Samstag, 3. August 2019 INTERNATIONAL 3
Boris Johnson verliert ersten Test
Die konservative Mehrheit im Unterhaus schmilzt nach einer Wahlnieder lage in Wales auf eine einzige Stimme
In einer Nachwahl inWales
hat derJohnson-Effekt allein
nicht gereicht: DieKonservativen
müssen denParlamentssitz
an die europafreundlichen
Liberaldemokraten abgeben.
BENJAMIN TRIEBE, LONDON
DieVerhältnisse in der vom Brexit ge-
spaltenen britischen Innenpolitik sind
gerade noch etwaskomplizierter gewor-
den. Der neue Premierminister Boris
Johnson muss in demersten öffent-
lichenTest seit seinem Amtsantritt einen
Rückschlag hinnehmen:Beieiner Nach-
wahl ineinem Bezirk in Südwales ver-
lor dieKonservativePartei einenParla-
mentssitz.Damit schmilzt die Mehrheit
für dasRegierungsbündnis im Unter-
haus auf gerade einmal eine Stimme. In
den künftigen parlamentarischenAus-
einandersetzungen um den Brexit, bei
dem auch dieTories zerstritten sind,
könnte es auf jede Stimme ankommen.
Auftrieb fürBrexit-Gegner
Die Niederlage in der Grafschaft Bre-
con andRadnorshire ist nicht vernich-
tend, aber eindeutig. DieTories erreich-
ten am Donnerstag knapp 39 Prozent
derWählerstimmen und haben damit
fast 10 Prozentpunkte verloren. Den
Liberaldemokraten, die für einenVer-
bleib in der EU eintreten, gelang ein
Plus von 14 Prozentpunktenauf43 Pro-
zent. Bei einer Beteiligung von knapp
3200 0 Wählern setzte sich ihre Kan-
didatin,Jane Dodds, mit einemVor-
sprungvon rund 1400 Stimmen gegen
denKonservativen ChrisDavies durch.
Schon bei derWahl zum EU-Parlament
im Mai hatten die Liberaldemokraten
grosseWähleranteile gewonnen.
Im Unterhaus steht dieRegierungs-
mehrheit vonJohnson künftig auf Mes-
sers Schneide.Weil dieKonservative
Partei in derParlamentswahl von 20 17
eine eigene Mehrheitverfehlte, schmie-
dete sie einBündnis mit der nord-
irischenDUP. Doch mit der neuenVer-
teilung von 320 Sitzen für dieRegie-
rungsseite und 319 für die Opposition
beträgt ihrVorsprung nur noch eine
Stimme. Die Liberaldemokraten profi-
tierten von einerKooperation mit den
Grünen und der walisischenPartei Plaid
Cymru, diekeine eigenen Kandidaten
aufstellten – eineTaktik, um im Mehr-
heitswahlsystem möglichst vielDurch-
schlagskraft für eine Anti-Brexit-Posi-
tion zu erreichen, und möglicherweise
einVorbild für künftige Urnengänge.
Weil es auch unter denTories Gegner
eines ungeregelten EU-Austritts gibt,
wieJohnson ihn bewusst nicht aus-
schliesst, könnte der Regierungschef
im Ernstfall im Unterhaus eine Mehr-
heit gegen sich haben.Allerdings ist der
No-Deal-Brexit der derzeit festgeschrie-
beneVerlauf:Ändert sich nichts an der
herrschenden Gesetzeslage, verlässt
dasVereinigteKönigreich Ende Okto-
ber die EU.WennJohnson es nicht tut,
muss dasParlament die Initiative ergrei-
fen, um das zu verhindern.
In Brecon andRadnorshire sind dem
ehemaligenTory-Abgeordneten Chris
Davies gefälschte Spesenabrechnungen
zumVerhängnis geworden.Dafür wurde
er vor Gericht verurteilt, und es fanden
sich genugWähler, die einePetition zur
Erzwingung einer Nachwahl unterstütz-
ten.Daviesdurfte erfolglos versuchen,
seinen Sitz zu verteidigen. Die Liberal-
demokraten stellten bereits zwischen
1997 und 20 15 denParlamentsabge-
ordneten von Brecon andRadnorshire
- es war also bekannt, dass denTories
Gefahr droht.Wie erwartet wechselten
viele Befürworter des EU-Austritts zur
neuen Brexit-Partei desPopulisten Nigel
Farage, die aus dem Stand einenWähler-
anteil von 10 Prozent erreichte. Sollte es
landesweit zu Neuwahlenkommen, wird
Johnsons Erfolg entscheidend davon ab-
hängen, ob er diese Briten zurückholen
kann. DerLabour-Partei wurde offen-
bar ihre uneindeutige Haltung zum Bre-
xitzumVerhängnis. Sie rutschte auf nur
noch 5 Prozent derWählerstimmen ab.
ZentralesWahlkampfthema war dievor
Ort bedeutendeLandwirtschaft, und die
ginge besonders bei einem ungeregel-
ten Brexit ungewissen Zeiten entgegen.
Beim Brexit-Referendum imJuni 20 16
hatte die Grafschaft zwar mit knapp 52
Prozent für den EU-Austrittgestimmt,
dochein No-Deal-Brexit wurde damals
nicht diskutiert.
Schwierige Antrittsbesuche
Der neue Regierungschef Johnson
griff nicht in den Endspurt desWahl-
kampfs ein. Bei einem Besuch inWales
vor wenigenTagen liess er sich nur am
Rande Brecons sehen, und der Besuch
verlief ähnlich wie in seinen Antrittsvisi-
ten in Schottland und Nordirland:John-
sonsVersprechen einer glorreichen Zu-
kunft stossen ausserhalb derKonserva-
tivenPartei auf grosse Skepsis, ungeach-
tet der erheblichen Mehrausgaben des
Staates, die er inAussicht stellt.
Derneue britische PremierministerBoris Johnson muss einen Rückschlag hinnehmen. PETER NICHOLLS/REUTERS
Puerto Rico steckt im Chaos fest
Um die Nachfolge vonGouverneur Ricardo Rossel ló tobt ein bizarrer Machtkampf
Die politische Krise in SanJuan
ist noch nicht ausgestanden.
Frustriert angesichts der
Machtspiele derPolitiker ziehen
die Bürger erneut auf die Strasse.
MARIE-ASTRID LANGER,WASHINGTON
Als Puerto Ricos Gouverneur Ricardo
Rosselló vor gut einerWoche seinen
Rücktritt ankündigte, brachen Zehntau-
sende Demonstranten in der Hauptstadt
SanJuan inFreudentänze aus. Zwölf
Tage lang hatten die Bewohner der Kari-
bikinsel lautstark gefordert, dassRoss-
elló seinen Hut nehme; nach jahrelangen
Korruptionsskandalen war dasFass end-
gültig übergelaufen, alsTextnachrich-
ten publik wurden, in denen der Gou-
verneur und andereRegierungsbeamte
sexistische und homophobe Meinungen
austauschten. In einerFernsehansprache
hatte Rosselló daraufhin den3,2Millio-
nen Puerto-Ricanern versprochen, am
Freitag seine Ämter niederzulegen; für
17 Uhr Ortszeit war dies geplant.
Politisches Schauspiel
Doch eineWoche später ist dieRegie-
rungskrise auf der Karibikinsel noch
nicht ausgestanden:Wer Puerto Rico ab
Freitagnachmittag nachRossellósRück-
trittregieren würde, war amFreitagmor-
gen noch völlig unklar.
In der Hauptstadt SanJuan herrscht
derzeit ein Chaos, dasBände über die
grundsätzlichen Probleme des amerika-
nischenAussengebiets spricht. DieWir-
rungen um die Nachfolge als Gouver-
neur muss man sich auf der Zunge zer-
gehen lassen: Stellvertretender Gouver-
neur ist eigentlich derAussenminister,
doch der istimZuge des gleichen Skan-
dals, der den Gouverneur sein Amt ge-
kostet hat,ebenfalls zurückgetreten.
Nummer drei der Machtfolge wäredie
JustizministerinWandaVázquez. Doch
auch gegensie toben inzwischenPro-
teste in der Hauptstadt, weil sie alsTeil
deskorruptenSystems angesehen wird.
Durch denRücktritt des Gouver-
neurs gestärkt, fordern die Demonstran-
ten nun weitere grundlegendeVerände-
rungen imSystem – und auch denRück-
tritt vonVázquez alsJustizministerin.
SollteVázquez das Gouverneursamt ab-
lehnen, wäre der Nächste in der Macht-
folge derFinanzministerFranciscoPa-
réz, der istjedocherst 31Jahre alt – und
dieVerfassung schreibt ein Mindestalter
von 35Jahren für den Gouverneur vor.
Der geschassteRosselló witterte an-
gesichts dieses Chaos seine Chance,
noch in letzter Minute einen Günstling
zu installieren: Er nominierte denAn-
waltPedro Pierluisi als neuen Aussen-
minister, der ihn abFreitagnachmittag
beerben sollte. Pierluisi ist in der Bevöl-
kerung allerdings höchst unbeliebt, weil
seine Kanzlei für die verhasste amerika-
nischeAufsichtsbehörde arbeitet, die die
Finanzen des bankrottenAussengebiets
kontrolliert.
Tr otzdem wurde seine Nomination
vomRepräsentantenhaus,in dem die
regierende New ProgressiveParty die
Mehrheithält, ganz knapp gutgeheis-
sen: 26 der 51 Mitglieder desRepräsen-
tantenhauses gaben ihm ihre Stimme.
Der Senat lässt die Insel aber offenbar
lieber im Chaos versinken, als Pierluisi
denWeg ins Gouverneursamt zu ebnen,
und hat seine Anhörung bis nächste
Wocheaufgeschoben. DemVorsitzen-
den des Senats,Thomas Rivera Schatz,
werden selbst Ambitionen auf den
Gouverneursposten nachgesagt. Als
Krönung desTheaters bot der abtre-
tende GouverneurRosselló grosszügig
an, seinenRücktritt aufzuschieben, bis
die Nachfolge geklärt ist.
Exodus der Bevölkerung
Offensichtlich ist,dass die Krise in San
Juan viel tieferreicht als nur bis ins Büro
des Gouverneurs. Die Probleme häufen
sich seitJahren: Schlechtes Management
undKorruption haben das amerikani-
scheAussengebiet in denBankrott ge-
führt, Naturkatastrophen wie der Hur-
rikan «Maria» 2017, der 30 00 Opfer for-
derte, verstärken die Probleme wie ein
Katalysator.
Wer kann, verlässt die Insel.Als
amerikanische Staatsbürger können
Puerto-Ricaner problemlos aufsFest-
land der USA übersiedeln.Das tun vor
allem junge Menschen: Deshalb ist das
DurchschnittsalteraufPuerto Rico in
der vergangenen Dekade von 36 auf 43
Jahre gestiegen, die Geburtenrate hal-
bi erte sich fast.Laut jüngst veröffent-
lichten Zahlen desPew Research Center
schrumpfte die Bevölkerung der Kari-
bikinsel 20 18 um 3,9 Prozent – so stark
wie nie zuvor in den 50Jahren,seitdem
die Erhebungen durchgeführt werden.
Nordkorea
feuert erneut
zwei Raketen ab
Der amerikanische Präsident
Donald Trump gibt sich gelassen
MATTHIAS MÜLLER, PEKING
Innert zweiWochen hat Nordkorea zum
dritten MalKurzstreckenraketen getes-
tet.Laut der südkoreanischenRegie-
rung feuerte dasRegime in Pjongjang
amFreitagmorgen um 2 Uhr 59 sowie
um 3 Uhr 23 zweiRaketen ab.Die Ab-
schussrampe soll sich an der nordkorea-
nischen Ostküste unweit vonWonsan in
derRegionYonghung befunden haben.
Der bisher unbekannte Raketentyp
soll mit einer maximalen Geschwindig-
keit von 8520 Kilometern pro Stunde
und einer Flughöhe von bis zu 25 Kilo-
metern nach 220 Kilometern im Ost-
meer zerschellt sein.
Wenig Tempo, niedrige Flughöhe
Die südkoreanischeRegierung brauchte
Zeit, um Details zu denTests zu präsen-
tieren.In der Einschätzung sind sich
Seoul undWashington einig, dass wegen
der sich ähnelnden Flugbahnen Nord-
korea am Mittwoch und nun amFrei-
tag den gleichenRaketentyp getestet
hat. Es soll sich um ein neues Modell
handeln.Darauf deuten auchFotos der
nordkoreanischen Propaganda hin, auf
denenTeile derRakete nur verpixelt zu
sehen sind.Laut dem Militärexperten
AnkitPanda sind die verhältnismässig
ge ringe Geschwindigkeit und die nied-
rige Flughöhe der Grund dafür, dass der
südkoreanische Generalstab so lange
dafür brauchte, denTest zu entdecken
und Details zu veröffentlichen.
Zuvor hatte Nordkorea bereits in der
vergangenenWocheRaketen abgefeu-
ert und dies alsReaktion auf anstehende
Militärübungen Südkoreas und derVer-
einigten Staaten bezeichnet. Zwei wei-
tere Abschüsse amMittwoch dieser
Woche waren von Pjongjang alsTest
eines neuenSystems dargestellt wor-
den, das eineSchlüsselrolle für militäri-
sche Bodenoperationen einnehmen soll.
Trump brüskiertVerbündete
Der amerikanische Präsident Donald
Tr ump hat dieTests am Donnerstag
heruntergespielt. Die Situation sei unter
Kontrolle, sagte er vorJournalisten im
Weissen Haus. Der nordkoreanische
Machthaber KimJong Un halte sich an
seinVersprechen,keineLangstrecken-
raketen sowie Atomwaffen zu testen.
Für Kurzstreckenraketen bestehe da-
gegenkeine Zusage für einenTeststopp,
fügte der amerikanische Präsidentan.
Tr ump beweist mit solchenAussagen
indirekt einmal mehr, welchen Stellen-
wert seine eigentlichen Bündnispartner
in Seoul undTokio für ihn haben. Mit
den neuerlichenTests feilt Pjongjang an
seinen Kurzstreckenraketen, die eine
Gefahr für die unmittelbaren Nachbarn
Südkorea undJapan darstellen.Washing-
ton hat dagegen nur die Interkontinen-
talraketenim Blick, dieeine Gefahr für
das amerikanischeFestland darstellen.
Erschwerendkommt hinzu, dass sich
der Handelskonflikt zwischenJapan und
Südkorea immer weiter verschärft. So
hat das Kabinett inTokio amFreitag ent-
schieden, Südkorea von einer bisher 27
Länder umfassenden Liste zu streichen.
Dadurch wird Seoul beim Kauf japani-
scherProdukte, die auch für militärische
Zweckeeingesetzt werdenkönnen,nicht
länger bevorzugt behandelt. DieFronten
zwischen den beidenLändern sind so ver-
härtet, dass es inzwischen Überlegungen
gibt, auch die militärische Zusammen-
arbeit einzuschränken.Dadurch würden
sich Seoul undTokio jedoch gegenüber
Pjongjangempfindlich schwächen.
Ricardo Rosselló
Abtretender
Gouverneur
REUTERS von Puerto Rico
Kim Jong Un
Machthaber
KEYSTONE Nordkoreas