt der Branchen-
verband OGUK.Auf demKontinen-
talsockel müssen in diesem Zeitraum
fast1500 Bohrlöcher stillgelegt wer-
den, einFünftel des Gesamtbestandes.
Ausserdem müssen Überwasserplatt-
formen mit einem Gewicht von mehr

als 600000 t, Unterwasserstrukturen
von mehr als 300000 t sowie 5700 km
Pipelinesausser Dienst gestellt werden.
Das macht Grossbritannien mit Ab-
stand zum weltweit grössten Markt für
das «decommissioning».
Wie derVertreter eines Erdölriesen
unlängst in London zugab, muss die
Branche noch lernen, das zu bewältigen.
MancheFörderabkommen wurden in
den1970erJahren verfasst und enthiel-
ten vielleicht einen einzigen Absatz über
die Ausserbetriebnahme. Erst allmäh-
lichverstehe man dieKomplexität der
Aufgabe. Bohrlöcher müssen gefüllt und
versiegelt werden, das ist aufgrund ihrer
hohen Anzahl der grössteKostenblock.
Doch die Stilllegung und die Säuberung
der Pipelines sowie dieAusschlachtung
der Plattformen, ihr Abtransport und
ihreWiederverwertung sind auch nicht
einfach.Als viele Anlagen vorJahrzehn-
ten im Meerverankert wurden, machte
sich kaum jemand Gedanken, wie man
sie wieder herausbekommt.

Rückzugder Gro sskonzerne


Diese Herausforderungen verstärken
einen Umbruch: Grosse Ölkonzerne
verkaufenFelder und Anlagen an klei-
nere, spezialisierte Anbieter. Im Jahr
2008 waren die grössten zehn Unter-
nehmen für mehr als zwei Drittel der
britischen Produktion verantwortlich,
im Jahr 2018 nur noch für etwas mehr
als die Hälfte.An Gewicht legen nicht
nur unabhängige Ölförderer zu, sondern
auch Private-Equity-Unternehmen. Sie
spezialisieren sich auf besondere Pha-
sen im Lebenszyklus eines Ölfeldes, zum
Beispiel auf dieAusserbetriebnahme
der Anlagen. Die Grosskonzerne hin-
gegen ziehensich zurück, um ihrPort-
folio zu optimieren.
«Statt der richtigenVermögens-
werte in den richtigen Händen wandelt
sich das Bild zu den richtigen Aktivi-

täten in den richtigen Händen», sagt
JonClark, Öl- und Gasexperte bei der
UnternehmensberatungEY. DerWan-
del habe erst begonnen. Zum Beispiel
teilte der US-Riese Chevron im Mai
mit,Felder für2Mrd.$ an die israe-
lische Delek zu verkaufen. Conoco-
Phillips veräussert Ressourcen für
2,7 Mrd. $ an die britische Chrysaor,
wie im April verlautete.Die Förder-
gesellschaft, hinter der Private-Equity-
Investoren stehen, hatte schon 20 17
Felder für 3,8 Mrd. $ vonRoyal Dutch
Shell übernommen.
Chrysaor wird sich auch um die Still-
legung einiger Anlagen kümmern, die
im Besitz von ConocoPhillips bleiben.
Eine Spezialisierung hat fürJon Clark
nurVorteile:Das Schlimmste für ein
Unternehmen sei, wennesnur ein ein-
zelnes Stilllegungsprojekt habe. Dann
sammele es die Erfahrungen,könnedie-
ses Wissen aber nirgendwo anders an-
wenden. «DieFrage muss sein: Möchte
ich keine odersehr vieleAusserbetrieb-
nahmen machen?», so Clark.
DieNeuorganisation der Branche
und die wachsende Erfahrung tragen
dazu bei, das «decommissioning» güns-
tiger zu machen. Die OGA schätzt, dass
die Gesamtkosten für die Stilllegung auf
dem Festlandsockel rund 51 Mrd. £ be-
tragen werden.Das sind15% weniger,
als sie 2017 annahm.Das Wissen soll bri-
tischenFirmen auch zu einemWettbe-
werbsvorteil verhelfen.Vielleicht wer-
den sie dann weniger alsAusbeuter und
mehr alsAufräumer bekannt.

DerBrent- Boom hinterlässt ein schweres Erbe


bet.·Angefangen hat alles in den Nie-
derlanden. Dort wurde1959 das grosse
Erdgasfeld Groningen entdeckt. Geo-
lo gen waren überzeugt, dass sich die
Vorkommen bis hoch in die Nordsee
erstrecken. Ab den1970erJahren nahm
die Förderung vonRohöl und Erdgas
im britischenTeil Fahrt auf. Die schotti-
scheKüstenstadtAberdeen entwickelte
sich zum Herzen der Branche – zunächst
mithilfe amerikanischer Ölarbeiter, die
hier ihre Erfahrungen aus dem Golf von
Mexiko einbrachten.Wohlstand über-
kam die Stadt:Während imJahr 1961
noch mehr als ein Drittel derFamilien
keinen Zugang zu einer privatenToilette
hatten, war 2012 die Dichte an Multi-
millionären höher als in London,wie das
Stadtmuseum zu erzählen weiss.
Der erste Ölkonzern, der sich in
Aberdeen niederliess, warRoyal Dutch
Shell. Über vierzigJahre später hat der
Riese mit einer der grössten Altlasten
zu kämpfen: derAusserbetriebnahme
des Brent-Rohöl-Feldes. Der Name
Brent ist einSynonym für Nordseeöl


  • vor allem wegen des gleichnamigen
    Rohöls, das aus einemVerschnitt meh-
    rere r hochwertigerRohöle besteht und
    dessen Preis neben jenem vonWest
    Texas Intermediate(WTI) der wich-


tigsteReferenzwert am Ölmarkt ist.
Ursprünglich stammt Brent vom Brent-
Feld, das fast 200 km nordöstlich der
Shetlandinselnlieg t und seinen Namen
vom englischenWort für Ringelgans er-
hielt. Diekommerzielle Produktion be-
gann1976, auf dem Höhepunkt imJahr
1982 war dieFörderung so hoch wie der
Ene rgieverbrauchder Hälfte der briti-
schen Haushalte.
Inzwischenist das Brent-Vorkom-
men fastkomplett ausgebeutet. Shell
muss aufräumen.Vorkehrungen für die
Ausserbetriebnahme hätten beimBau
keine Prioritätgehabt, heisst esvon
Shell, wichtig sei auch auf gesellschaft-
lichen Druck die schnelle und zuverläs-
sige Ölproduktion gewesen (kurz zuvor,
im Jahr 1973, war dieWelt von der ers-
ten Erdölkrise erschüttert worden).Vier
Brent-Förderplattformen, die vom Mee-
resbodenbis zur Spitze so hoch sind wie
der Eiffelturm, müssen abgebaut wer-
den. ImJahr 2017,elf Jahre nach Beginn
der Planungen, wurde die erste Über-
was serplattform von einem speziellen
Transportschiff angehoben und abtrans-
portiert. Die zweite folgte imJuni 2019.
Offen ist, was mit den vier Unter-
wasserstrukturen passiert, auf denen
die Plattformen ruhten. Shell möchte

sie imWasser lassen und hat dafür um
ein e Ausnahmeerlaubnis gebeten, weil
die Risiken einer Entfernung weitaus
grösser seien als der Beitrag zum Um-
weltschutz. Doch vor allem bei den drei
Betonfüssen, die auch ehemalige Ölspei-
cher enthalten,regt sich internationaler
Widerstand. Es ist allerdingsumstritten,
wie man am besten mit solchen Unter-
wasseranlagen umgeht: MancheFach-
leute argumentieren, die Zerstörung der
Ökosysteme, die sich imLaufe derJahr-
zehnte auf den künstlichen Riffen gebil-
det haben, schade der Umwelt mehr, als
ihr die Herstellung des Originalzustan-
des nutze.
Allerdings hat Shell gelernt, bei sol-
chenVorhaben früh das Gespräch zu
suchen. Ein Debakel wie imJahr 1995
bei Brent Spar soll vermieden wer-
den: So hiessein grosser, schwimmen-
derTank zur Zwischenlagerung von
50 000t Brent-Rohöl. Als er nicht mehr
benötigt wurde, wollte Shell auch ihn im
Meer versenken. DerKonzern besass
alle erforderlichen Genehmigungen, als
Greenpeace-Aktivisten die Plattform
besetzten.Das schürte enormen öffent-
lichen Druck, dem Shell schliesslich
nachgab. Brent Spar wurde nach Norwe-
gen geschleppt und dort zurückgebaut.

500 Kilometer NZZ Visuals/cke.

Aberdeen

Brent-
Erdölfeld

NORDSEE

NORWEGEN

GROSSBRITANNIEN DÄNEMARK

Die Ausserbetriebnahmeder Plattformen ist komplexer,als die Ölfirmen es sichvorgestellt haben. ANDY BUCHANAN / REUTERS
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